Veranstaltung: | 44. Bundesdelegiertenkonferenz Bielefeld |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 15.11.2019 |
Eingereicht: | 08.01.2020, 14:22 |
Grüne Gesundheitspolitik – mit Verantwortung und Weitblick in die Zukunft
Beschlusstext
Das heutige Gesundheitssystem steht vor großen Herausforderungen. Pflegenotstand und Ärzte-
Appell „Gegen das Diktat der Ökonomie in unseren Krankenhäusern“ sind deutliche Zeichen
eines massiven ökonomischen Drucks, der insbesondere Patient*innen aber auch Pflegepersonal
und Ärzt*innen massiv schadet und nur einzelnen Playern nutzt. Es besteht dringender
Handlungsbedarf und es gilt das Recht der Beitragszahler*innen und der Solidargemeinschaft
auf die Finanzierung menschengerechter Gesundheitspolitik einzufordern. Die Grünen setzen
sich für eine Gesundheitspolitik mit Verantwortung und Weitblick ein und stellen die
Gesunderhaltung des Menschen ins Zentrum der notwendigen politischen Entscheidungen.
Wir bekräftigen daher die Positionen aus dem Beschluss der BDK 2010 in Freiburg: Zugang,
Teilhabe und Prävention. Grüne Gesundheitspolitik erhält und stärkt die Solidarität. Die
zentralen Elemente sind Prävention und Erhalt der Gesundheit, qualitativ hochwertige und
bedarfsgerechte medizinische Versorgung im Krankheitsfall, aktive Beteiligung der Menschen
und Berufsgruppen, zugängliche und vernetzte Versorgungsstrukturen und eine Finanzierung auf
breiter Basis.
Die Bundesdelegiertenkonferenz 2019 beschließt darüber hinaus folgende Ziele im Sinne einer
patient*innenzentrierten Medizin und einer nachhaltigen Gesundheitspolitik:
1. Gesundheit in allen Politikbereichen / Health in All Policies:
Die Auswirkungen jeglicher politischer Entscheidung auf Gesundheitsaspekte aller Lebewesen
fließen frühzeitig in die Entscheidungsfindung mit ein und werden vorrangig beachtet. In der
Gesundheitspolitik werden Prävention, Gesundheitsbildung, Bewegung, Ernährung,
Patient*innen-Empowerment und Stärkung der Selbstverantwortung gezielt ausgebaut und
gesetzlich verankert.
2. Bedarfsgerechte und effiziente Versorgung
Der fortschreitende ökonomische Druck bringt das Gesundheitssystem und die
Patient*innenversorgung an die Grenzen der Belastbarkeit und Funktionsfähigkeit. Das
derzeitige Fallpauschalen-System führt zu Überversorgung in Bereichen mit lukrativen
Abrechnungsziffern und Unterversorgung im Bereich der Grundversorgung. Dieser Entwicklung
erteilen wir eine klare Absage und setzen uns für eine bedarfsgerechte und effiziente
Versorgung ein.
3. Vorfahrt für „Sprechende Medizin“ – vor Technik und invasiven Verfahren
Die „Sprechende Medizin“ mit menschlicher Präsenz und therapeutischen Gesprächen wird
adäquat vergütet und hat Vorrang vor Technikeinsatz und invasiven Verfahren.
4. Selbstbestimmungsrecht der Patient*innen und Therapiefreiheit der Ärzt*innen
Grüne Gesundheitspolitik bekennt sich ausdrücklich zum Selbstbestimmungsrecht der
Patient*innen, zur Therapiefreiheit der Behandelnden zur Therapievielfalt und einem
solidarisch finanzierten und auf der Grundlage empirischer Daten und wissenschaftlich
bewerteter Erkenntnisse arbeitenden Gesundheitssystem.
Wir wollen eine passgenaue und solidarisch finanzierte Versorgung für alle Versicherten.
Auch politische Entscheidungen außerhalb des Gesundheitswesens haben eine Auswirkung auf die
Gesundheit der Bevölkerung - bspw. im Bereich der Verkehrspolitik, der Stadtentwicklung, der
Agrarpolitik und der Sozialpolitik.
Wir befürworten daher den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vertretenen “Health in
all Policies”-Ansatz. Wir setzen uns für ein Gesundheitssystem ein, in dem tatsächlich jede
Patient*in eine zweckmäßige Behandlung erhält. Wir kritisieren, dass heute in der
Gesetzlichen Krankenkasse manche notwendigen Leistungen wie Sehhilfen nicht abgedeckt werden
oder erhebliche Zuzahlungen fällig werden wie bei der Heilmittelversorgung.
Wir streben ein Gesundheitssystem an, das noch stärker als heute seine medizinischen,
therapeutischen und pflegerischen Leistungen auf ihre Wirksamkeit, Notwendigkeit und
Zweckmäßigkeit prüft und den Leistungskatalog fortwährend an den wissenschaftlichen
Kenntnisstand und empirisch bewertete Erfahrungen anpasst. Das bedeutet auch, dass wir
wissenschaftliche Evaluationen, Versorgungsforschung und Studien stärker in den Bereichen
des Gesundheitswesens öffentlich fördern, die heute unterrepräsentiert sind und deren
Leistungen nur zu einem geringen Anteil auf wissenschaftlicher Evidenz begründet werden
können.
Die Gesetzliche Krankenversicherung wird solidarisch über Pflichtbeiträge finanziert, ihre
Ausgaben müssen vor diesem Hintergrund allgemein akzeptierten und nachprüfbaren Kriterien
entsprechen, um die breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu gewährleisten.
In unserem Gesundheitssystem erkennen wir erhebliche Probleme: Es gibt unter anderem Über-,
Unter- und Fehlversorgung, so z.B. unnötige Knie- und Rückenoperationen, eine erhöhte
Sterblichkeit nach Herzinfarkten im ländlichen Raum wegen nicht verfügbarer naher
Behandlungsorte und große Barrieren in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Dies
schadet den Patient*innen und verbraucht finanzielle Ressourcen, die für eine bessere
Versorgung in anderen Bereichen fehlen.
Besonders in Regionen mit einer niedrigen Ärztedichte sind Verbesserungen erforderlich, um
eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung zu gewährleisten. Auch berücksichtigen viele
Therapien nicht die besonderen Bedarfe bspw. von Frauen, Kindern, Menschen mit Behinderung
und alten Menschen. Wir wollen unser Gesundheitswesen barriereärmer, gendergerechter,
ehrlicher und transparenter, sicherer und menschlicher, rationaler und fairer gestalten. Wir
wollen, dass Patient*innen tatsächlich in jedem Fall aufgeklärt werden über die Wirkung
einer angebotenen Behandlungsmöglichkeit.
Wir sehen, dass immer mehr fragwürdige Therapie-Angebote und Produkte auf den Markt kommen
und beworben werden. Deshalb wollen wir den Verbraucher*innenschutz stärken und die
Patient*innenkompetenz steigern.
Der nächsten Bundesdelegiertenkonferenz wird im Rahmen des Grundsatzprogrammprozesses eine
Positionierung zur Frage eines wissenschaftsbasierten und ethischen Gesundheitssystems und
der grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit durch die Gesetzliche
Krankenkasse zur Abstimmung vorgelegt. Die inhaltliche Vorarbeit wird gemeinsam in einer
Kommission aus den zuständigen wissenschafts- und gesundheitspolitischen Abgeordneten,
Vertreter*innen der Gesundheitsministerien der Länder, Vertreter*innen der
Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft, Vertreter*innen der Arbeitsgemeinschaft Gesundheit
aus der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit, Soziales, Gesundheit, Vertreter*innen des
Bundesvorstands sowie ausgewogen den Antragssteller*innen der Anträge V-01, V-04, V-19 und
V-44 erarbeitet. Die Kommission kann externe Experten*innen hinzuziehen und bearbeitet
folgende Fragestellungen.
- In welchem Spannungsverhältnis stehen evidenzbasierte Wissenschaft und ein
ganzheitlicher Gesundheitsbegriff?
- Wie definieren wir den Wissenschaftsbegriff in der Medizin? Was bedeutet
Evidenzbasierte Medizin und wie werden ihre drei Säulen gewichtet (Werte und Wünsche
der Patient*in, aktueller Stand der klinischen Forschung, die individuelle klinische
Erfahrung)?
- Welche Funktion übernehmen wissenschaftliche Erkenntnisse in der Entscheidung über die
Erstattungsfähigkeit medizinischer Maßnahmen in der Gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV)?
- Sind die derzeitigen Zulassungsverfahren adäquat?
- Welche Voraussetzungen für bessere Patient*innensicherheit sind notwendig
(Deklarationspflicht, Aufklärungspflichten)?
- Wie beurteilen wir positive Effekte auf den Gesundheitszustand, die durch eine
Behandlung mit Placebo hervorgerufen werden?
- Welche Rolle soll künftig die sprechende Medizin einnehmen, d.h. die Zeit, die in
unserem Gesundheitswesen zur Verfügung steht für das Schildern der Symptome, für
Aufklärung und Beratung zwischen Patient*innen und Behandelnden? Wie soll in regulärer
medizinischer Behandlung die Individualität der und des Einzelnen in der Behandlung
angemessen berücksichtigt werden? Wir prüfen auch eine der jeweiligen Fachrichtung
angemessenere Vergütung des ärztlichen Gesprächs in der Gebührenordnung für Ärzte
(GOÄ) unabhängig von der Methodik. Wie kann eine Stärkung und Verzahnung der
sprechenden Medizin im ambulanten und stationären Bereich und eine bessere Abbildung
der Anamnese in der pflegerischen, therapeutischen und medizinischen Ausbildung und
Tätigkeit erreicht werden?
- Wie lautet unsere grundsätzliche Position zum Einsatz der besonderen
Therapierichtungen in der GKV?
- Ist eine Überprüfung der Berechtigung des sogenannten Binnenkonsenses notwendig? Und
was bedeutet das hinsichtlich von Präparaten?
Diese Kommission bereitet außerdem für die übernächste Bundesdelegiertenkonferenz ein
eigenständiges Positionspapier mit konkreten Empfehlungen vor, welche Anforderungen
grundsätzlich in der GKV gestellt werden und auf welcher Evidenz-Grundlage die Erstattung in
der GKV erfolgen soll. Grundlegende Ergebnisse dieser Kommission finden außerdem Eingang in
den Entwurf eines Bundestagswahlprogrammes.