Veranstaltung: | 44. Bundesdelegiertenkonferenz Bielefeld |
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Tagesordnungspunkt: | W Wohnen |
Status: | Beschluss (vorläufig) |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 15.11.2019 |
Eingereicht: | 17.11.2019, 05:24 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Energieversorgung für alle garantieren – Stromsperren verhindern
Beschlusstext
Die Versorgung mit Energie ist Teil eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ – das hat das
Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen von 2010 und 2014 klar festgestellt.
Gleichzeitig ist Energiearmut ein weit verbreitetes und wachsendes Problem in Deutschland
geworden. Dies zeigt sich insbesondere an der Anzahl der Stromsperren in deutschen
Haushalten. Bereits im Jahr 2017 hatten sich die Stromsperren auf insgesamt knapp 350.000
Haushalte erhöht. Es ist also davon auszugehen, dass jährlich bis zu einer Million Menschen
von Stromsperren betroffen sind.
Für die Betroffenen sind die Folgen einer Stromsperre schwerwiegend. Sie können mitunter
nicht mehr heizen oder eine warme Mahlzeit zubereiten. Hausaufgaben müssen im Dunkeln oder
bei Kerzenlicht erledigt und die Lebensmittel können nicht mehr im Kühlschrank gelagert
werden. Ohne eine Versorgung mit Energie ist das menschenwürdige Existenzminimum, welches
laut Grundgesetz jedem Menschen zusteht, nicht mehr gesichert. Besonders hart trifft dies
besonders Schutzbedürftige wie Kinder, alte, behinderte oder pflegebedürftige Menschen.
Diese haben außerdem oft einen überdurchschnittlich hohen Energiebedarf, ohne dass dies
ausreichend berücksichtigt wird.
Zudem können die Stromsperren dazu führen, dass Betroffene durch die anfallenden Gebühren
für die Mahnung, Sperrung und Entsperrung in eine Verschuldungsspirale geraten, die das
Risiko, erneut mit einer Energiesperre belegt zu werden, weiter erhöht. Dabei lag der
Zahlungsrückstand bei einer Sperrandrohung im Jahr 2017 bei durchschnittlich 117 Euro. Die
Folgekosten von der Mahnung bis zur Wiederherstellung der Versorgung nach einer Stromsperre
können hingegen schnell die Höhe des eigentlichen Zahlungsrückstandes übersteigen und
variieren erheblich zwischen den Stromversorgern.
Auch in der Wissenschaft werden die negativen Folgen der Energiearmut auf die physische und
psychische Gesundheit der Betroffenen diskutiert. Menschen mit geringem Einkommen sind
besonders häufig von Stromsperren betroffen. Bei Beziehenden von Grundsicherungsleistungen
gilt dies sogar überproportional. Häufig kommt es zu Stromsperren, wenn eine einschneidende
Veränderung im Lebensumfeld, z. B. der Übergang in Rente oder Erwerbslosigkeit, eine
Trennung, die Geburt eines Kindes oder Erkrankungen hinzukommen. Dies kann sich auch auf die
soziale Lebenssituation der Betroffenen auswirken, denn viele Menschen schämen sich ihrer
Zahlungsunfähigkeit, sind stigmatisiert und ziehen sich bei Stromsperren aus ihrem sozialen
Umfeld zurück.
Aufgabe des Sozialstaates sollte es sein, Menschen in kritischen Lebenslagen zu schützen und
zu unterstützen. Mit der konstant hohen Zahl von Stromsperren wird in Kauf genommen, dass
die Betroffenen in noch stärkere Problemlagen geraten und ihr menschenwürdiges
Existenzminimum nicht gewährleistet wird.
Für Menschen im Grundsicherungsbezug ist die Situation besonders extrem. Das
Bundesverfassungsgericht hat bereits 2014 auf die Gefahr einer Unterdeckungen der
Stromkosten im Regelbedarf durch Preissteigerungen hingewiesen und angemahnt, dass „der
Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten“
dürfe. Die Bundesregierung kommt dem höchstrichterlichen Auftrag jedoch seit Jahren nicht
nach. Das Vergleichsportal Verivox hat die Unterdeckung der Stromkosten im Regelsatz
berechnet und kommt zu dem Ergebnis, dass die tatsächlichen Stromkosten in einem Ein-
Personen-Haushalt den Kostenanteil im Regelsatz um 14 Prozent übersteigen. Für Personen in
der Grundversorgung liegt diese Lücke gar bei 24 Prozent. Dabei bestehen erhebliche
Unterschiede zwischen den Bundesländern. So liegt die Deckungslücke in der Grundversorgung
bei Ein-Personen-Haushalten zwischen 15 Prozent (Bremen) und 34 Prozent (Brandenburg). Auch
die Berechnungen der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen unterstreichen dieses Ergebnis.
Um die Unterdeckung der Stromkosten auszugleichen, bleibt den Betroffenen nur die
Möglichkeit, bei anderen Ausgaben wie dem Lebensmittelkauf zu sparen. Angesichts des
strukturell klein gerechneten Regelsatzes besteht hierfür jedoch kaum Spielraum. So trägt
die Bundesregierung maßgeblich dazu bei, dass Menschen in der Grundsicherung so häufig von
Stromsperren betroffen sind.
Die Europäische Union hat die Problematik der Energiearmut erkannt und das Problem bereits
2009 in einer Richtlinie aufgegriffen, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert werden,
nationale Aktionspläne oder einen anderen geeigneten Rahmen zur Bekämpfung der Energiearmut
schaffen, die zum Ziel haben, die Zahl der darunter leidenden Menschen zu verringern und
damit in jedem Fall eine ausreichende Energieversorgung für schutzbedürftige Kunden
gewährleisten. Eine entsprechende Umsetzung in deutsches Recht ist bislang nicht erfolgt.
Die Bundesregierung sperrt sich sogar dagegen, das Ausmaß der Energiearmut genauer zu
messen.
Großbritannien, Belgien und Frankreich haben hingegen auf die sozialen Härten, die mit
Stromsperren einhergehen, reagiert und Maßnahmen ergriffen, um die Stromversorgung
sicherzustellen, darunter auch ein Verbot von Stromsperren in den Wintermonaten. Auch auf
kommunaler Ebene in Deutschland wird im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten daran
gearbeitet, Stromsperren und deren Folgen zu vermeiden. So hat es zum Beispiel die Stadt
Saarbrücken mit einer engen Kooperation zwischen Betroffenen, Energieversorgern und
Jobcentern geschafft, die Stromsperren fast vollständig zu überwinden.
Bündnis 90/DIE GRÜNEN fordern einen wirksamen Schutz vor Energiearmut und Initiativen auf
Bundesebene, welche insbesondere Stromsperren und damit extreme Energiearmut verhindern:
- einen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Energiearmut, der zum Ziel hat, die
Zahl der darunter leidenden Menschen zu verringern und eine ausreichende
Energieversorgung für schutzbedürftige Kund*innen zu gewährleisten (entsprechend der
EU-Richtlinie 2009/72/EG, Nr. 53)
- einen Gesetzentwurf zur Verhinderung von Stromsperren und zur Sicherstellung der
Energieversorgung
- die Einführung einer aus dem Regelsatz der Grundsicherung ausgelagerten
Stromkostenpauschale, welche jährlich an die Entwicklung der Stromkosten angepasst
wird und sicherstellt, dass die Stromkosten auch tatsächlich gedeckt werden. Darüber
hinaus müssen Mehrbedarfe aus gesundheitlichen Gründen (z. B. für elektrisch
betriebene Hilfsmittel) oder bei einer dezentralen Warmwasserversorgung kostendeckend
bemessen werden.
- die Etablierung eines frühzeitigen Hilfesystems im Fall von sich abzeichnenden
Energieschulden zwischen Energieversorgern und Jobcentern bzw. Sozialämtern unter
Einwilligung der Leistungsbeziehenden, um Stromsperren zu verhindern (analog §22
Absatz 7 SGB II sowie §35 Absatz 1 SGB XII)
- die Intensivierung von Maßnahmen zur Unterstützung beim Energiesparen, indem
zielgenauer und verlässlicher Bedarfe durch Leistungen außerhalb des Regelsatzes
abgedeckt werden. Hierzu zählen einmalige Leistungen wie Anschaffung oder Reparatur
von weißer Ware wie Waschmaschine und Kühlschrank. Dabei soll sichergestellt werden,
dass bevorzugt besonders energieeffiziente Geräte angeschafft werden.
- eine Neuregelung des § 19 der Stromgrundversorgungsverordnung (StromGVV). Diese soll
eine Verlängerung der Mahn- und Sperrfristen, eine moderate Anhebung des Grenzbetrags
bei ausstehenden Zahlungsverpflichtungen sowie eine Deckelung der Mahn- und
Folgekosten umfassen. Zudem sind klare, bundeseinheitliche Härtefallregelungen zu
treffen, die sicherstellen, dass besonders schutzbedürftige Personen nicht mit einer
Stromsperre belegt werden.
- die stärkere Förderung bundesweiter Energiespar- und Schuldnerberatungen für Menschen
mit geringem Einkommen nach dem Vorbild der Projekte „Stromspar-Check Aktiv“ oder „NRW
bekämpft Energiearmut“
- die Einführung eines sozial ausgestalteten CO2-Preises, der geringeren Verbrauch
belohnt und Menschen mit geringem oder keinem eigenen Einkommen entlastet, indem die
Stromsteuer nahezu abgeschafft und ein Energiegeld als Rückerstattung pro Kopf
ausgezahlt wird