Veranstaltung: | 48. Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 16.10.2022 |
Eingereicht: | 16.10.2022, 18:24 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Für ein krisenfestes Land: Kritische Infrastruktur schützen und den Bevölkerungsschutz stärken
Beschlusstext
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt einen historischen Einschnitt in die
europäische Friedensordnung dar. Der Krieg geht mit unermesslichem menschlichem Leid einher.
Auch zivile Infrastrukturen sind massiven Attacken ausgesetzt. Die aktuellen und
schrecklichen Bilder haben uns noch einmal vor Augen geführt, wie verletzlich eine moderne
und vernetzte Gesellschaft ist. Gleichzeitig müssen auch wir feststellen, dass es zunehmend
Angriffe auf unsere Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) gibt. Diese beschäftigen uns seit
Jahren, nehmen aber derzeit in ihrer Intensität deutlich zu: Bereits im Frühjahr wurden
ungewöhnlich viele Angriffe auf die IT-Systeme von Unternehmen aus der Windkraftbranche
verzeichnet. Ende September wurden mit gewaltigen Sprengstoffanschlägen die Gas-Pipelines
von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 in der See vor Bornholm massiv beschädigt. Anfang
Oktober wurde mit zwei synchronisierten und professionellen Anschlägen auf
Kommunikationskabel der Deutschen Bahn der Zugverkehr in Norddeutschland zeitweise
großflächig lahmgelegt. All diese Ereignisse stehen in einem zeitlichen Zusammenhang. Sie
haben das Ziel, unsere Gesellschaft in einer von Krisen gekennzeichneten Zeit weiter zu
verunsichern. Sie stellen in ihren Auswirkungen eine neue Qualität dar und nutzen sowohl
digitale als auch physische Schwachstellen der Kritischen Infrastruktur aus. Die
entstandenen Schäden zeigen uns, dass auch bereits verhältnismäßig einfache Störaktionen,
wie die Durchtrennung der Kabel bei den Anschlägen auf die Bahn, eine große Wirkung
entfalten können.
Kritische Infrastrukturen sind die Lebensader einer jeden Gesellschaft. Dazu zählen z.B. die
Energieversorgung, die Kommunikation, der Verkehrsbereich oder das Gesundheitswesen. Der
Schutz Kritischer Infrastrukturen ist ein zentraler Baustein für ein krisenfestes Land. Die
Wehrhaftigkeit unserer Gesellschaft beweist sich auch auf diesem Gebiet. Leider zeigen die
Attacken auch, dass es um den Schutz von Kritischen Infrastrukturen in Deutschland trotz
jahrelanger Diskussionen, beispielsweise nach weitreichenden Angriffen auf den Deutschen
Bundestag, noch immer nicht besonders gut bestellt ist. Zentrale Risiken wurden viel zu
lange sträflich vernachlässigt und sicherheitspolitisch falsche Prioritäten gesetzt. Dabei
haben auch Naturkatastrophen oder andere Schadensereignisse immer wieder gezeigt, dass wir
unzureichend auf Ausfälle einzelner Systeme vorbereitet sind.
Auf die Notwendigkeit, diese Themen proaktiv anzugehen und gesellschaftliche Resilienz zu
erhöhen haben wir als grüne in den vergangenen Jahren immer wieder hingewiesen. Die
derzeitige Debatte um die mangelhafte Krisenfähigkeit unserer Gesellschaft und die
Erkenntnisse, die wir im Zuge der jüngsten Angriffe gewinnen konnten, machen deutlich, wie
notwendig es ist, die vielen, von uns Grünen hierzu im Koalitionsvertrag verankerten
Projekte entschlossen umzusetzen. Besonders mit Blick auf Kritische Infrastrukturen erleben
wir eine Verschränkung von innerer und äußerer Sicherheit. Deshalb ist der Schutz von
Kritischer Infrastruktur eine Herausforderung, die es innen- wie außenpolitisch zu
bewältigen gilt. Gerade jetzt ist es notwendig, dass Politik und Sicherheitsbehörden
kurzfristig Maßnahmen ergreifen, um Kritische Infrastrukturen zu schützen. Die Polizeien von
Bund und Ländern müssen wichtige Einrichtungen und z.B. Kontenpunkte von Kommunikation
verstärkt in den Blick nehmen. Dazu sind sie mit den entsprechenden Ressourcen auszustatten.
Die Spionageabwehr muss neu aufgestellt und ggf. gestärkt werden. Und wir brauchen neue
Strukturen zur Erkennung und Abwehr hybrider Bedrohungen. Die Zusammenarbeit in
Einrichtungen wie dem Nationalen Cyberabwehrzentrum muss nach klaren gesetzlichen Vorgaben
erfolgen. Aktive Cyberabwehr im Rahmen von Hackbacks schließen wir aus.
Jetzt ist es höchste Zeit zu handeln und entschieden kurz- und langfristig in unseren Schutz
und in gesamtstaatliche Resilienz zu investieren. Dazu gehört, dass wir dort, wo es
notwendig ist, redundante Rückfallebenen schaffen, damit bei Ausfällen oder Störungen nicht
gleich ganze Systeme ausfallen. Hierzu können z.B. getrennte Kommunikationsverbindungen
gehören. Digitale und physische Komponenten müssen viel stärker zusammen gedacht werden.
Heute sind Anforderungen an Kritische Infrastrukturen vor allem im Rahmen der IT-
Sicherheitsgesetzgebung formuliert. Diese ist jedoch nach Meinung vieler Expert*innen nicht
ausreichend. Anforderungen an den physischen Schutz geraten viel zu oft aus dem Blick.
Gleichzeitig sind Schwellenwerte teils so hoch angesetzt, dass selbst große Betreiber von
kritischen Einrichtungen durch das Raster fallen. Diese Lücken müssen dringend geschlossen
werden. Einen ganzheitlichen Rahmen zum Schutz wichtiger Infrastruktur soll ein „KRITIS-
Dachgesetz“ bilden, das alle kritischen Infrastrukturen abdeckt und ein Gesamtlagebild zu
erstellen erlaubt. Das Gesetz ist heute dringender denn je und muss umgehend auf den Weg
gebracht werden.
Die Zusammenarbeit von den unterschiedlichen Behörden, die mit dem Schutz Kritischer
Infrastrukturen betraut sind, muss ebenfalls dringend verbessert werden. Hierzu zählt
insbesondere eine bessere Vernetzung des Bundesamtes für Sicherheit in der
Informationstechnik (BSI), mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
(BBK). Die Zusammenarbeit der Behörden und Einrichtungen muss auf klare Rechtsgrundlagen
gestellt werden und insbesondere die Arbeit des BSI unabhängiger von politischer Weisung
sein, damit es seinen Aufgaben nachkommen kann. Hierzu zählen insbesondere das schnelle und
konsequente Schließen von Sicherheitslücken in IT-Systemen und ein wirksames
Schwachstellenmanagement. Eine kohärente digitale Strategie zum Schutz von IT-Systemen darf
nicht akzeptieren, dass Sicherheitslücken nicht geschlossen werden. Ebenso sind dafür mehr
und höhere Standards in Bezug auf IT-Sicherheit notwendig. Auch die Polizeibehörden und
Nachrichtendienste müssen hier einen Paradigmenwechsel einleiten und stehen in
gesamtgesellschaftlicher Verantwortung.
Die kürzlich vom Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) vorgelegte
Cybersicherheitsstrategie wird diesem Anspruch bisher nicht gerecht. Daher kommt es nun im
besonderen Maße darauf an, dass die Nationale Sicherheitsstrategie, die derzeit unter
Federführung des Auswärtigen Amtes erarbeitet wird, sowohl diese Aspekte berücksichtigt, als
auch Cyberaußenpolitik.
Insgesamt müssen wir weg von einer noch immer rein reaktiven IT-Sicherheitspolitik, die
diejenigen, die Opfer eines Angriffs geworden sind, noch bestraft. Was es braucht sind
proaktive Strategien, die diejenigen, die von sich aus in gute IT-Sicherheit investieren
wollen, hierbei unterstützen – auch finanziell.
Neben echten Investitionen zur Krisenprävention müssen wir auch die verbesserte Bewältigung
von Schadenslagen in den Blick nehmen. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem
Bevölkerungsschutz, also dem Zivil- und Katastrophenschutz, zu. Eine gute Vorbereitung hilft
im Ernstfall, Schäden abzuwenden oder zu verringern.
Die vergangenen Jahre haben wiederholt gezeigt, dass bei großflächigen oder besonderen
Schadenslagen die Fähigkeiten der Länder an Grenzen stoßen können. Ein Beispiel hierfür sind
die Hochwasserkatastrophe im vergangenen Jahr, aber auch die Brände im Sommer dieses Jahres.
Dieser Umstand ist für den Ausfall von Kritischen Infrastrukturen von besonderer Bedeutung.
Eine gute und länderübergreifende Koordination von Hilfsmaßnahmen kann dabei helfen, Schäden
abzuwenden. Deutschland verfügt mit seinem guten Netz an Behörden und Organisationen sowie
rund 1,7 Millionen Freiwilligen im Bevölkerungsschutz im gesamten Land über große Ressourcen
und viel Expertise. Damit Hilfe im Ernstfall schnellstmöglich zur Verfügung steht, müssen
Lageinformationen und Fähigkeiten besser erfasst und koordiniert werden. Die Neuausrichtung
des BBK sowie die Einrichtung einer Zentralstelle sind hierfür von besonderem Gewicht. Das
im BBK existierende Gemeinsame Lagezentrum (GMLZ) ist entsprechend auszubauen. Das
gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz (GeKoB) muss so ausgebaut werden, dass es
aktuelle Informationen zum Bevölkerungsschutz aus den Ländern zusammenführt und so in einer
Krise die Bewältigung aktiv unterstützen kann. Dafür sind die gesetzlichen und finanziellen
Voraussetzungen jetzt zu schaffen.
Eine nachhaltige Stärkung des BBK ist auch notwendig, damit das Amt seine Aufgabe als
oberste Zivilschutzbehörde besser wahrnehmen kann. Aktuell kann das BBK dieser Aufgabe kaum
gerecht werden. Der Schutz der Zivilbevölkerung im Spannungs- und Verteidigungsfall gehört
zu den obersten Pflichten eines jeden Staates. Die militärische und zivile Verteidigung
steht in einem direkten Zusammenhang. Sie müssen als Gesamtverteidigung begriffen werden.
Die sicherheitspolitische Debatte hat diesen Umstand bisher noch nicht ausreichend
berücksichtigt und vor allem wurden bisher nicht genügend finanzielle Mittel zur Verfügung
gestellt. Dabei macht sich jeder in den Zivilschutz investierte Euro bezahlt und steht auch
für andere Gefahrenlagen zur Verfügung: Die Warnung der Bevölkerung durch den Aufbau eines
umfassendes „Warnmixes“ mit Cell-Broadcasting, Apps oder Sirenen. Die Unterbringung und
Versorgung von geflüchteten Menschen. Der Aufbau mit Versorgungskapazitäten von Trinkwasser
oder Notstrom. All diese Vorhaltungen helfen uns auch bei Naturkatastrophen oder anderen
Schadensereignissen.
Die vielleicht wichtigste Lehre aus den großen Katastrophen der vergangenen Jahre ist, dass
Krisenszenarien regelmäßig über Ressort- und Ländergrenzen hinweg geübt werden müssen. Nur
so kann eine bessere Verzahnung gelingen und Investitionen Früchte tragen. Dabei müssen
Übungen von der Bundesebene bis in die Kommunen reichen und praktische Fähigkeiten
aufgreifen. Nur so können Fehler erkannt und Fähigkeitslücken geschlossen werden.
Die wichtigste Säule im Bevölkerungsschutz stellen die zahlreichen freiwilligen Helfer*innen
der Hilfsorganisationen, der Feuerwehren und des Technischen Hilfswerks (THW) dar. Ihnen
gilt unser Dank und unsere Anerkennung. Wir müssen dieses ehrenamtliche Engagement weiter
pflegen und fördern. Im Koalitionsvertrag sind hierzu zahlreiche Maßnahmen vorgesehen, die
nun mit Nachdruck vom BMI umgesetzt werden müssen. Hierzu zählt ein Ehrenamtskonzept oder
die Helfer*innengleichstellung. Wir müssen auch die digitale Kompetenz der Freiwilligen
stärker in den Bevölkerungsschutz einbringen. Der Aufbau eines „Cyberhilfswerkes“ beim THW
ist ein wichtiges Element, das wir in der Ampelkoalition bereits angestoßen haben. Das
„Cyberhilfswerk“ muss nun zügig aufgebaut und zusammen mit den Freiwilligen stetig
weiterentwickelt werden. Zu den möglichen Aufgaben könnten beispielsweise Hilfeleistungen
beim Zusammenbruch von IT-Systemen oder der Kommunikation gehören. Das digitale Ehrenamt
wollen wir weiter stärken.
Neben den Menschen, die freiwillig in den Blaulichtorganisationen engagiert sind, müssen wir
die Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung stärken. Das Auftreten multipler Krisen führt bei
vielen Menschen zu Verunsicherung. Eine sachliche Auseinandersetzung kann Ängste abbauen und
die Souveränität der Menschen steigern. Gleichzeitig stärkt sie das Gefühl für gemeinsame
Handlungsfähigkeit und Verantwortung. Die Vermittlung von grundlegenden
Selbsthilfefähigkeiten muss stärker Einzug in Bildungseinrichtungen und Arbeitsstätten
finden.
Bedrohungslagen und Katastrophen machen nicht an Ländergrenzen halt. Daher müssen wir den
Bevölkerungsschutz noch stärker europäisch denken und Instrumente, wie das europäische
Katastrophenschutzverfahren sowie die europäische Katastrophenschutzreserve „rescEU“,
stärken. Sie sind Ausdruck gelebter europäischer Solidarität. Deutschland hat die Ukraine
frühzeitig mit Nothilfemaßnahmen unterstützt und z.B. medizinisches Material, Ausrüstung
oder Fahrzeuge geliefert. Auch werden Menschen mit Kriegsverletzungen in Deutschland
behandelt. Das BSI hat bei der Analyse und Abwehr von IT-Angriffen unterstützt. Dieses
Engagement müssen wir fortführen und wenn nötig stärken. Aber auch Deutschland kann auf die
Hilfe unserer europäischen Freund*innen angewiesen sein. Dies wurde beispielsweise im Zuge
des jüngsten Waldbrandes im Harz deutlich, bei dem wir vielfältige Unterstützung, unter
anderem durch Löschflugzeige aus Italien, erfahren haben.
Die Zusammenarbeit im Bevölkerungsschutz müssen wir auch auf den Schutz von Kritischen
Infrastrukturen übertragen. Egal ob das Strom- und Gasnetz, Telekommunikationsnetze und
Unterseekabel oder länderübergreifende Verkehrswege sind. Sie alle sind gemeinsame zivile
europäische Infrastruktur, die wir gemeinsam schützen müssen. Angriffe hierauf müssen
geächtet werden. Gerade die Zunahme von hybriden Gefahren und das Verschwimmen der Grenzen
von privaten und staatlichen Akteur*innen machen eine noch intensivere Zusammenarbeit
notwendig. Ländern wie Russland muss Europa und die internationale Staatengemeinschaft
glaubhaft und entschiedenen entgegentreten, wenn sie die Integrität dieser Systeme
verletzten.