Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Kathrin Weber (KV Bielefeld) und 117 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 46%) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 04.10.2024, 07:31 |
V-72: Die Biodiversitätskrise endlich ernst nehmen – Überragendes öffentliches Interesse für Natur- und Artenschutz!
Antragstext
Die Biodiversitätskrise, die von einigen Wissenschaftlern, u.a. vom Stockholm
Resilience Centre, sogar als gefährlicher für das Überleben der Menschheit
eingeschätzt wird, als die Klimakrise, schreitet seit Jahren immer schneller
fort, auch hier in Deutschland. Sie ist eine stumme Krise, die von vielen
Menschen nicht bemerkt wird und vielleicht deswegen auch in der Politik auf
Bundesebene unterrepräsentiert ist. Es wird daher beantragt, dem Natur- und
Artenschutz, entgegen den bisherigen gegenläufigen Entwicklungen, ein
überragendes öffentliches Interesse zuzuerkennen, und damit ein deutliches,
grünes Zeichen für den Erhalt einer lebenswerten Welt mit einer lebendigen und
vielfältigen Natur zu setzen.
Begründung
Begründung:
„Der Klimawandel entscheidet darüber, wie wir leben. Die Biodiversitätskrise entscheidet darüber, ob wir überleben.“ (Prof. Dr.Katrin Böhning-Gaese). Klimawandel und Biodiversitätskrise, beide Krisen sind menschengemacht, beide Krisen haben eine gemeinsame Ursache – das immer stärkere Eingreifen des Menschen in die Natur, das Energie und Ressourcen verbraucht, Flächen entwertet und zerstört, und der Natur im Fall der Biodiversitätskrise vor allem auch den qualitativ geeigneten Platz nimmt, den sie bräuchte, um sich zu regenerieren und damit vielfältiges Leben zu ermöglichen.
Die Biodiversitätskrise ist die Krise der Vielfalt des Lebens auf dieser Erde, was Genetik, Arten und Lebensräume angeht. Ihre Dramatik ist deutlich, die Zahlen sind unstrittig. Über 70% der Insektenbiomasse sind verschwunden. Über 300 Millionen Singvögel sind im ländlichen Raum Europas seit 1980 verloren gegangen. 70% der Wirbeltiere, d.h. Reptilien, Amphibien, Vögel und Säugetiere sind in den letzten 50 Jahren weltweit vernichtet worden. Jeden Tag sterben 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Wir können uns des größten Massensterbens seit dem Aussterben der Dinosaurier rühmen. Dabei wurden die der Biodiversität zugehörigen planetaren Grenzen schon vor langer Zeit überschritten[1]. Der Klimawandel verstärkt die Biodiversitätskrise zunehmend, wird aber auch von ihr verstärkt.
Deutschland ist von der Biodiversitätskrise nicht ausgenommen, in unserem dicht besiedelten Land werden die geeigneten Flächen für bedrohte Tierarten immer weniger, und große Teile der nicht-alpinen Lebensräume, insbesondere die Offenlandschaften, sind schon in einem schlechten Zustand. Und trotzdem: Weniger als 1% der Gebiete sind bis jetzt streng geschützt. Etliche Klagen der europäischen Kommission sind uns anhängig, weil wir Anforderungen im Natur- und Artenschutz nicht erfüllen[2]. Die roten Listen der Länder enthalten von Mal zu Mal mehr bedrohte Arten, bei denen klar wird, dass wir, mit unserer Art, Landschaft und Flächen für unsere Zwecke zu überplanen, an ihrem so sehr erschwerten Überleben schuld sind[3].
Die Gefahr wegbrechender Ökosystemdienstleistungen sollte aber eigentlich jeden Volkswirt erblassen lassen: Sauberes Wasser, gesunde Luft, fruchtbare Böden, gesunde Nahrungsmittel, aber auch Grün, wo wir uns erholen können – das ist letztendlich unschätzbar, wenn es um einen allgemeinen Wohlstand geht. Dabei geht es jedoch um mittel- bis langfristige Entwicklungen und nicht um sofortige wirtschaftliche Erfolge. Viel zu wenige Verantwortung tragende Menschen leihen der Biodiversitätskrise daher ihre Stimme, auch wenn der Wunsch vieler Menschen nach Natur groß ist, gerade auch in Zeiten von Krisen.
Die Grünen haben sich in den letzten Jahren vorrangig für technischen Klimaschutz eingesetzt, der die Probleme des Biodiversitätsverlustes nicht löst. Zwar wurde auch das sehr wertvolle "Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz" in Angriff genommen und jetzt in Kraft gesetzt. Aber es wurden ebenso Naturschutzgesetze geschwächt, Verbändebeteiligung reduziert, Brachflächen verringert, Pestizide aber weiter zugelassen und Ansiedlungen von Industrie und industrieähnlichen Bauten auf der grünen Wiese gefördert.
Der Schaden, der in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Schwächung von Natur- und Artenschutz verursacht wurde, kann nicht so einfach aufgewogen werden. Es wurde, wie der Nabu-Bundesverband es schon 2022 befürchtete, dadurch eine argumentative Bresche geschlagen, in die nun ganz andere Interessenvertreter hineinspringen, und über die sich konservative zukünftige Regierungen, denen der Natur- und Artenschutz noch weniger am Herzen liegt, freuen werden. Dass im Übrigen durch die viel zu geringe Berücksichtigung des Artensterbens auch die treuesten Unterstützer der Grünen, die Umweltverbände und Menschen, die die ökologische Dreifachkrise ernst nehmen, mehr als verärgert wurden, wurde in Kauf genommen. Viele Wähler*innen aus dem Bereich der Umweltverbände sind deswegen zu Kleinstparteien gewandert oder wählen gar nicht mehr.
Mit der Anerkennung von Natur- und Artenschutz als überragendem öffentlichen Interesse vollziehen wir den notwendigen Kurswechsel: Wir übernehmen Verantwortung und setzen damit politische Maßstäbe auch für andere Parteien. Wir nehmen wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso ernst, wie den Wunsch vieler Menschen nach intakter Natur. Wir nehmen die planetaren Grenzen ernst, indem wir Grenzen setzen und ressourcen-, flächen-, energiesparendes und vor allem regionales, auch für die Region wertschöpfendes Wirtschaften fördern. Und wir kümmern uns um das, was wir seit Gründung der Partei wollten: Eine lebenswerte Welt schaffen.
[2] Hier wird auf vier Klagen verwiesen, die auch in der Presse ihren Widerhall fanden: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/verstoesse-gegen-naturschutz-eu-kommission-verklagt-deutschland-a-21cb08f3-cc22-4447-a86e-c4b5da5c8b15