Veranstaltung: | 1. Ordentlicher Diversitätsrat 22 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 2 Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Diversitätsrat |
Beschlossen am: | 06.05.2022 |
Eingereicht: | 11.05.2022, 13:56 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Politische Teilhabe ist ein demokratisches Grundrecht. Menschen mit Behinderung in die Politik!
Beschlusstext
Die Behindertenbewegung in Deutschland hat deutlich gemacht: Jeder Mensch hat das Recht,
seine*ihre Meinung zu äußern, selbstbestimmt zu leben und sich für seine*ihre
gesellschaftlichen und politischen Werte zu engagieren. Die internationale
Behindertenbewegung hat sich zusammengeschlossen und die Menschenrechte für Menschen mit
Behinderung durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) konkretisiert. Seit März 2009
ist sie auch in Deutschland in Kraft. Sie ist ein Meilenstein, erkennt sie doch erstmals die
Wechselwirkungen zwischen Menschen mit Behinderung und einstellungs- und umweltbedingten
Barrieren an, welche laut UN-Konvention erst zur Entstehung der Behinderung führen. Rechte
von Menschen mit Behinderung sind Menschenrechte und wir sind als Gesellschaft gefragt,
diese vollumfänglich zu gewährleisten und zu schützen.
Die UN-BRK verlangt von den beigetretenen Staaten eine Entwicklung hin zur inklusiven
Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderung eine umfassende, gleichberechtigte Teilhabe
sowie volle Selbstbestimmung garantiert wird.
Nach Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention muss auch die politische Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft gewährleistet sein: „Die Vertragsstaaten
garantieren Menschen mit Behinderung die politischen Rechte und die Möglichkeit, diese
gleichberechtigt mit anderen zu beanspruchen.“ Dafür braucht es wirksame Maßnahmen für die
Partizipation am politischen und öffentlichen Leben, was das Recht und die Möglichkeit
einschließt, zu wählen und gewählt zu werden, so auch in Ämter und Mandate in unserer
Partei.
Mit der Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses 2019, von dem in Deutschland mehr als 85.000
Menschen mit Behinderung betroffen waren, wurde eine langjährige Forderung unserer Partei,
zahlreichen Aktivist*innen und Selbstvertretungsorganisationen umgesetzt. Trotzdem gibt es
bei der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung noch viele Hürden, die es
abzubauen gilt.
Wie ist es möglich sich zu engagieren, wenn man kein*e Gebärdensprachdolmetscher*in oder
Assistenz zur Verfügung gestellt bekommt? Wie wird man gleichberechtigt beteiligt, wenn
nicht alle Informationen in Leichter Sprache zur Verfügung stehen? Wie kann man sich
politisch informieren, wenn politische Veranstaltungen an Orten, die noch nicht einmal
barrierefrei sind, durchgeführt werden? Da, wo Wahllokale nicht barrierefrei zugänglich
sind, amtliche Dokumente nicht für Menschen mit Sehbehinderung oder Lernschwierigkeiten
aufbereitet werden, werden Menschen ausgeschlossen. Noch immer wird viel zu oft über
Menschen mit Behinderungen gesprochen anstatt mit ihnen. „Nichts über uns ohne uns“ – das
Motto der Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen wird in vielen politischen
Prozessen nicht beachtet.
Der Koalitionsvertrag bietet viele Ansätze, auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft.
Dennoch gilt, dass wir GRÜNE weiterhin behindertenpolitische Forderungen in den Vordergrund
unserer Politik stellen müssen, um unsere Gesellschaft barrierefrei und inklusiv zu
gestalten. Dabei müssen auch Mehrfachdiskriminierungen in den Blick genommen werden. So sind
zum Beispiel Frauen mit Behinderung häufiger von Gewalt betroffen. Um dem zu entgegen, ist
eine intersektionale Perspektive nötig. Eine inklusive Gesellschaft, ist eine Gesellschaft
an der alle selbstbestimmt und gewaltfrei teilhaben können.
Der Diversitätsrat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellt fest,
- dass politische Teilhabe ein Menschenrecht ist.
- dass die Beteiligung am politischen und öffentlichen Leben ein zentraler Bestandteil
der Rechte eines jede*n Menschen ist. Insbesondere die Teilnahme an Wahlen und das
politische Engagement ist allen Menschen zu ermöglichen.
- dass dort, wo nicht alle Menschen umfassend gleichberechtigt teilhaben können, die
Demokratie unvollständig und das Versprechen der universellen Menschenrechte nicht
eingelöst ist.
- dass jede*r ein Recht auf Zugang zu Informationen hat.
- dass jede*r das Recht hat, seine Meinung zu äußern und sich politisch zu engagieren.
Der Diversitätsrat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert deshalb:
- Informationen müssen barrierefrei bereitgestellt werden. Unter anderem in der Corona-
Pandemie haben wir gesehen, dass das häufig nicht der Fall ist. Das betrifft unter
anderem die Schrift- und Gebärdendolmetschung bei Pressekonferenzen, aber auch die
Bereitstellung von Informationen in Leichter Sprache. Der Zugang zu Informationen ist
wesentlich für die politische Bildung und Teilhabe von allen Menschen. Das Vorhaben,
Pressekonferenzen und öffentliche Veranstaltungen von Bundesministerien und
nachgeordneten Behörden sowie Informationen zu Gesetzen und Verwaltungshandeln in
Gebärdensprache zu übersetzen und zu untertiteln sowie die Angebote in Leichter
Sprache auszubauen, muss nun schnell umgesetzt werden. Auch die Einrichtung eines
Bundeskompetenzzentrums Leichte Sprache/Gebärdensprache muss zügig vorangetrieben
werden. Auch der Öffentlich Rechtliche Rundfunk muss seinem Auftrag nachkommen und
seine Inhalte barrierefrei bereitstellen.
- Wahllokale müssen barrierefrei zugänglich sein. Die Teilhabe an demokratischen Wahlen
ist Kernbestandteil echter Partizipation. Wahllokale müssen deshalb für alle
wahlberechtigten Menschen ausreichend zugänglich sein.
- Die gleichen Bürger- und Menschenrechte gebieten es, dass sich Menschen mit
Behinderung gleichberechtigt nicht nur ehrenamtlich und politisch engagieren können.
Unsere Demokratie lebt davon, dass alle Menschen sie mitgestalten. Behinderte
Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, müssen dabei die nötige Unterstützung und
Assistenzleistungen einkommens- und vermögensunabhängig sowie unbürokratisch erhalten.
Denn politische Teilhabe muss auch sicher finanziert werden. So wird ehrenamtliches
und politisches Engagement gestärkt.
- Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderungen ihre Belange und Forderungen in die
politischen Verfahren einbringen können. Denn da, wo Menschen mit Behinderung nicht
mit am Tisch sitzen, werden Entscheidungen getroffen, die ihre Rechte nicht genügend
berücksichtigen. Deshalb müssen die Selbstvertretungsstrukturen finanziell gestärkt
und abgesichert werden und besser in den Gesetzgebungsprozess mit einbezogen werden.
Es gilt: „Nichts über uns, ohne uns!“. Wir begrüßen deshalb das Vorhaben der
Regierungskoalition die Mittel des Partizipationsfond zu erhöhen und zu verstetigen.
- Das Monitoring zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention muss finanziell
angemessen ausgestattet sein, damit auch die Umsetzung in den Ländern ausreichend
begleitet und bewertet werden kann. Deshalb soll das Deutsche Institut für
Menschenrechte finanziell und personell gestärkt werden.
Das, was wir politisch fordern, müssen wir auch bei uns selbst einlösen. Für uns ist klar,
dass Behindertenpolitik kein Nischenthema ist, sondern in allen Politikbereichen Einzug
finden muss. Denn alle Politikbereiche betreffen Menschen mit Behinderung und eine
vielfaltsgerechte Politik, trägt den Rechten aller Rechnung.
Aber auch wir GRÜNE sind in Sachen Inklusion und Barrierefreiheit noch nicht da, wo wir sein
müssen. Noch immer sind, nicht alle Geschäftsstellen und Abgeordnetenbüros barrierefrei. Der
Einsatz von Gebärden- und Schriftdolmetschung ist noch nicht selbstverständlich. Menschen
mit Behinderung sind auch bei uns in Ämtern, Mandaten, in Delegationen oder in der
Hauptamtlichkeit noch unterrepräsentiert. Menschen mit Behinderung wird auch in unseren
Strukturen zu wenig zugetraut.
Deshalb braucht es auch bei uns ein Bündel an Maßnahmen und fortwährende Evaluierung und
Verbesserung, damit wir die Teilhabe von allen Menschen in unserer Partei stärken können.
Diesen Auftrag gibt uns nicht zuletzt das Vielfaltsstatut.
Deshalb fordert der Diversitätsrat zur Stärkung der Teilhabe bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
- Das Wissen über Inklusion und Barrierefreiheit muss auf allen Ebenen der Partei
verankert werden. Der Bundesverband wird deshalb Weiterbildungen und Trainings im
Bereich Inklusion und Barrierefreiheit anbieten. Die Trainings sollen insbesondere für
Vorstände und Geschäftsführer*innen angeboten werden. Außerdem sollen Trainings für
das Personal der Bundesgeschäftsstelle durchgeführt werden.
- Der Bundesverband wird das Angebot an barrierefreien und barrierearmen Informationen
steigern und langfristig ausbauen. Wir werden Wahl- und Grundsatzprogramme in Leichter
Sprache, Gebärdensprache und Audiofassung zur Verfügung stellen. Wir werden
beispielsweise zentrale Beschlüsse in Leichter Sprache zur Verfügung stellen. Die
Aufträge werden frühzeitig erteilt.
- Zentrale Veranstaltungen werden barrierefrei organisiert und mindestens nach
Bedarfsabfrage in Deutsche Gebärdensprache und durch Schriftdolmetschung übersetzt.
Weitere Hinweise gibt der zu erarbeitende Leitfaden Barrierefreiheit.
- Wir wollen auch Geschäftsstellen auf Landes- und auf Kreisverbandsebene ermutigen
barrierefrei zu werden. Dazu werden wir eine Broschüre „Barrierefreie Geschäftsstelle“
entwickeln. Um die Entwicklung hin zu Barrierefreiheit zu fördern, werden wir alle
zwei Jahre Geschäftsstellen auszeichnen, die Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit
ergriffen haben. Die Auszeichnung erfolgt durch den Bundesvorstand in Beratung mit der
BAG Behindertenpolitik.
- Landes- und Kreisverbände sollen in ihrer Haushaltsplanung Barrierefreiheit mit
einbeziehen.
- Menschen mit einer psychischen Erkrankung soll die Partei ein stigmafreier und
ausgrenzungsfreier sozialer Raum sein.
- Wir haben uns mit dem Vielfaltsstatut auf den Weg gemacht, als Partei vielfältiger zu
werden. Deswegen wollen wir auch die Repräsentation von Menschen mit Behinderung durch
gezielte Maßnahmen fördern. Das umfasst Empowerment- Mentoring- und
Weiterbildungsangebote für Menschen mit Behinderung, damit sie sich aussichtsreich auf
Ämter und Mandate bewerben können. Für uns steht fest: Wir brauchen die Perspektive
und das Wissen von Menschen mit Behinderung in der Politik.