Veranstaltung: | 1. Bundesfrauenrat 2020 - Digital |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 2 Aktuelle politische Lage |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesfrauenrat |
Beschlossen am: | 08.05.2020 |
Eingereicht: | 24.06.2020, 08:06 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Recht auf Schwangerschaftsabbrüche und Beratung in der Corona-Krise sicherstellen
Beschlusstext
Die Gesetzgebung zu Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland unterliegt einer engen
strafgesetzlichen Regelung, die das Recht auf Selbstbestimmung eingeschränkt. Hinzu kommt,
dass die Versorgungslage für ungewollt Schwangere immer problematischer wird, da immer
weniger Ärzt*innen Abbrüche durchführen. Jetzt, unter den Einschränkungen der Corona-Krise,
verschärft sich diese Situation für ungewollt Schwangere noch mehr. Um die Versorgung in
dieser Krisensituation aufrechtzuerhalten, braucht es kurzfristige Lösungen. Diese müssen
darauf zielen, die Rechte ungewollt Schwangerer gerade in der Krise zu stärken.
Es ist damit zu rechnen, dass die Anzahl an (ungewollten) Schwangerschaften steigen wird.
Der zu erwartende Anstieg häuslicher und sexualisierter Gewalt könnte dazu tragischerweise
ebenfalls beitragen. Überdies kann durch die Einschränkungen auch der Zugang zu
Verhütungsmitteln für bestimmte Gruppen – insbesondere für sozial benachteiligte Menschen –
erschwert sein. Verhütung, Beratung und Schwangerschaftsabbrüche müssen auch während der
Corona-Krise für alle Frauen zugänglich bleiben.
Ungewollt Schwangere müssen immer – auch unter den aktuellen Bedingungen der Corona-Krise –
einen gesicherten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen haben.
Um die Versorgungslage während Corona zu gewährleisten, müssen Ärzt*innen aber genau so die
Mitarbeiter*innen der Beratungsstellen als systemrelevant eingestuft werden.
Die anerkannten (Schwangerschaftskonflikt-)Beratungsstellen leisten hervorragende Arbeit und
versuchen mit hoher Flexibilität auf die geänderten Bedingungen zu reagieren und digitale
und telefonische Beratung anzubieten. Das muss aber in allen Bundesländern unter
Gewährleistung des Datenschutzes ermöglicht und anerkannt werden. Die gesetzlich verankerte,
anonyme Beratung muss weiterhin möglich sein – aber auch die persönliche Beratung vor Ort
unter den geltenden Schutzmaßnahmen. Dies ist insbesondere für ungewollt Schwangere wichtig,
die keinen Internetzugang haben.
Es braucht auch einheitliche Regeln, den Beratungsschein ohne Verzögerung per Mail oder Post
bekommen zu können, wobei gewährleistet werden muss, dass keine andere Person als die
Betroffene Zugang zur Bescheinigung hat. Um die Beratungspraxis zu entlasten, muss der Bund
mit den Ländern ein einheitliches, gesetzeskonformes und sicheres Verfahren ermöglichen.
Unter den engen Regelungen des Paragrafen 218a Strafgesetzbuch kann eine zeitliche
Verzögerung im Zugang zu Beratung und zum Schwangerschaftsabbruch die Möglichkeit, einen
Abbruch machen zu können, gefährden. Unter den aktuellen Beschränkungen verschärft sich
dieses Problem. Für die aktuelle Krisensituation sollte daher die strafgesetzlich
vorgegebene dreitägige so genannte Bedenkfrist, die zwischen der
Schwangerschaftskonfliktberatung und dem Schwangerschaftsabbruch liegen muss, ausgesetzt
werden.
Große Schwierigkeiten gibt es aktuell mit Zusagen von Seiten der Krankenkassen bei der
Beantragung der Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen. Daher muss seitens des
Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) eine Aufforderung an den "Spitzenverband Bund der
Krankenkassen" ergehen, diese Problematik im Sinne der Versorgungssicherheit von Frauen, die
darauf angewiesen sind, schnell zu beheben.
Gegenwärtig zeichnet es sich nicht ab, dass es Engpässe bei der
Schwangerschaftskonfliktberatung gibt. Sollten sich die Bedingungen der
Schwangerschaftskonfliktberatung unter der Corona-Krise weiter zuspitzen und die
Beratungsstellen ihrem Beratungsauftrag nicht mehr flächendeckend und vollumfänglich
nachkommen können, plädieren wir dafür, die gesetzliche Vorgabe der
Schwangerschaftskonfliktberatung für den Zeitrahmen der Krise auszusetzen. Weiterhin muss
aber grundsätzlich gelten, dass jede (ungewollt) schwangere Person ein Recht auf Beratung
hat.
Wir sind überzeugt, dass jede Frau, die ungewollt schwanger wird, bestmögliche und schnelle
Informationen erhalten können muss und so, in einer Phase der Verunsicherung, mehr
Sicherheit erlangen kann. Darum muss gerade in der jetzigen Situation gelten, dass fachliche
und seriöse Informationen über alle wichtigen Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs ohne
Hürden zur Verfügung stehen müssen. Ungewollt Schwangere brauchen Information darüber,
welche Praxen und Kliniken ihre Arbeit einschränken bzw. aussetzen und welche zusätzliche
Angebote machen. Der Paragraf 219a StGB schränkt diese Möglichkeit massiv ein. Wir GRÜNE
fordern darum gerade in der Krise erneut die ersatzlose Streichung des 219a. Wir wollen,
dass zumindest die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in verschiedenen
Medien und diversen Sprachen umfassend informiert. Es ist angesichts einer möglichen
Zuspitzung der Krise sinnvoll, den Zugang zu telemedizinisch betreuten medikamentösen
Abbrüchen, wie es in Großbritannien und einigen EU-Ländern unter Corona immer mehr in die
Praxis umgesetzt wird, zu ermöglichen.
Der Bundesfrauenrat fordert die Bundesregierung auf, zügig zu handeln. Sie muss
- gegenüber den Ländern klarstellen, dass Schwangerschaftsabbrüche keine elektiven
Eingriffe sind und während der Corona-Krise zeitnah durchgeführt werden müssen.
- durchsetzen, dass die unter 1. genannte Forderung auch für ungewollt Schwangere gilt,
die aus dem Ausland (z.B. Polen) nach Deutschland reisen, um einen
Schwangerschaftsabbruch nach dem hier geltenden Recht durchführen zu lassen. Diese
Personen müssen den medizinischen Eingriff unmittelbar und unter angemessenen
Sicherheitsvorkehrungen – ohne Verzögerung durch Quarantänemaßnahmen – vornehmen
lassen können.
- dafür Sorge tragen, dass Apotheken Verhütungsmittel, die "Pille danach" und
Schwangerschaftstests in ausreichender Menge vorhalten. Gleiches gilt für
Verhütungsmittel und Schwangerschaftstests in Drogerien.
- festlegen, dass alle Personen, die in der Schwangerschaftskonfliktberatung arbeiten,
als systemrelevant eingestuft werden.
- dafür Sorge tragen, dass Voraussetzungen für Schwangerschaftskonfliktberatung auch
unter der aktuellen Krisen-Situation flächendeckend ermöglicht werden. Die Beratung
muss, unter Einhaltung des Datenschutzes der betroffenen Frau, telefonisch und digital
erfolgen können. Der Zugang zu persönlicher Beratung in entsprechenden
Beratungsstellen, die diese weiterhin anbieten können, muss möglich sein.
- Empfehlungen an die Länder formulieren, wonach die Identifikationsprüfungen beim
Beratungsvorgang bundesweit entfallen und erst beim Schwangerschaftsabbruch
stattfinden können.
- Empfehlungen an die Länder geben, die eine bundesweit einheitliche digitale Zustellung
der Beratungsbescheinigung ermöglichen, um Verzögerungen zu vermeiden (Sendungen per
Post müssen weiterhin auch möglich sein, wenn die Klientin dies wünscht).
- festlegen, dass die gesetzlich vorgeschriebene dreitägige Bedenkfrist zwischen der
Schwangerschaftskonfliktberatung und dem Zeitpunkt, zu dem der Abbruch durchgeführt
werden darf, bis auf Weiteres ausgesetzt wird.
- wenn Beratungsstellen nicht mehr flächendeckend und vollumfänglich ihrem
Beratungsauftrag nachkommen können, die Beratungspflicht als gesetzliche Vorgabe der
Schwangerschaftskonfliktberatung für den Zeitrahmen der Krise aussetzen.
- an das Gesundheitsministerium appellieren, den "Spitzenverband Bund der Krankenkassen"
aufzufordern, umgehend ein bundesweit einheitliches Formular für die Kostenübernahme
eines Schwangerschaftsabbruches zur Einreichung bei den gesetzlichen und privaten
Krankenkassen online zur Verfügung zu stellen.
- dafür Sorge tragen, dass die BZgA auf ihrer Homepage umfassende, mehrsprachige
Informationen zum erweiterten Angebot der Schwangerschaftskonfliktberatung während der
Corona-Krise liefert.
- dafür Sorge tragen, dass das BMG in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer, den
Landesärztekammern und anderen Akteur*innen sicherstellt, dass ungewollt Schwangere
die Option des Zugangs zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch nach WHO-Richtlinien
gegebenenfalls mit telemedizinscher Begleitung bekommen können.
Begründung
Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung ist die Grundlage für Gleichberechtigung. Die Corona-Krise verunsichert nicht nur, sie konfrontiert uns auch mit der Einschränkung von Rechten. Das bringt ungewollt Schwangere in eine besonders schwierige Lage, denn der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland war bereits vor der Corona-Krise eingeschränkt. Regional finden sich gravierende Unterschiede in der Versorgungslage mit Ärzt*innen, die Schwangerschafts-abbrüche durchführen. Zudem ist die Anzahl dieser Ärzt*innen seit Jahren stark rückläufig. Auch die Zahl von Beratungseinrichtungen, die die gesetzlich vorgeschriebene Schwangerschaftskonflikt-beratung anbieten, unterscheidet sich regional zum Teil stark.
Unter der gegenwärtigen Krise spitzen sich bereits bestehende Problemlagen weiter zu. Ohne Anpassungen kann die notwendige Versorgungssicherheit von Frauen, die ungewollt schwanger sind, jetzt noch weniger gewährleistet werden. Wir wollen und dürfen sie in der Krise nicht alleine lassen, sondern müssen kurzfristig effektive Lösungen bereithalten.
Darum muss von Seiten der Bundesregierung gegenüber den Ländern klargestellt werden, dass Schwangerschaftsabbrüche keine elektiven (das heißt nicht zwingend notwendige) Eingriffe sind und auch in der Corona-Krise oder vergleichbaren Pandemien bzw. Ausnahmesituationen, so früh in der Schwangerschaft wie möglich durchgeführt werden müssen. Ein Schwangerschaftsabbruch kann nicht warten. Es muss sichergestellt werden, dass alle innerhalb der gesetzlichen Fristen erforderlichen Maßnahmen auch erfolgen können. Dies muss auch für Frauen aus anderen Ländern gelten, die nach Deutschland reisen, um einen Schwangerschaftsabbruch nach dem hier geltenden Recht zu erhalten. Die aktuelle Lage in Polen zeigt in dramatischer Weise, dass die Verschärfung der Strafbarkeit eines Schwangerschaftsabbruchs Frauen in existenzielle Not bringt. Darum muss klar sein, dass nach Deutschland einreisende Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, diesen medizinischen Eingriff unmittelbar und schnell vornehmen lassen können. Mögliche Quarantänemaßnahmen müssen in diesen Fällen durch andere, durchführbare Sicherheitsvorkehrungen ersetzt werden. Wenngleich die Infektionsschutzbestimmungen Sache der Länder ist, sollte der Bund entsprechende Empfehlungen aussprechen, um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen für alle ungewollt Schwangeren bundesweit zu sichern.