Veranstaltung: | 44. Bundesdelegiertenkonferenz Bielefeld |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Status: | Beschluss (vorläufig) |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 15.11.2019 |
Eingereicht: | 16.11.2019, 19:42 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Eskalation in Nordsyrien: Völkerrechtswidrigen Militäreinmarsch der Türkei verurteilen – Rüstungsexporte stoppen – Exportgarantien beenden – Täter bestrafen
Beschlusstext
Mit ihrem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Nordsyrien am 9. Oktober 2019 hat die türkische
Regierung unter Präsident Erdogan den Konflikt in Syrien weiter eskaliert und so eine
massive Verschlechterung der politischen sowie humanitären Lage der ohnehin geschundenen
Region in Nordsyrien herbeigeführt. Rund 300.000 Menschen mussten bereits aufgrund der
jüngsten türkischen Invasion fliehen, zahlreiche tote Zivilistinnen und Zivilisten sind zu
beklagen. Der Einmarsch in Nordsyrien ist ein gezielter Angriff auf die kurdische
Bevölkerung. Die türkische Regierung verfolgt das Ziel, die Bevölkerungsstruktur im
mehrheitlich kurdischen Norden Syriens zu verändern, die Kurdinnen und Kurden im eigenen
Land zu schwächen und damit den türkisch-kurdischen Konflikt zu entscheiden. Gleichzeitig
verschärft auch der US-Präsident mit seiner erratischen Politik die Situation in Syrien und
der Region. Mit dem plötzlichen Abzug der US-Truppen entzieht Donald Trump den kurdischen
Kräften, die sich dem IS maßgeblich entgegenstellt haben und unter hohen Verlusten die vom
IS kontrollierten Gebiete zurückgewinnen konnten, abrupt die jahrelange Unterstützung. Er
überlässt sie damit ihrem Schicksal, setzt sie der Feindseligkeit der türkischen Armee aus,
die Seite an Seite mit islamistischen Kämpfern ihren Einsatz vollzieht, und treibt sie
ausgerechnet in die Arme des syrischen Regimes unter Baschar al-Assad.
Bei einem Treffen in Sotschi am 22. Oktober 2019 teilten der russische und der türkische
Präsident Nordsyrien de facto auf: Die Türkei patrouilliert ab sofort gemeinsam mit der
russischen Armee in Teilen des syrisch-türkischen Grenzgebiets unter Beteiligung von
islamistischen Milizen, die allesamt – wie zuvor schon in Afrin - Kriegsverbrechen begangen
haben. Amnesty International berichtet von schweren Menschenrechtsverletzungen und
Kriegsverbrechen, wie z.B. wahllosen Angriffen auf Wohngebiete, Schulen und andere zivile
Ziele. Zudem will Erdogan bis zu zwei Millionen syrische Geflüchtete, von denen die
wenigsten ihre Heimat im überwiegend kurdischen Landstrich haben, in diesem Gebiet
zwangsansiedeln. Solche ethnischen Vertreibungen und zwangsweise Umsiedlungen würden zu
einer humanitären Tragödie und gefährlichen neuen Konflikten führen und massiv zur
Verschärfung des Konflikts beitragen.
Durch den Rückzug der USA und die Einigung zwischen Moskau und Ankara stabilisiert sich die
Macht des syrischen Diktators Assad weiter. Seine Truppen konnten mit Hilfe ihrer iranischen
und russischen Verbündeten weitere Gebiete im Norden unter ihre Kontrolle bringen.
Durch den türkischen Einmarsch werden die kurdischen Lager mit den inhaftierten IS-Kämpfern
nicht mehr mit der gleichen Intensität bewacht wie vor dem Einmarsch. Medienberichten
zufolge sind daher bisher circa 100 IS-Kämpfer aus der kurdischen Haft entkommen. Bisher hat
sich die Bundesregierung geweigert, die inhaftierten deutschen IS- Kämpfer und ihre
Angehörigen mit deutscher Staatsbürgerschaft zurückzuholen und sie schnellstmöglich in
Deutschland für ihre Taten strafrechtlich zu verfolgen. Darum ist die Gefahr durch
entkommene IS-Kämpfer auch innerhalb Europas in dieser chaotischen Situation nun größer
geworden.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben durch fehlende gemeinsame Initiativen zu den
Auswirkungen im Syrienkonflikt, die wir heute sehen, beigetragen. Von der Bundesregierung
ging auf EU-Ebene keine Initiative für eine kraftvolle Wiederbelebung eines
Friedensprozesses in Syrien aus. Maßnahmen, wie der VN-Mechanismus für die Untersuchung und
Verfolgung von schwersten Kriegsverbrechen in Syrien, unterstützte die Bundesregierung nicht
ausreichend. Und die internationale Gemeinschaft – darunter auch Deutschland – konnte sich
bis heute nicht durchringen, die Menschenrechtsverbrechen durch die türkische Regierung in
Afrin 2018 klar zu benennen und den Einmarsch als eindeutig völkerrechtswidrig zu
verurteilen. Dadurch fühlte sich Präsident Erdogan ermuntert, die Vertreibungen noch einmal
auszuweiten.
Russland konnte seinen Einflussbereich im Nahen Osten entscheidend ausbauen, die türkische
Regierung entfernt sich immer mehr von EU und NATO. Doch dieses Blinken nach Moskau kann
nicht die existentiellen wirtschaftlichen Beziehungen der Türkei mit Europa ersetzen. Gerade
deshalb sollten die Europäische Union und die NATO die Provokationen Erdogans ruhig, aber
deutlich beantworten. Gerade im Fall von Syrien wird überdeutlich, wie notwendig eine starke
EU mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist.
Die Inkonsistenz in der europäischen Außenpolitik offenbarte sich jüngst auch im Agieren der
deutschen Bundesregierung. Es liegen genügend realistische Vorschläge auf dem Tisch, wie
sich Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern aktiv für die Linderung der humanitären
Katastrophe engagieren kann. Stattdessen düpierte die deutsche Verteidigungsministerin mit
ihrem nicht abgestimmten Vorstoß für eine international gesicherte Schutzzone im Norden
Syriens die übrige Bundesregierung und irritierte Deutschlands europäische und
internationale Verbündete und Partner. Statt auf allen Kanälen Druck auf die türkische
Regierung auszuüben und dafür auch den NATO-Rat zu nutzen, beschäftigten sich die
Bundesregierung und ebenso die NATO mit einem innenpolitisch motivierten Vorschlag der
deutschen Verteidigungsministerin, der in der Sache leider bei Weitem nicht durchdacht,
geschweige denn abgestimmt war. Im Mittelpunkt der Initiative stand dabei nicht der Schutz
der Zivilbevölkerung, denn von Anfang an war nicht klar benannt, wen eine solche Schutzzone
vor wem schützen sollte. Stichhaltige Aussagen über die völkerrechtliche Grundlage ihres
Vorstoßes blieb die Verteidigungsministerin lange Zeit ebenso schuldig wie eine Erläuterung,
was in der konkreten Situation mit zusätzlicher militärischer Präsenz eigentlich erreicht
werden solle – noch dazu in einer derart multifrontalen Situation wie im Nordosten des
Landes. Und es fehlte die Absage an den türkischen Plan, Flüchtlinge in die nordsyrische
Region abzuschieben.
Spätestens nach der russisch-türkischen Einigung von Sotschi war klar, dass ein Einsatz
unter den aktuellen Umständen in Nordsyrien für deutsche und europäische Kräfte kaum möglich
wäre, ohne sich zum Handlanger des Autokraten Putin wie des Diktators Assad zu machen, der
hunderttausende Menschenleben auf dem Gewissen hat und auch vor dem Einsatz von Giftgas
gegen die eigene Bevölkerung nicht zurückschreckte. Ebenso wäre ein Einsatz ohne
Zusammenarbeit mit Erdogan nicht möglich, dessen Ziel die Vertreibung von Kurdinnen und
Kurden und ethnischer und religiöser Minderheiten vor Ort ist. Die Bundesregierung hat sich
- auch mit den Äußerungen des Außenministers bei seinem Besuch in der Türkei - in einem
Moment kriegerischer Eskalation durch ein Nato-Mitglied als politische Kraft präsentiert,
die mehr mit sich selbst beschäftigt ist, anstatt handlungsfähiger Akteur zu sein. Aufgabe
wäre es gewesen, zusammen mit seinen Partnern nach diplomatischen Lösungen zu suchen und auf
eine Deeskalation zu dringen. Wer Außenpolitik hingegen rein aus innenpolitischem Kalkül
betreibt, der bricht mit einem werte- und menschenrechtsgeleiteten Politikverständnis und
schadet den Sicherheitsinteressen Europas.
Die Bundesregierung hat viel zu lange kaum folgenreiche Kritik an der zunehmend
autokratischen und unberechenbaren Innen- und Außenpolitik der türkischen Regierung geübt,
geschweige denn konkrete politische Maßnahmen ergriffen. So hat die Bundesregierung auch
nach dem völkerrechtswidrigen türkischen Einmarsch in Afrin 2018 Kriegswaffen im Wert von
mindestens 427 Millionen Euro an die Türkei geliefert. Die Ankündigung der Bundesregierung,
keine Genehmigungen für alle Rüstungsgüter zu erteilen, die in Syrien eingesetzt werden
könnten, kommt viel zu spät, ist reine Symbolpolitik und ermutigt Präsident Erdogan, seine
verantwortungslose Politik ohne Risiko fortzusetzen. Denn bereits genehmigte, aber noch
nicht gelieferte Waffen, können so weiter problemlos an die Türkei exportiert werden. Seit
Anfang 2018 wurden deutsche Exportkreditgarantien (sogenannte Hermesbürgschaften) für die
Türkei im Wert von rund 2,6 Milliarden Euro gewährt. Den wirtschaftlichen Hebel, den die
Bundesregierung hat, um die türkische Regierung unter Druck zu setzen, hat sie bislang nicht
genutzt. Wir Grüne erwarten von der Bundesregierung einen grundlegenden Kurswechsel im
Umgang mit der türkischen Regierung. Gleichzeitig dürfen wir die Regimekritiker*innen in der
Türkei, von denen Hunderte nach Kritik an der Invasion in Nordsyrien festgenommen wurden,
nicht alleine lassen. Die Zusammenarbeit mit der demokratischen, pro-europäischen türkischen
Zivilgesellschaft muss gestärkt und ausgebaut und diese weiter unterstützt werden.
Die gleichzeitig stattfindenden Angriffe auf Idlib sind eine Katastrophe. Dort werden
Krankenhäuser und zivile Einrichtungen brutal und menschenverachtend attackiert. Der
syrische Diktator Assad und seine Verbündeten haben den einstigen Zufluchtsort Idlib zu
ihrem Hauptangriffsziel gemacht. Die Bundesregierung muss die Situation in Idlib zum Thema
im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen machen. Russland hat dort bisher jeden Versuch
einer gemeinsamen Erklärung, die die Angriffe auf Zivilisten durch die Truppen Assads
verurteilt, verhindert.
Bündnis 90/Die Grünen verurteilen den völkerrechtswidrigen und durch nichts zu
rechtfertigenden Angriff der türkischen Regierung und verbündeter islamistischer Milizen
gegen Teile der autonomen kurdischen Selbstverwaltungszone in Syrien.
Wir fordern:
- Dass die türkische Regierung den völkerrechtswidrigen Angriff auf Nordsyrien sofort
stoppt und ihr Militär und die sie unterstützenden Milizenverbände sofort abzieht.
- Dass die Bundesregierung sowie EU und NATO den türkischen Einmarsch in Nordsyrien
öffentlich und auf allen Ebenen als völkerrechtswidrig verurteilen, inklusive der
Vereinten Nationen.
- Dass die NATO deutlich macht, dass die Türkei für ihren völkerrechtswidrigen Einmarsch
keinen Beistand erhält und eine Feststellung des Bündnisfalls auf der Grundlage des
NATO-Vertrags somit ausgeschlossen ist.
- Dass Deutschland und die Europäische Union an alle Beteiligten appellieren, das
humanitäre Völkerrecht zu achten, und sich dafür einsetzen, dass alle Beteiligten
keine Gewalt gegen Zivilist*innen ausüben, weder in Nordsyrien, noch in der Türkei
noch anderswo. Menschen, die gerade aus Nordsyrien in Richtung Nordirak flüchten, muss
freies und sicheres Geleit gewährt werden.
- Dass sich die EU dafür einsetzt, dass auch die Kurdinnen und Kurden aus dem Norden
Syriens umfassend im UN-vermittelten Verfassungsausschuss und politischen Prozess
vertreten sind und die De-facto-Autonomie des kurdischen Gebiets in Nordsyrien
erhalten bleibt.
- Dass die Verantwortlichen für in Syrien begangene Kriegsverbrechen auf der Grundlage
des Völkerstrafrechts zur Rechenschaft gezogen werden und dass der internationale
unabhängige Mechanismus der VN zur Untersuchung von schwerwiegenden Verbrechen in
Syrien angemessen finanziert wird.
- Dass die EU oder ihre Mitgliedstaaten persönliche und gezielte finanzielle Sanktionen
gegen Präsident Erdogan, Mitglieder der türkischen Regierung und führende Angehörige
des türkischen Militärs sowie gegen türkische Finanzinstitutionen, über die das
türkische Militär seine Finanztransaktionen abwickelt, im europäischen Verbund
erlassen.
- Dass die türkische Regierung die innenpolitische Kampagne gegen Kritiker*innen der
Invasion in Nordsyrien beendet und die Meinungs- und Pressefreiheit wiederherstellt.
- Dass die Bundesregierung die Verlängerung des Engagements der Bundeswehr bei der
Operation „Inherent Resolve“ zurücknimmt, die Tornados aus Jordanien abzieht und ab
sofort keinerlei Aufklärungsergebnisse mehr direkt oder indirekt an die Türkei
weitergibt.
- Dass die Bundesregierung alle deutschen Rüstungsexporte in die Türkei umgehend stoppt,
erteilte Genehmigungen widerruft, sich für einen EU-weiten Rüstungsexportstopp an die
Türkei und auch für einen Stopp der Beteiligung deutscher Unternehmen an
Rüstungskonsortien in der Türkei einsetzt.
- Dass die Bundesregierung keine neuen Hermesbürgschaften zur Absicherung
wirtschaftlicher Aktivitäten in der Türkei übernimmt und alle noch nicht genehmigten
Anträge ablehnt.
- Dass die Bundesregierung endlich ihre rechtliche und politische Verpflichtung
wahrnimmt, indem sie die deutschen IS-Kämpferinnen und –Kämpfer und ihre
Familienangehörigen zurücknimmt und so schnell wie möglich Strafverfahren gegen
Personen, die sich strafbar gemacht haben, in Deutschland einleitet. Dazu müssen die
Strafverfolgungsbehörden ausreichende Kapazitäten bekommen. Zudem muss sichergestellt
sein, dass die Kapazitäten ausreichen, damit Gefährderinnen und Gefährder bzw.
relevante Personen nach der Rückkehr nach Deutschland überwacht werden können.
- Dass die EU und ihre Mitgliedstaaten diesen im Kern asylrechtswidrigen EU-Türkei-Deal
von 2016, der die verheerende Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen
Inseln noch verschlimmert und die EU durch die türkische Regierung erpressbar gemacht
hat, beenden. Zugleich darf die europäische Unterstützung zu unmittelbaren Gunsten der
über drei Millionen Geflüchteten in der Türkei nicht abbrechen. Deren Versorgung nach
humanitären Standards muss oberste Priorität haben. Auch braucht es dringend
Kontingente zur Entlastung der dortigen Strukturen.
- Dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten sich endlich für legale Fluchtwege in die EU,
eine menschenwürdige Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten, rechtstaatliche
Asylverfahren und eine gerechte Verteilung der Geflüchteten auf die EU-Mitgliedstaaten
einsetzen. Wer verhindern will, dass sich Schlepper an der Not von Geflüchteten
bereichern, die angesichts von Verfolgung, Krieg und Gewalt ihr Leben bei der Flucht
übers Mittelmeer aufs Spiel setzen, muss sichere und legale Fluchtalternativen
schaffen.
- Anzuerkennen, dass ein Neuanfang in Syrien nur unter Einbeziehung der politischen
Opposition in den Verfassungsprozess und freier, fairer Wahlen stattfinden kann. Die
EU muss wieder aktiver werden, um eine dauerhafte politische Lösung der Krise im
Einklang mit der Resolution 2254 des VN-Sicherheitsrates zu finden. Besonders Frauen
müssen am Verhandlungsprozess für eine politische Lösung des Konflikts beteiligt
werden. Ohne einen relevanten und inklusiven politischen Prozess und ohne Freilassung
der politischen Gefangenen darf es keine finanzielle Unterstützung für das Assad-
Regime und seine Günstlinge geben, auch nicht in Form von Aufbauhilfe.
- Eine politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts bleibt die notwendige
Voraussetzung für Stabilität und Frieden in der gesamten Region. Eine Lösung kann
nicht in einer weiteren Eskalation des schrecklichen Krieges in Syrien und weiterer
militärischer Aufrüstung der Türkei bestehen, sondern muss friedlich, unter
Einbeziehung der betroffenen Staaten und der kurdischen Akteure sowie unter Wahrung
des Völkerrechts erreicht werden.
- Dass sich die Bundesregierung und die EU-Mitgliedstaaten dafür einsetzen, das
schreckliche Leid der Menschen in Idlib zu lindern, und dass Russland und das syrische
Regime ihre militärischen Angriffe auf die Region umgehend beenden.
- Alles politische Handeln der Bundesregierung und der Europäischen Union konsequent auf
die Unterstützung der vielen demokratischen Kräfte in der Türkei auszurichten.