Veranstaltung: | 47. Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | D Dringlichkeitsanträge |
Antragsteller*in: | BAG Behindertenpolitik (dort beschlossen am: 16.01.2022) |
Status: | Eingereicht |
Verfahrensvorschlag: | AbstimmungErklärung: Mit Beschluss vom 21.01.2022 empfiehlt die Antragskommission der BDK die Zulassung dieses Antrags. Die Dringlichkeit ist gegeben. Mit der Zulassung durch die BDK wird der Antrag als D-01 im TOP Aktuelle Debatte behandelt. |
Eingereicht: | 21.01.2022, 12:21 |
D-01: Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen - diskriminierungsfreien Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung für alle auch in der Pandemie gewährleisten
Antragstext
Die Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) fordert unsere Regierungsmitglieder und die
Bundestagsfraktion dazu auf, unverzüglich Vorkehrungen zu treffen, um Menschen mit
Behinderung vor Diskriminierung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger
intensivmedizinischer Ressourcen im Fall einer Triage zu schützen. Dabei ist Folgendes zu
berücksichtigen:
- Bei der Erarbeitung eines geeigneten Rahmens müssen Menschen mit Behinderung von
Anfang an wirksam beteiligt werden.
- Zur Erfüllung des staatlichen Schutzgebots reichen Verfahrensvorschläge wie
beispielsweise die Einführung eines VierAugen-Prinzips nicht aus.
- Kriterien einer Regelung dürfen nicht sein:
- Alter
- Behinderung
- Komorbiditäten
- Gebrechlichkeitsskala
- Ein Behandlungsabbruch darf nur erfolgen, wenn keinerlei Überlebenschance mehr
besteht.
Der Gesetzgeber ist auch aufgefordert geeignete Maßnahmen zu treffen, die klarstellen, dass
jeder Versuch Menschen von der Inanspruchnahme einer klinischen Behandlung bzw. einer
Beatmung fernzuhalten, eine unzulässige Diskriminierung darstellt („Stille Triage“).
Bündnis 90/ Die Grünen steht als Partei für einen menschenrechtsbasierten Ansatz in allen
Politikfeldern.
Begründung der Dringlichkeit
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wurde nach dem Antragsschluss für die Bundesdelegiertenversammlung veröffentlicht.
Begründung
Neun Menschen mit Behinderung reichten im Juli 2020 eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, weil sie angesichts der Pandemie befürchten mussten im Fall knapper intensivmedizinischer Ressourcen beim Wettbewerb ums letzte Beatmungsgerät und die überlebensnotwendige Therapie aussortiert zu werden (Triage). Ihr Ziel war es, den Gesetzgeber dazu zu verpflichten, seine Schutzpflicht gegenüber Menschen mit Behinderungen wahrzunehmen und sie durch eine gesetzliche Regelung vor Diskriminierung zu bewahren. Die Delegierten unserer Partei haben bereits auf dem digitalen Länderrat am 2. Mai 2020 eine Resolution verabschiedet, in der klargestellt wurde, dass die Regelungen des Grundgesetzes auch in der Pandemie uneingeschränkt gelten müssen. In diesem Sinne forderten die Antragssteller*innen Regelungen zur Triage, die diskriminierungsfrei und grundrechtskonform ausgestaltet zu sein haben.
Trotz der Bemühungen unserer Bundestagsfraktion sahen sich weder die damalige Bundesregierung noch der Gesetzgeber in seiner Mehrheit dazu veranlasst, Abhilfe zu schaffen oder sich zumindest in Form einer Orientierungsdebatte des Themas anzunehmen. Am 28. Dezember 2021 veröffentlichte der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) schließlich seinen Beschluss zur Beschwerde. Er folgt ihr weitgehend und stellt fest, dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung und Auftrag, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung auch durch Dritte zu schützen) verletzt hat.
Der Schutzauftrag verdichtet sich demnach im Fall einer drohenden Triage zu einer Schutzpflicht, weil das Risiko der Benachteiligung beim Zugang zu intensivmedizinischen Ressourcen tatsächlich besteht und die Betroffenen damit in Lebensgefahr zu geraten drohen. Das Gericht fordert den Gesetzgeber dazu auf, unverzüglich Vorkehrungen zu treffen, die dazu geeignet sind, dies zu verhindern. Wir halten die Erfüllung der in diesem Antrag formulierten Bedingungen für notwendig, um die Vorgaben des höchstrichterlichen Beschlusses zu erfüllen.
Kommentare
Bernhard Pütz:
Zeile 1 bis 12 stimme ich vollständig zu.
Aber Komorbiditäten sind medizinische Gründe, die bei Entscheidungen von Intensivpersonal das ausschließliche Kriterium sein können, einfach schon deshalb weil die nur dafür vollständig qualifiziert sind.
Die Gebrechllichkeitsskala ist ausschließlich für die altersbedingte Gebrechlichkeit definiert, deshalb sollte sie hier nicht ausgeschlossen werden. Eine besondere Betonung auf diese Anwendung würde ich mittragen.
Die Zeilen 15-16 und 17-19 empfinde ich als widersprüchlich bzw. unausgereift. 15-17 bedeutet, dass Menschen in Behandlung Vorrang vor allen weiteren bekommen, also "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst ". Das bedeutet im Endeffekt keine Triage, sondern eine Zufallsauswahl, die in der Summe Menschenleben kostet.
Und das wäre dann das, was in Zeilex17-19 verboten werden soll, nämlich das Fernhalten von intensivmedizinischer Behandlung. Wir sprechen hier von einer Situation, in der eben entschieden werden muss, entweder wen man behandelt oder wen nicht. Der Effekt ist der gleiche, manche werden keine Behandlung erhalten.
Daher kann ich das so nicht unterstützen.
LG Bernhard
Annette Standop:
- Die Gebrechlichkeitskala für Menschen im Alter würde auch auf Menschen mit Behinderung angewendet, wenn diese „zufällig“ in einem Alter sind, für die diese Skala entwickelt wurde. Hier müsste man in der Theorie herausrechnen können, welche Faktoren rein der Behinderung zuzuschreiben sind (wie zum Beispiel umfassende „Hilfsbedürftigkeit“ oder Unfähigkeit zur eigenständigen Mobilität) und welche möglicherweise dem Alter. Das kann man aber nicht, und deshalb halten wir es für geboten, diese Skala entweder gar nicht anzuwenden oder zumindest nicht auf Menschen, die bereits behinderungsbedingt in jüngeren Jahren bestimmte Negativ-Scores dieser Skala erfüllen.
- Zeile 15-17 hat nichts mit "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ zu tun. Hier geht es lediglich darum, dass beim Fehlen jeglicher Überlebenschance eine Behandlung abgebrochen werden darf, nicht aber aus anderen Gründen wie beispielsweise der Ankunft eines Patienten oder einer Patientin, der/die in der Theorie bessere Überlebenschancen hat. Eine solche Mutmaßung bleibt letztlich im Bereich einer Vermutung und Spekulation, und das können viele von uns bestätigen, die teilweise schon mehrfach im Falle schwerer Erkrankungen jegliche Überlebenschancen abgesprochen bekommen haben.
- Bei Zeile 17-19 liegt meiner Einschätzung nach ein Missverständnis deinerseits vor. Hier geht es uns eben um die *stille* Triage, wie sie beispielsweise in Belgien oder den Niederlanden stillschweigend bereits 2020 vorkam: Bestimmte Menschen wurden mit einer Corona-Erkrankung gar nicht erst ins Krankenhaus gebracht, obwohl sie krankenhauspflichtig gewesen wären – weil sie beispielsweise alt und gebrechlich waren oder weil sie bestimmte Behinderungen wie Trisomie 21 hatten. Das ist etwas gänzlich anderes als die Triage vor Ort im Krankenhaus, wenn gleichzeitig zu viele Patienten da sind, die nicht alle versorgt werden können. Deshalb haben wir auch den terminus technicus "Stille Triage" gewählt, der in der Debatte allgemein gebräuchlich ist.
Es wäre schön, wenn du anhand dieser Erläuterungen unserem Dringlichkeitsantrag dennoch unterstützen würdest.
Bernhard Pütz:
Nur als Ergänzung: Die Gebrechlichkeitsskala gilt nicht für Menschen mit Behinderung. Und sie soll auch nur ergänzend eingesetzt werden. Daher ist mir der völlige Ausschluss zu weitgehend.
Wenn eine Behandlung nur bei "Fehlen jeglicher Überlebenschancen" abgebrochen werden darf, dann gibt es im Endeffekt keine Triage. Das kann man wollen, aber ich würde dies nicht unterstützen.
Deine Ausführungen zur stillen Triage unterstütze ich, ich finde nur die Formulierung nicht ganz ideal.
Aber mein Hauptproblem bleibt Zeile 15-17. Eine Triage dient der Identifikation von Menschen, die in einer absoluten Notsituation deutlich bessere Überlebenschancen haben. Menschen die sicher sterben werden wird man da bereits von den Maschinen abgenommen haben, weil man auf Intensiv Leben verlängern möchte und nicht Leiden verlängern. Außerdem ist das ein Einfallstor für spätere Klagen, weil die Feststellung von "Fehlen jeglicher Überlebenschancen" rechtssicher kaum greifbar ist. Deshalb ist dies für mich h ein Ausschlusskriterium
Niko Stumpfögger:
Das Anliegen finde ich ganz richtig und deine Hinweise zur Gebrechlichkeit auch. Aber kannst du zum Ausschluss von Komorbiditäten noch antworten? Ich habe nicht verstanden, ob eine Triage (vor Ort im Krankenhaus) dann überhaupt möglich ist?
Annette Standop:
Niko Stumpfögger: