Veranstaltung: | 2. Ordentlicher Diversitätsrat 2022 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 4 Politische Teilhabe und Soziale Herkunft |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Diversitätsrat |
Beschlossen am: | 10.09.2022 |
Eingereicht: | 13.09.2022, 10:30 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Demokratie braucht Beteiligung: Die sozio-ökomische Herkunft darf nicht darüber entscheiden wer mitgestaltet und wer nicht!
Beschlusstext
Die multiplen Krisen unserer Zeit führen uns die Ungleichheit in unserer Gesellschaft vor
Augen. Die Energiekrise trifft nicht alle gleich. Sie trifft insbesondere die
alleinerziehende Mutter besonders hart, die sich Sorgen um die nächste Nebenkostenabrechnung
machen muss. Sie trifft den jungen Auszubildenden, der an der Supermarktkasse die
gestiegenen Preise besonders spürt. Sie trifft den migrantischen Lieferfahrer, der trotz
Überstunden am Ende des Monats im Geldbeutel nichts mehr über hat. Sie trifft Menschen im
Leistungsbezug, die schon vor der Krise nicht genügend Zugang zu umfassender sozio-
kultureller Teilhabe hatten. Die hohen Preise können auch ältere Menschen - insbesondere
ältere Frauen - belasten, wenn sie nicht über ausreichende Alterseinkommen oder hohe
Rücklagen verfügen.
Diejenigen Menschen, die von Krisen und sozialen Härten besonders betroffen sind, können
sich oft nicht ausreichend politisch einbringen. Doch die gleichberechtigte politische
Teilhabe aller Menschen ist essenziel für die Demokratie und Gerechtigkeit in unserer
Gesellschaft. Denn alle Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich mit ihren Perspektiven
und Erfahrungen in aktuelle politische Entscheidungen einzumischen und mitzubestimmen. Erst
wenn alle an politischen Prozessen teilhaben können, können wir auch sicherstellen, dass
staatliches und behördliches Handeln die Interessen aller Menschen gleichermaßen im Blick
hat. So sichern wir auch in Krisenzeiten den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das soziale
Sicherungsnetz.
Doch gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status ist
noch nicht selbstverständlich. Noch immer entscheidet die sozio-ökonomische Herkunft
darüber, welchen Bildungsabschluss Menschen erreichen, ob sie in prekär bezahlten Berufen
beschäftigt sind und wie sehr sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Das Bildungssystem in Deutschland ist immer noch nicht ausreichend darauf ausgelegt, soziale
Ungleichheiten abzubauen und die Demokratiebildung in der Kita und der Schule zu fördern, um
die Selbstbestimmung aller Kinder von klein auf zu stärken. Gerade in der Kita, wenn die
Grundsteine der Bildungsbiographie gelegt werden, muss genügend Zeit und Raum sein, damit
Kinder schon früh gestalten und sich beteiligen können. Auch die non-formale und informelle
Bildung ist für die politische Teilhabe aller Menschen wichtig. Das Teilnehmen an
Jugendfreizeiten oder Freiwilligendiensten, ermutigt junge Menschen dazu sich einzubringen
und zeigt Wege zur politischen Wirksamkeit auf. Unser Ziel muss es daher sein, diese
Angebote für alle Menschen zu öffnen, damit die Teilhabe nicht vom Geldbeutel abhängt.
Die politische Partizipation ist zwischen den sozialen Klassen dramatisch ungleich verteilt
– und das zulasten der Menschen, die von Armut und Marginalisierung betroffen sind. Bei
jeglicher Form politischer Beteiligung – von Wahlen über Demonstrationen bis hin zu
Parteimitgliedschaften – sind Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status
unterrepräsentiert.
Das zeigt exemplarisch auch die Diversity-Umfrage des Landesverbandes Berlin. Laut den
Ergebnissen der 2020 durchgeführten Erhebung haben mehr als 90 Prozent der befragten
Teilnehmer*innen eine Hochschulreife, über 80 Prozent einen Studienabschluss, 9% sind
promoviert oder habilitiert. Das gilt gerade auch unter BPoC*, bei denen die Abschlüsse der
Teilnehmer*innen vergleichsweise noch
höher sind als im Durchschnitt der Partei. Gleichzeitig zeigt die Umfrage, dass fast ein
Drittel der Teilnehmer*innen Bildungsaufsteiger*innen sind. Hier gilt es nun noch besser zu
werden und bestehende Expertise einzubinden.
Beteiligung für Alle ermöglichen
Das Vielfaltsstatut von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gibt uns auch die Aufgabe, unsere Strukturen
so zu gestalten, dass sie in Bezug auf die sozio-ökonomische Herkunft nicht ausschließend
wirken. Doch noch zu oft wird diese Diskriminierungsform in der Gestaltung der
diversitätssensiblen Öffnung und Weiterbildung vergessen. Wir sind davon überzeugt, dass
eine Öffnung der Partei nur dann nachhaltig gelingen kann, wenn auch dieser
Diskriminierungsmechanismus bearbeitet und entsprechende Lösungsansätze diskutiert werden.
Denn auch bei uns GRÜNEN gibt es Strukturen, die es Menschen in Armut oder mit nicht-
akademischen Qualifizierungen erschweren bei uns anzukommen und politische Verantwortung zu
übernehmen.
Wer sich in der Politik ehren- oder hauptamtlich engagieren möchte benötigt dazu nicht nur
die finanziellen Ressourcen, sondern auch Zeit. Wir wissen, dass die verfügbare Zeit
ebenfalls durch die sozio-ökonomische Herkunft bestimmt ist. Denn wer prekär beschäftigt
ist, möglicherweise mehrere Jobs gleichzeitig ausübt, hat wenige Ressourcen sich in der
Freizeit bei der Kreismitgliederversammlung einzubringen. Hiervon sind insbesondere
migrantisierte Menschen und Frauen betroffen, die einen großen Teil der Sorgearbeit leisten
und besonders häufig in unsicheren und schlechtbezahlten Berufen tätig sind. Wir GRÜNE
müssen also unter anderem Sitzungszeiten so gestalten, dass alle Menschen teilnehmen können,
und neue Formate entwickeln, die eine Beteiligung erleichtern.
Politik machen sollte kein Geld kosten und wirklich für alle Menschen möglich sein. Zum
Beispiel schließen auch viele Tagungsorte Menschen mit niedrigem Einkommen von der Teilnahme
aus. Dort wo bei Mitgliederversammlungen Speisen und Getränke bezahlt werden müssen, werden
Menschen ausgeschlossen. Dort, wo Menschen Fahrtkosten auslegen oder vielleicht sogar
komplett selber tragen müssen, werden Menschen ausgeschlossen. Auch die Teilnahme an
informellen Netzwerken setzt oftmals einen Konsumzwang voraus. Diese Netzwerke sind für die
Parteiarbeit und die Übernahme von politischer Verantwortung essenziel und können beim
Empowerment unserer Parteimitglieder eine positive Rolle einnehmen. Allerdings gilt es auch
hier, ausschließende Strukturen zu erkennen und einzureißen.
Menschen werden dort politisch aktiv, wo sie das Gefühl haben, sich für ihre Themen
einsetzen zu können. Dies hängt oft eng mit eigenen erlebten Ungerechtigkeitserfahrungen
zusammen, wie das Erleben von sozialer Ungleichheit. Als GRÜNE ist für uns klar, dass wir
uns konsequent für eine gerechte Steuer-, Finanz-, Arbeits- und Sozialpolitik einsetzen, die
den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und Ungleichheiten abbaut. In der Außenwirkung
unserer Partei schlägt sich das nicht immer nieder. Mit einer konsequenten Außenwirkung und
starken Kampagnen können wir genau dort ansetzen.
Nicht zuletzt sind auch die politische Kultur und die Art wie wir miteinander debattieren
entscheidend dafür, ob Menschen sich bei uns einbringen möchten und sich bei uns willkommen
fühlen. Wir wollen alle Menschen, die sich bei uns beteiligen möchten, willkommen heißen und
dafür Sorge tragen, dass sich alle in unseren Strukturen zu Recht finden. Dies ist Aufgabe
aller Gliederungen. Debatten und Veranstaltungen sollen so gestaltet werden, dass sich alle
gerne an ihr beteiligen möchten und Wertschätzung erfahren. Eine bestimmte soziale und
kulturelle Herkunft und ein entsprechendes Auftreten sollten nicht vorausgesetzt werden.
Der Diversitätsrat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beschließt deshalb:
Als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden wir das Thema sozio-ökonomische Herkunft und politische
Teilhabe stärker als bisher auf die Agenda setzen. Dem Auftrag, den wir uns mit unserem
Vielfaltsstatut gegeben haben, müssen wir auch in dieser Hinsicht nachkommen.
Deshalb wird der Bundesverband von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2023 eine Auftaktveranstaltung zum
Thema sozio-ökonomische Herkunft und politische Teilhabe organisieren. Die Veranstaltung
soll sowohl Parteimitglieder als auch externe Expert*innen, Verbände und Zivilgesellschaft
einbinden. Die Veranstaltung soll unter anderem die folgenden Themen bearbeiten:
- Sozio-ökonomische Herkunft und ihre intersektionalen Verflechtungen mit anderen
Diskriminierungserfahrungen: Wer fühlt sich bei uns willkommen, wer wird
ausgeschlossen?
- Parteiinterne Maßnahmen wie beispielsweise:
- Senkung finanzieller Hürden
- Sitzungsorte- und zeiten
- Willkommenskultur innerhalb der Partei
- Einbindung und Vernetzung von Menschen mit nicht-akademischen Bildungsabschlüssen
- Gestaltung der Parteikultur
- Formate zur Beteiligung
- Themensetzung in Außenwirkung, Kampagnen etc.
Der Bundesverband wird im Anschluss an die Veranstaltung einen Maßnahmenkatalog erarbeiten,
der den Landes- und Kreisverbänden als Hilfestellung dienen soll.
* Black and People of Color. BPoC ist eine politische Selbstbezeichnung rassistisch
diskriminierter Personen.