Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Daniel Eliasson (KV Berlin-Steglitz/Zehlendorf) und 88 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 46%) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 04.10.2024, 11:00 |
V-84: Die Eskalationsspirale durchbrechen - Komplexität und Verantwortung im Nahostkonflikt und in der Nahost-Debatte in Deutschland.
Antragstext
In Deutschland erleben wir gegenwärtig, wie der Nahostkonflikt auch hier zu
intensiven Debatten führt und das gesellschaftliche Klima beeinflusst. Die
Auseinandersetzungen sind oft von starken Emotionen geprägt und bergen die
Gefahr, bestehende gesellschaftliche Spannungen zu verstärken. Die Anschläge vom
7. Oktober 2023 haben in Deutschland zu Recht großes Entsetzen hervorgerufen und
uns als Gesellschaft daran erinnert, dass die Sicherheit von Jüdinnen und Juden
nie selbstverständlich ist und Tag für Tag erkämpft werden muss. In diesem
Zusammenhang bekennen wir uns klar zum Existenzrecht Israels, das eine
grundlegende Voraussetzung für die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft
weltweit und den Schutz vor antisemitischen Übergriffen darstellt. Dieser
Angriff hat Jüdinnen und Juden weltweit – und damit auch Hunderttausende
Menschen in Deutschland – in Angst versetzt. Gleichzeitig leben in Deutschland
ebenfalls Hunderttausende Menschen mit familiären, freundschaftlichen und
emotionalen Verbindungen in die palästinensischen Gebiete und die gesamte
umliegende Region. Sie sorgen sich genauso um ihre Angehörigen und Freunde im
Gazastreifen, in der Westbank und im Libanon, sie empfinden Trauer um die Opfer
der Angriffe und bangen um ihre Liebsten.
Unsere vielfältige Gesellschaft ist damit in vielerlei Hinsicht tief verwoben
mit dem Schmerz und dem Leid dieser Region. Es ist daher unerlässlich, diesen
Schmerz in all seinen Facetten anzuerkennen und ihm Raum in der Öffentlichkeit
zu geben – unabhängig davon, ob er aus einer jüdischen, palästinensischen oder
anderen Perspektive empfunden wird, unabhängig davon, wie wir politisch auf die
zugrunde liegenden Konflikte blicken. Ein Blick auf den Libanon zeigt uns, wie
eine Gesellschaft, die durch Vielfalt geprägt ist, auch durch Konflikte
zerrissen werden kann. Es bleibt unsere gemeinsame Aufgabe, aufeinander
zuzugehen, Brücken zu bauen und auch in schwierigen Zeiten Raum für
gegenseitiges Verständnis zu schaffen.
Als Bündnis 90/Die Grünen möchten wir unserer Verantwortung gerecht werden und
einen Beitrag dazu leisten, dass unterschiedliche Perspektiven gehört und
respektiert werden. Wir stehen für eine Politik, die auf den Grundwerten der
Menschenrechte, des Völkerrechts und der Demokratie basiert. Es geht darum,
Räume zu schaffen, in denen ein offener und konstruktiver Austausch möglich ist
— ohne Vorurteile und Ausgrenzung.
Wir sehen die Notwendigkeit, einen Umgang mit dem Nahostkonflikt zu entwickeln,
der der Komplexität der Situation gerecht wird und zugleich unsere eigenen
gesellschaftlichen Herausforderungen berücksichtigt. Durch Förderung von
interkulturellem und interreligiösem Dialog wollen wir Brücken bauen und
Radikalisierungstendenzen entgegenwirken. Bildung und Aufklärung spielen dabei
eine zentrale Rolle, um Verständnis zu fördern und Vorurteile abzubauen.
Unser Ziel ist es, auch hier durch respektvollen Dialog und Zusammenarbeit
Lösungen zu erarbeiten. Indem wir auch hier den gesellschaftlichen Zusammenhalt
in den Mittelpunkt stellen, können wir zu einer friedlicheren und gerechteren
Zukunft beitragen.
1. Klare Haltung im Nahostkonflikt und Förderung des gesellschaftlichen Dialogs:
Wir bekennen uns zu einer differenzierten, völkerrechtsbasierten und
menschenrechtsorientierten Positionierung im Nahostkonflikt. Wir setzen uns
dafür ein, dass in Deutschland Räume geschaffen und erhalten werden, die einen
offenen, respektvollen und konstruktiven Dialog zwischen verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung,
Radikalisierungstendenzen entgegenzuwirken und den gesellschaftlichen
Zusammenhalt zu stärken. Dies beinhaltet die Förderung von Initiativen, die den
interkulturellen und interreligiösen Austausch unterstützen und Vorurteile
abbauen. Auch öffentliche Räume wie Bürgerhäuser, Theater und Hochschulen müssen
diesen Dialog ermöglichen.
2. Für Frieden und Gerechtigkeit - Ablehnung von Gewalt, Forderung nach
Deeskalation und Stärkung humanitärer Hilfe:
Wir verurteilen entschieden die grausamen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober
2023, die durch wahllose Gewalt gegen Zivilist*innen in Israel, durch Morde und
Entführungen gekennzeichnet waren. Wir fordern die internationale Gemeinschaft
eindringlich auf, die Hamas zur Rechenschaft zu ziehen und dringen auf die
sofortige Freilassung aller Geiseln aus ihren Händen. Das
Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen beobachten wir jedoch mit
großer Besorgnis und unterstützen ausdrücklich eine unabhängige Untersuchung
möglicher
Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, zumal die israelische Regierung
eine unabhängige Aufarbeitung des Hamas-Angriffs und des darauf folgenden
Krieges blockiert. Die fortgesetzte Siedlungspolitik und die Besatzung der
Westbank sowie die Gewalt durch radikale Siedler*innen gegen palästinensische
Zivilist*innen müssen sofort beendet werden, da sie nicht nur völkerrechtswidrig
sind, sondern auch ein Hindernis für den Frieden in der Region darstellen. Die
gegenwärtige Politik der israelischen Regierung gefährdet die langfristige
Sicherheit der israelischen Bürger*innen, da sie zu einer Eskalation der Gewalt
beiträgt und die Chance auf eine dauerhafte Friedenslösung untergräbt.
Anhaltende Sicherheit für Israelis wird
nur möglich sein, wenn es auch anhaltende Sicherheit für Palästinenser*innen
gibt, und umgekehrt. Daher geben wir die Suche nach einer politischen Vision
nicht auf, in der beide Völker friedlich Seite an Seite in zwei Staaten leben.
Angesichts der akuten humanitären Krise im Gazastreifen ist die sofortige
Bereitstellung umfassender Hilfe von größter Dringlichkeit. Die UNRWA leistet
durch ihre Arbeit in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale
Dienste einen unverzichtbaren Beitrag. Es gibt derzeit keine
Alternativstrukturen, die diese Aufgaben übernehmen können. Ein Ende oder eine
Unterfinanzierung der UNRWA würde zur Destabilisierung der gesamten Region
führen und auch wichtige Partner wie Jordanien beeinträchtigen. Wir setzen uns
nachdrücklich für eine angemessene Finanzierung der UNRWA ein. Gleichzeitig ist
es entscheidend, die Organisation vor extremistischen Einflüssen zu schützen und
ihre Integrität zu wahren. Wir setzen uns deshalb entschieden dafür ein, die
Kontrollmechanismen und Einstellungsprozesse innerhalb der UNRWA weiter zu
verbessern, um die Integrität der Organisation zu stärken und sie vor
unerwünschten Einflüssen zu schützen.
3. Verteidigung der völkerrechtsbasierten Ordnung und internationaler
Institutionen:
Wir bekräftigen unser Bekenntnis zu einer Politik, die fest auf den Grundwerten
der universellen Menschenrechte, der Demokratie und des Völkerrechts basiert.
Die Vereinten Nationen und deren Institutionen, insbesondere der Internationale
Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof, sind zentrale Säulen einer
völkerrechtsbasierten Ordnung und müssen von uns gegen Angriffe verteidigt
werden. Wir verpflichten uns, in unserer Außenpolitik eine faktenbasierte,
menschenrechtsorientierte und regelbasierte Herangehensweise zu verfolgen, um
den Frieden und die Freiheit in Gegenwart und Zukunft zu bewahren.
4. Differenzierte Definition von Antisemitismus:
Antisemitismus bedroht uns alle – er vergiftet das gesellschaftliche
Miteinander, untergräbt die Grundlagen von Demokratie und Menschenrechten, das
Fundament für unser Zusammenleben in Deutschland und unsere historische
Verantwortung für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden, der wir gerecht werden
wollen und müssen. Aus diesem Grund setzen wir uns entschlossen gegen jede Form
von Antisemitismus ein. In einer Zeit, in der Hass und Ausgrenzung zunehmen, ist
es unsere gemeinsame Aufgabe, antisemitischen Tendenzen aktiv entgegenzutreten
und sie klar zu benennen. Um dieses Ziel wirksam zu verfolgen, sprechen wir uns
für eine differenzierte Handhabung von Antisemitismusdefinitionen aus. Die nicht
rechtsverbindliche Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International
Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) ist international weit
verbreitet. Wir sehen aber die Notwendigkeit, auch weitere Definitionen wie die
Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) oder das Nexus-Dokument zu
berücksichtigen. Diese ermöglichen es besser, zwischen antisemitischen Aussagen
und legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik klar zu
unterscheiden, ohne antisemitische Tendenzen zu verharmlosen oder die
Meinungsfreiheit unangemessen einzuschränken.
5. Schutz der Wissenschaftsfreiheit:
Wir fordern die Wahrung der Wissenschaftsfreiheit als unverzichtbaren
Grundpfeiler einer lebendigen Demokratie. Nur eine freie Wissenschaft kann die
technischen und sozialen Innovationen hervorbringen, auf die wir als
Industrieland angewiesen sind. Nur sie kann der Rahmen für ein Nachdenken und
eine Reflexion unseres Denkens und Fühlens sein. Dazu gehört es, Ideen,
Meinungen und Gedanken zuzulassen, die anstößig, ungewöhnlich oder marginal
erscheinen. Staatliche Eingriffe oder administrativer Druck, die darauf
abzielen, kritische wissenschaftliche Diskurse unangemessen zu beschränken,
Wissenschaftler*innen aufgrund politischer Ansichten von Förderung
auszuschließen oder sie zu sanktionieren, schaden uns als Gesellschaft. Das gilt
besonders angesichts der Tatsache, dass unsere Hochschulen und
Wissenschaftseinrichtungen international weitreichend vernetzt sind. Wir
brauchen die Zusammenarbeit, den Dialog und auch die Auseinandersetzung mit
Wissenschaftler*innen aus Südafrika ebenso wie aus Israel, aus den USA ebenso
wie aus China. Deshalb ist klar, dass wir Boykottaufrufen gegen jüdische oder
israelische Wissenschaftler*innen aufs strengste entgegentreten. Denn wir treten
dafür ein, dass wir offene Gespräche über den Nahostkonflikt, Kolonialismus und
globale Gerechtigkeit führen können - aus unterschiedlichsten Perspektiven.
6. Demut als Teil unserer historischen Verantwortung:
Die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit ist untrennbar mit unserer
historischen Verantwortung verbunden. Deutschland hat aus den Verbrechen des
Nationalsozialismus gelernt. Mutige Persönlichkeiten aus Politik, Verwaltung,
Justiz und Zivilgesellschaft haben seit Ende des Zweiten Weltkriegs, oft gegen
erhebliche Widerstände, durchgesetzt, dass Deutschland sich seiner einzigartigen
Verantwortung stellt: Täter*innen der Shoah wurden juristisch zur Rechenschaft
gezogen, Opfer entschädigt, das Gedenken fester Teil des öffentlichen Raums, und
das Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus ist integraler Bestandteil
unserer Bildungspläne. Darauf können wir zu Recht stolz sein. Dieser Stolz muss
aber auch anerkennen, dass diese Errungenschaften keinesfalls eine
Selbstverständlichkeit waren, dass Täter*innen viel zu lang in hohen Ämtern
saßen, dass die Profiteure von Arisierungen und Kollaboration deren Früchte
oftmals allzu sicher behalten durften. Heute, wo diese Errungenschaften fester
Teil der politischen Mitte sind, werden sie von einer wachsenden Zahl von
Menschen, vor allem von Rechtsaußen, wieder in Frage gestellt.
Aus dem Wissen um die singulären Verbrechen der NS-Zeit und die Geschichte der
deutschen Erinnerungskultur sollten wir daher eine Haltung der Demut und nicht
der Überheblichkeit ableiten. Wir können mit ihren Errungenschaften
selbstbewusst weltweit auftreten, wir können Vorbild und Orientierung sein.
Zugleich müssen wir in den Dialog mit denjenigen treten, deren historische
Erfahrungen sie zu anderen Perspektiven und Begrifflichkeiten im Umgang mit
globaler Gewaltgeschichte geführt haben. Die Grundlagen dieses Dialogs sind für
uns klar: Die unbedingte Achtung der Menschenwürde, die Anerkennung der Shoah
als Menschheitsverbrechen, eine klare Orientierung an Menschenrechten und
Völkerrecht.
7. Schutz der Versammlungs- und Meinungsfreiheit:
Das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit ist selbstverständlich
auch in der aktuellen, angespannten Lage verbrieft – unter der Bedingung, dass
Demonstrationen angemeldet werden, friedlich verlaufen und die Bestimmungen des
Strafrechts eingehalten werden. Dass bei Demonstrationen auch Meinungen und
Standpunkte vertreten werden, die für viele an die Grenzen des Erträglichen
gehen, muss eine Demokratie aushalten. Das gilt auch für die hier lebenden
Palästinenser*innen sowie das Recht auf friedliche Demonstration und
Solidarisierung mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, im Westjordanland und
im Libanon im Rahmen der geltenden Gesetze, nicht aber für öffentliche Aufrufe
zu Terror, für Terrororganisationen oder Antisemitismus.
8. Weiterentwicklung der Erinnerungskultur, Stärkung der Präventions- und
Bildungsarbeit:
Wir setzen uns für eine inklusive und plurale Erinnerungskultur ein, die die
vielfältigen Erfahrungen und Geschichten einer Einwanderungsgesellschaft
berücksichtigt, ohne die einzigartige Bedeutung der Shoah zu relativieren. Die
deutsche Kolonialgeschichte sowie aktuelle Formen von Rassismus, Antisemitismus
und Diskriminierung müssen stärker in den Fokus der Erinnerungsarbeit rücken.
Die Errichtung neuer Gedenk- und Lernorte, die all diese Themen aufgreifen, soll
gefördert werden, um das öffentliche Bewusstsein zu schärfen und den
gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Diese neuen Orte dürfen ausdrücklich
nicht auf Kosten der bewährten Erinnerungsarbeit an die Shoah und deren
Weiterentwicklung gehen.
Zugleich plädieren wir für eine verstärkte pädagogische Präventionsarbeit gegen
alle Formen von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Angesichts des grassierenden antimuslimischen Rassismus in unserer Gesellschaft
sehen wir es als besonders dringlich an, diese Form der Diskriminierung klar zu
benennen und aktiv dagegen vorzugehen. Bildungseinrichtungen sollen systematisch
Themen wie Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus, Kolonialgeschichte und
weitere Aspekte von Diskriminierung in ihren Lehrplänen verankern. Wir fordern
die Förderung von Projekten, die den interkulturellen und interreligiösen Dialog
unterstützen und Extremismusprävention als integralen Bestandteil der
Bildungsarbeit verankern. Die Vielfalt und Unabhängigkeit der Trägerlandschaft
in Bildungs- und Präventionsarbeit muss erhalten und nachhaltig gefördert
werden, um der zunehmenden Polarisierung entgegenzuwirken und die demokratische
Resilienz zu stärken.
9. Erweiterung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG):
Wir fordern eine Reform des AGG, um die Diskriminierungstatbestände um die
Merkmale Staatsbürgerschaft und Staatenlosigkeit zu erweitern. Dies ist
notwendig, um allen in Deutschland lebenden Menschen einen umfassenden
rechtlichen Schutz vor Diskriminierung zu bieten, unabhängig von ihrem
rechtlichen Status. Zum Beispiel würden israelische Staatsbürger*innen ,
palästinensische Staatenlose und andere Betroffene von dieser Erweiterung
profitieren, da sie derzeit nicht ausreichend vor Diskriminierung geschützt
sind. Zudem soll die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gestärkt werden, um
Betroffenen effektive Unterstützung zu gewährleisten und strukturelle
Diskriminierungen wirksam anzugehen.