Veranstaltung: | 43. Bundesdelegiertenkonferenz Leipzig |
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Tagesordnungspunkt: | EP-P Europawahlprogramm (Präambel) |
Status: | Beschluss (vorläufig) |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 08.11.2018 |
Eingereicht: | 12.11.2018, 11:26 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Präambel: Europas Versprechen erneuern - Gemeinsam voran oder getrennt zurück? Das ist die Frage unserer Zeit
Beschlusstext
Liebe Wählerinnen und Wähler,
die Europawahl 2019 ist eine Richtungswahl: Fällt unser Kontinent in den Nationalismus
zurück? Kapituliert die Politik vor den Herausforderungen der Globalisierung und verschärft
so die vielen Krisen? Oder begründet sich die Europäische Union kraftvoll neu? Wir sind uns
sicher, dass nur ein handlungsfähiges Europa die großen Aufgaben lösen kann. Dafür müssen
wir Europas Versprechen erneuern.
Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, sozialer Ausgleich, Gleichberechtigung und
Bewahrung unserer Lebensgrundlagen – das ist das Versprechen der Europäischen Union. Es ist
ein Versprechen, für das es sich zu kämpfen lohnt. Wir haben mit dem gemeinsamen Europa
einen Raum geschaffen, in dem Bürger*innen mitbestimmen können, Parlamente und nicht Heere
entscheiden und alle Menschen vor dem Recht gleich sind.
Doch Europa und seine Menschen sind so herausgefordert wie lange nicht mehr. Grundfesten
geraten ins Wanken, die internationale Ordnung bröckelt, die europäische Einigung steht in
Frage.
Zum ersten Mal will mit Großbritannien ein Land die EU verlassen. Im Gründungsland Italien
regieren Faschisten mit Antieuropäern. In Österreich ist der rechtsnationale Innenminister
dabei, die Pressefreiheit einzuschränken. In Rumänien, Polen und Ungarn höhlen die autoritär
agierenden Regierungen den demokratischen Rechtsstaat aus und greifen die sexuelle
Selbstbestimmung an. Die transatlantische Partnerschaft, die als Garant unserer Sicherheit
galt, hängt am seidenen Faden, weil in den USA ein Rechtspopulist regiert, dem
internationales Recht nichts mehr gilt und der Europa zum wirtschaftlichen Feind erklärt.
Und währenddessen fliehen Menschen vor Krieg, Verfolgung und Hunger, erhitzt sich unser
Planet rasant, werden Vielfalt und Gleichberechtigung angegriffen, haben viele trotz Arbeit
kaum Chancen, der Armut zu entkommen, wächst die Ungleichheit innerhalb und zwischen den
europäischen Mitgliedsländern, verändern Globalisierung und Digitalisierung radikal unsere
Art zu leben, zu denken, zu arbeiten.
In dieser unübersichtlichen Lage suchen viele Menschen Halt. Ihre Unsicherheit ist den
Nationalisten und Europafeinden willkommen, denn Angst ist der Treibstoff ihrer Politik.
Komplexen Herausforderungen in einer globalen Welt begegnen sie mit Scheinalternativen, die
einfache Lösungen versprechen, aber Probleme in Wahrheit verschlimmern.
Der Populismus wird aber auch durch die Unfähigkeit, den Egoismus und die Ängstlichkeit der
europäischen Regierungen – auch der deutschen – genährt. Sie beschränken die Demokratie auf
das Lösen kleinteiliger Probleme und überlassen die Vormacht der globalisierten Wirtschaft.
Dieser im Kern neoliberale Ansatz bietet keine Antwort auf die Situation der Menschen und
verstärkt ihre Ängste.
Es ist die Spirale der Angst, aus der wir ausbrechen müssen. Denn nur wenn wir uns etwas
zutrauen, können wir gemeinsam der Politik ihre Handlungsfähigkeit zurückgeben und Europa
als Idee des Gemeinsamen behaupten. Für uns bedeutet Europa mehr Souveränität. Abgrenzung
und Einigeln ins Nationale sind in einer globalisierten Welt dagegen keine Lösung. Vielmehr
bietet ein demokratisches und vereintes Europa den notwendigen Rahmen, in dem die
Bürgerinnen und Bürger die Fragen der Zukunft selbstbestimmt beantworten können. Wir laden
Sie ein, mit Ihrer Stimme daran mitzuwirken. In diesem Programm finden Sie unsere Ideen für
eine ökologische, soziale, geschlechtergerechte und demokratische europäische Antwort. Wir
bitten Sie: Gehen Sie jetzt mit uns in Europa gemeinsam voran.
Neue europäische Antworten
Ein Land allein will ein faires Steuersystem, in dem die große Kaffeekette genauso Steuern
zahlt wie der Bäcker an der Ecke? Bislang lachen die Konzerne nur darüber und verschieben
ihre Gewinne von Land zu Land, so lange, bis sie gar keine Steuern mehr zahlen. Ein Land
allein will den digitalen Kapitalismus regulieren? Bislang scheren sich die Internet-
Giganten nicht darum. 5, 15 oder auch 50 Millionen Nutzer*innen weniger sind ihnen egal.
Aber ganz Europa ist ein zu großer Faktor, auf den sie nicht verzichten können. Wir haben es
bei der Datenschutzgrundverordnung gesehen – sie ist quasi der weltweite Maßstab geworden,
weil die die Europäische Union sie geschlossen beschlossen hat.
Die Macht der multinationalen Konzerne und unfaire Dumpingwettbewerbe auf Kosten von
Kleinunternehmern, Arbeitnehmern und Verbrauchern kann man nur eindämmen, in dem man
überstaatlich reguliert. Ein erster Schritt zu einer Unternehmenssteuer in der Europäischen
Union kann eine gemeinsame Körperschaftsteuer von Deutschland und Frankreich sein, genauso
wie eine europäische Mindestlohnrichtline und eine Ausweitung der europäischen Bankenunion,
die globale Unternehmen und Investoren in die Schranken weisen und so Europa krisenfest
machen würde.
Die Armut in Europa nimmt zu und Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den Jugendlichen in
Südeuropa, ist immer noch auf einem erschreckend hohen Niveau. Schutz vor Dumpinglöhnen,
gute Ausbildung und die Perspektive auf eine Beschäftigung, die ein selbstbestimmtes Leben
ermöglicht, sind die Grundlage für eine solidarische Gesellschaft. Wir setzen uns für ein
inklusives Europa der Fairness und gegenseitigen Anerkennung auf Augenhöhe ein.
Die drohende Heißzeit durch die Klimakrise können wir nur im globalen Zusammenspiel
abwenden, und Europa kann dabei den Unterschied machen. Deswegen muss die EU ihrer
Verantwortung gerecht werden und sich endlich Klimaziele setzen, die mit dem Pariser
Klimaabkommen vereinbar sind. Wir wollen, dass die EU wieder eine Vorreiterrolle im
Klimaschutz übernimmt, indem wir in Europa gemeinsam eine sichere Energieversorgung aus
erneuerbaren Quellen statt aus Kohle, Gas und Atom gewährleisten. Das schaffen wir zum
Beispiel, wenn wir die spanischen und griechischen Solarparks, die dänischen Offshore-
Windparks, die deutschen Windparks und die österreichischen Wasserkraftwerke miteinander
verbinden.
Wenn wir Klimaschutz vorantreiben wollen, wenn wir neue Arbeitsplätze schaffen wollen, wenn
wir wollen, dass unsere Bäuerinnen und Bauern auch in Zukunft noch fruchtbare Böden haben,
dann brauchen wir einen radikalen Wandel in der europäischen Politik. CO2 muss einen
wirksamen Preis bekommen. Wir brauchen eine neue Landwirtschaftspolitik in Europa, eine
Alternative zum Prinzip „Wachse oder Weiche“. Klimaschutz, Tierschutz und Gewässerschutz
funktionieren nur, wenn nicht ein Land die Standards des anderen unterbietet. Die
Plastikflut können wir nur bekämpfen, wenn Wegwerfplastik ein Ende hat.
Die Zukunft Europas ist digital. Wir wollen die digitalen Veränderungen zum Wohle aller
Menschen gestalten. Demokratische Regulierung sowie technische Innovationen sind dafür der
Schlüssel. Die europäische Digitalpolitik soll von den Menschenrechten geleitet sein und
sich auf die Prinzipien der Offenheit und der Nachhaltigkeit stützen. Damit bildet Europa
den Gegenpol zu digitalen Bestrebungen Chinas oder der USA.
Europa muss sich in einer sich verändernden Weltordnung immer stärker selbst beweisen – als
außenpolitische Akteurin, für die der Mensch mit seiner Würde und Freiheit und seinen
unveräußerlichen Rechten im Mittelpunkt steht. Gemäß den Entwicklungszielen der Vereinten
Nationen (SDGs) steht Europa in der Verantwortung, eine gerechte Weltordnung voranzutreiben
und mögliche Widersprüche in der eigenen Politik im Interesse globaler Gerechtigkeit
aufzulösen. Um die Würde des Einzelnen auch für die Menschen zu wahren, die in Europa Schutz
suchen, muss ein solidarisches europäisches Asylsystem eingeführt werden, das für mehr
Menschlichkeit und Handlungsfähigkeit sorgt.
Auch in der Europäischen Union selbst gibt es Mitgliedstaaten, in denen sich autoritäre
Strukturen immer weiter verfestigen. Die Zivilgesellschaften dort benötigen europäische
Unterstützung, wenn sie für Demokratie und Menschenrechte kämpfen. Dafür wollen wir die
Einklagbarkeit von Grundrechten auch in den europäischen Mitgliedstaaten ermöglichen. Wenn
korrupte und undemokratische Regierungen gegen EU-Recht verstoßen, sollten europäische
Gelder nicht mehr an sie, sondern direkt an die Kommunen und damit die Menschen dort gehen.
Europa kann, wenn wir Bürgerinnen und Bürger das wollen
Die Antwort auf die Herausforderungen Europas ist Europa. Die Europäische Union kann das
Vertrauen in ihre demokratischen Institutionen stärken. Sie kann die Klimakrise bekämpfen.
Sie kann dazu beitragen, dass die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren.
Dass Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit ihr strahlendes Versprechen einlösen. Die
Europäische Union kann den Frieden bewahren. Sie kann. Wenn wir Bürgerinnen und Bürger das
wollen. In diesem Geiste müssen wir auch die bestehenden Krisen Europas wie die Klima- und
Finanzkrise oder die mangelnde Solidarität bei der Aufnahme von Geflüchteten lösen. Denn sie
sind letztlich auch auf die strukturellen Entscheidungsdefizite auf europäischer Ebene
zurückzuführen.
Die Krisen Europas sind auch die Folge von Demokratiedefiziten auf europäischer Ebene und
nicht eingelöster Versprechen auf ein sozial gerechtes Europa. Deshalb wird es wesentlich
sein, dass sich Europa als transnationale Demokratie und demokratische Union von Bürgerinnen
und Bürgern weiterentwickelt. Dazu zählen eine grenzübergreifende Meinungsbildung, echte
parlamentarische Initiativ-, Kontroll- und Budgetrechte. So lässt sich das Vertrauen in die
europäischen Institutionen wieder stärken.
Darum geht es bei der Europawahl: zu entscheiden, was wir wollen. Wie wir zusammen leben
wollen. Und dann etwas dafür zu tun. Europa ist nicht aus Versehen und von allein
entstanden. Es hat die fürchterlichen Wunden des Krieges überwunden, weil es Frauen und
Männer gab, die Vision, Mut und Willen aufgebracht haben. Die europäische Idee ist mit das
Wertvollste, was dieser Kontinent je geschaffen hat. Aus einst verfeindeten Staaten wurden
Freund*innen und Partner*innen. Uns eint die gemeinsame Geschichte, mit all ihren Narben und
all ihrem kulturellen Reichtum. Die EU ist seit über 70 Jahren ein Garant für Frieden, für
das Überwinden trennender Grenzen. Sie war und ist auch der Garant für Wohlstand,
Grundrechtsschutz und hohe Standards in unserem alltäglichen Leben.
Es ist aber offensichtlich, wie schwer es geworden ist, dass die Europäische Union mit einer
Stimme spricht, weil häufig einzelne Mitgliedsstaaten eine gemeinsame Politik verhindern.
Deshalb sollten die europäischen Staaten mutig sein und dort zu Mehrheitsentscheidungen
finden, wo diese die EU gemeinschaftlich handlungsfähiger machen. Oder sie sollten in einer
verstärkten Zusammenarbeit mit einigen Staaten vorangehen. Gleichzeitig kann es auch Sinn
machen, wenn Länder wie Deutschland und Frankreich den Schulterschluss suchen. Sie müssen
mit Ideen gemeinsam loslaufen, ohne in die historische Falle zu treten und alte Mauern
wieder hochzuziehen. Denn ein Europa, in dem dauerhaft nur ein Kern vorangeht und andere
zurückbleiben, wird entkernt enden. Wenn aber eine verstärkte Zusammenarbeit neue Lösungen
bringt, wenn sie damit beweist, dass es geht und dass es gut geht, dann können sich die
Zögerlichen vielleicht leichter anschließen und die EU wird insgesamt gestärkt. Von Europa
kann so ein neues Versprechen ausgehen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten an, die notwendigen Veränderungen in der europäischen Politik
für mehr Nachhaltigkeit, Solidarität und Humanität anzustoßen und dafür zu sorgen, dass
Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleiben. Dabei setzen wir auch auf die
identitätsstiftende Kraft von Kunst und Kultur. Das gemeinsame Europa zu schützen bedeutet,
den kulturellen Reichtum Europas gemeinsam zu fördern und zu bewahren. Wir stehen an der
Seite der vielen, die in Initiativen, Bewegungen oder eigenständig vor Ort für diese Ziele
eintreten – und zwar überall in Europa. Als europäische Parteienfamilie, verbunden über die
Europäische Grüne Partei (EGP), streiten wir europaweit für unsere Ideen.
Erwartbar werden wir nach der Europawahl einen starken nationalistischen Block im
Europäischen Parlament sehen, der destruktiv und antieuropäisch agieren wird. Wir wollen
alles tun, was in uns liegt, um für eine progressive und proeuropäische Mehrheit im EU-
Parlament zu sorgen. Eine Mehrheit gegen den konservativen Status quo und gegen die
Nationalisten, eine Mehrheit, die Europas Versprechen erneuert, eine Mehrheit für eine
Kommissionspräsident*in, die dafür einsteht.
Nie war die Zukunft Europas so unsicher wie heute. Es hängt jetzt entscheidend vom
gemeinsamen Einsatz der Proeuropäer*innen ab, welche Richtung die Europäische Union
einschlagen wird, ob es am Ende scheitern wird oder zu neuer Stärke und Handlungsfähigkeit
findet als europäische Demokratie.
Es ist keineswegs sicher, dass wir diesen Kampf gewinnen. Aber sicher ist, dass wir
verlieren werden, wenn wir jetzt nicht kämpfen. Gerade die europäische Geschichte ist eine
Geschichte von Verlusten und Niederlagen und falschen Führern. Aber nie wurde etwas besser,
wenn man nicht gekämpft hat.
Deshalb bitten wir Sie: Lassen Sie uns gemeinsam Europas Versprechen erneuern. Wählen Sie
Europa, denn Europa ist die Antwort. Wählen Sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Sie finden im Jahr
2019 keine entschlossenere politische Kraft, die für ein geeintes, ökologisches,
feministisches und gerechtes Europa arbeitet.
Europa kann es. Wenn wir es wollen.