Veranstaltung: | 48. Bundesdelegiertenkonferenz |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | FS Wertegeleitet, multilateral, handlungsfähig: grüne Friedens- und Sicherheitspolitik in der Zeitenwende |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 15.10.2022 |
Eingereicht: | 15.10.2022, 17:37 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Sofortige unbürokratische und umfassende humanitäre Hilfe für die Binnenvertriebenen in der Ukraine
Beschlusstext
Flucht und Vertreibung sind für die Menschen in der Ukraine leider nicht neu. Seit dem
Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine im Jahr 2014, der Besetzung der Krim und von
Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk hatten bereits 2 Millionen Menschen ihre Heimatorte
verlassen müssen. Nach der Kriegserklärung im Februar 2022 und dem Beginn eines
flächendeckenden Angriffs auf die Ukraine durch die russische Armee sind die Zahlen
flüchtender Menschen in die Höhe geschossen.
Rund 14 Millionen Menschen, ein Drittel der Bevölkerung, sind auf der Flucht. Millionen
suchen Schutz in den Nachbarländern, sieben Millionen Menschen wurden zu Binnengeflüchteten
innerhalb der Ukraine. Laut UNHCR handelt es sich derzeit um die größte Vertreibungskrise
der Welt. (https://www.unhcr.org/ua/en/internally-displaced-persons).
Jede zweite vertriebene Familie hat Kinder, 30 Prozent der Vertriebenen sind krank, haben
eine Behinderung oder sind ältere Menschen.
Wegen der noch zunehmenden Luftangriffe und wegen des dauerhaften Beschusses entlang der
Frontlinie werden es täglich mehr Menschen, die flüchten. Das UNHCR schätzt die Zahl jener,
die in den umkämpften Gebieten festsitzen oder diese aufgrund erhöhter Sicherheitsrisiken,
der Zerstörung von Brücken und Straßen sowie des Mangels an Ressourcen oder Informationen
nicht verlassen können, auf 13 Millionen Menschen! Die ukrainische Regierung hat in den
letzten Wochen mit Evakuierungen aus stark umkämpften Regionen begonnen. Es ist zu erwarten,
dass der Winter und Probleme bei der Versorgung die Fluchtbewegungen verstärken werden, denn
mit Stand 27. August 2022 sind laut offiziellen Zahlen 129.900 Wohnhäuser, 2.321
Bildungseinrichtungen, 903 Krankenhäuser, 2.768 Objekte ziviler Infrastruktur stark
beschädigt oder zerstört worden. Rund eine Million Menschen haben gar keinen Zugang zu
Wasser mehr, 4,6 Millionen nur noch einen beschränkten.
Selbst wenn die Invasion morgen enden würde – Millionen haben keine Bleibe und leiden unter
sehr schlechte Lebensbedingungen.
Die flüchtenden Menschen zieht es in die Gebiete, die weniger angegriffen werden und in
denen Raketen aufgrund ihrer längeren Flugzeit besser abgefangen werden können. Viele
flüchten zum zweiten Mal oder schon zum dritten Mal vor den russischen Angriffen, nachdem
sie nach 2014 und auch jetzt wieder oft in der Nähe ihrer Heimat im Osten oder Süden der
Ukraine geblieben sind. So wird im Westen der Ukraine zum Herbst und Winter mit Millionen
Binnenvertriebenen gerechnet.
Regionen wie zum Beispiel der Oblast Iwano-Frankiwsk haben bis jetzt (August 2022) rund
150.000 Menschen aufgenommen. Damit sind schon jetzt 10 Prozent aller Menschen dort
Geflüchtete. Allein für den September werden in Iwano-Frankiwsk 220.000 weitere Geflüchtete
erwartet. Der benachbarte Oblast Transkarpatien hat allein 155.000 Binnengeflüchtete
offiziell registriert - bei 1,2 Millionen Einwohner*innen. Der westlichste Oblast Lviv hat
gar 248.000 Binnenvertriebene aufgenommen– bei 1,3 Millionen Einwohner*innen, der Oblast.
Noch größer sind zurzeit die Zahlen für Regionen im Osten, wie zum Beispiel Dnipro, die
allerdings auch immer wieder Ziel russischer Angriffe sind. Die ukrainische Regierung bemüht
sich um eine Evakuierung der Menschen aus den Regionen in der Nähe der Frontlinie.
In den Städten und Oblasten leisten Bürger*innen, Verwaltung und die organisierte
Zivilgesellschaft Großartiges: Sie helfen und spenden, nehmen die Menschen privat auf. Sie
räumen Hörsäle, Turnhallen und Verwaltungsgebäude, um die Menschen unterzubringen. Doch das
wird nicht reichen. Erhebungen zeigen, dass die meisten Binnengeflüchteten in
Bildungseinrichtungen (Schulen, Kindergärten) bzw. in Sanatorien oder Erholungsheimen
untergebracht wurden, die für einen langfristigen Aufenthalt ungeeignet sind. Zugleich
wachsen nach den Sommerferien Probleme, weil Binnenvertriebenen aus provisorischen Schulen
ausziehen müssen, weil die Schüler*innen mit dem neuen Schuljahr zum Unterricht zurückkehren
sollen.
Bald wird es nicht mehr möglich sein, Menschen in bestehende Gebäude unterzubringen, weil
sie belegt sind. Um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, muss das Land sofort und
effektiv bei der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Menschen unterstützt werden, die
innerhalb der Ukraine auf der Flucht sind.
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich dafür ein, dass den flüchtenden Menschen aus der Ukraine
weiter Aufnahme und Schutz in der EU ermöglicht wird. Wir wissen aber von Besuchen in der
Ukraine und aus vielen Berichten, dass sehr viele Ukrainerinnen und Ukrainer trotz Flucht im
Land bleiben wollen, auch, weil sie ihre Söhne, Männer, Väter und Brüder im wehrpflichtigen
Alter zurücklassen müssten. Doch dafür müssen bessere Bedingungen geschaffen werden. Denn
die Familien werden ihre Frauen und Kinder darauf drängen, das Land zu verlassen, wenn das
Überleben immer schwieriger wird. Die Ukraine selbst kann die Kosten für Unterbringung und
Lebensmittelversorgung nicht mehr alleine stemmen.
Umgehend müssen Möglichkeiten zur Unterbringung geschaffen werden. Dazu gehören schnell zu
errichtende Notunterkünfte, winterfeste Zelte, Generatoren, Heizgeräte und Ausrüstung zur
Wasseraufbereitung. Dringend gebraucht werden an bestehenden zentralen Unterkünften mobile
Küchen. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln, Betten, Decken und Kleidung muss
flächendeckend sichergestellt werden. Angefragt werden von Helfern vor Ort auch immer wieder
Sanitätswagen und Ausrüstung für medizinische Notfallversorgung. Für die Aufrechterhaltung
des Schulunterrichts ist die technische Ausstattung von Lehrkräften und Schüler*innen für
den Onlineunterricht zu gewährleisten.
Die bessere Ausrüstung und Ausbildung der ukrainischen Armee zur Verteidigung der
Unabhängigkeit des Landes ist unbedingt notwendig. Sie muss ab sofort einhergehen mit
ehrgeizigen Anstrengungen in der humanitären Hilfe in den Zentren der Flucht in der Ukraine.
Das Auseinanderreißen von Familien und eine weitere Vertreibung der Menschen aus ihrem Land
muss und kann verhindert werden.
Wir GRÜNE setzen uns für eine sofortige, kontinuierliche und umfangreiche humanitäre Hilfe
für die Geflüchteten in der Ukraine, in Deutschland und EU ein. Noch vor dem Einbruch des
Winters muss die Ukraine logistisch, personell und vor allem finanziell in die Lage versetzt
werden, angemessene und bedarfsgerechte Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. Es braucht
umgehend ein sofortiges Programm für humanitäre Hilfslieferungen und die
Wiederinstandsetzung kritischer ziviler Infrastruktur.
Als Grüne setzen wir uns zudem für die Unterstützung des kurz-, mittel- und langfristigen
Wiederaufbaus der Ukraine ein. Auseinandersetzungen über Zukunftsperspektiven sowie die
Verknüpfung von Wiederaufbau und Europäischer Integration aber dürfen dabei die kurz- und
mittelfristige Bedarfe nicht überlagern. Sie haben höchste Priorität. Hierzu muss
Deutschland auf allen Ebenen, europäisch und global, beispielsweise über die Einberufung
einer Geberkonferenz aktiv werden, um weitere humanitäre Krisen in der Ukraine zu
verhindern.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die sich nicht aus ihrem Heimatland vertreiben
lassen wollen, in ihrem Land den nächsten Winter sicher und unbeschadet überstehen können.
Die internationalen Initiativen zum Wiederaufbau der Ukraine sind wichtig. Sie schaffen
Perspektiven. Aber auf die akute Not der Binnenflucht muss jetzt reagiert werden. Die EU,
ihre Mitgliedstaaten und die internationalen Organisationen müssen sich gemeinsam dieser
akuten Not stellen und zur Abhilfe Sofortprogramme beschließen. Dank der
Dezentralisierungsreform sind in den Rathäusern, der Verwaltung und der Zivilgesellschaft
verlässliche regionale und lokale Strukturen entstanden, die eine Voraussetzung für eine
gute Kooperation sind.
Noch können wir den Menschen vor Ort helfen.