Nach einer Legislaturperiode in Regierungsverantwortung ist klar, wie wichtig die Position der Vorsitzenden als Vertretung der Parteimitglieder ist - und welche Fallstricke sich für diese Vertretung mit einer Verbindung insbesondere zur Regierungsfraktion auftun.
Mitglieder einer Fraktion vertreten Interessen der Wählenden und Kompromisse mit anderen Fraktionen, insbesondere in einer Koalition. Sie sind aus guten Gründen unabhängig von der Partei und nicht weisungsgebunden. Parteivorsitzende werden von den Parteimitgliedern gewählt, um ihre Interessen zu vertreten. Sie führen die Partei nach Entscheidungen der Bundesdelegiertenkonferenz und des Länderrats. Die Partei ist unabhängig von den Fraktionen und betrachtet ihre Werte und Beschlüsse allein unter ihrer grünen politischen Vision. Wir wählen als Mitglieder unsere Vorstände, um unser Recht auf Vertretung auszuüben.
Sind Vorsitzende auch der Fraktion angehörig, werden auch ihre Handlungen und Aussagen als Vertretung der Partei im Kontext der Fraktion bewertet: Sie werden in der Öffentlichkeit absichtlich oder unabsichtlich auch als Meinungsvertretung der Fraktion gesehen. Das ist gerade dann der Fall, wenn zur Regierung oder Fraktion konträre Meinungen vertreten werden müssen. Gleichzeitig stehen sie dadurch häufig vor einem Loyalitätskonflikt zur Fraktion oder zur Partei. Die Folge kann der Eindruck einer zerstrittenen Fraktion und Regierung sein. Die Folge kann auch sein, dass deswegen Meinungen der Parteimitglieder nicht mehr öffentlich vertreten werden.
Wir GRÜNEN leben unsere politische Arbeit als Diskussion miteinander. Unsere Beschlüsse sind Ergebnisse dieses Verständnisses von Meinungsbildung. Sie sind unabhängig von Parlamenten und Regierungen und können dieser daher auch widersprechen.
Umso wichtiger ist es dann, mit unseren parlamentarischen Vertretungen in den Diskurs gehen zu können. In unserer Diskussionskultur ist dies kein Misstrauensvotum gegen die Entscheidungen oder Meinungen von Abgeordneten, sondern gelebte Offenheit, die die besten Ergebnisse erzielt. Als Partei schätzen wir die Vielfalt von Perspektiven und Meinungen.
Frei von einem Loyalitätskonflikt sind Vorsitzende freier in unserem Einsatz für eine nachhaltige Zukunft und freier in der Verbindung zu unseren Bündnispartner*innen. Sie können Schlaglichter auf Themen werfen, die nicht im Regierungsalltag oder -fokus stehen, und diese Diskussionen führen. Sie ermöglichen, in einer Debatte auch eine rein grünen Perspektive zu vertreten, wodurch Abgeordnete frei sind, die Umsetzungsmöglichkeiten in einer Koalition zu vertreten.
Sind beide Vorsitzende in dieser Doppelrolle von Partei- und Wählendenvertretung, ist dieser Diskurs unnötig erschwert. Daher sollten wir sicherstellen, dass auch in Regierungsverantwortung mindestens eine Stimme sich frei von anderen Kontexten für die Partei äußern kann.
-- Dieser Antrag steht in Verbindung mit einem Antrag zu §32: Inkrafttreten der Änderung erst zur nächsten Neu- oder Nachwahl des Bundesvorstandes, da wir uns mitten in einer Amtsperiode befinden und ein sofortiges Inkrafttreten zu hohem organisatorischen Aufwand führt, während wir unsere Kapazitäten für den Bundestagswahlkampf brauchen --