Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | BAG Migration & Flucht (dort beschlossen am: 03.10.2024) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 04.10.2024, 09:49 |
V-76: Ein Land, das einfach funktioniert, braucht Vielfalt, Offenheit und ein konsequentes Einstehen für Menschenrechte – für alle.
Antragstext
Die jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen verdeutlichen,
wer von einem Diskurs profitiert, der immer stärkere Einschränkungen, Kontrolle
und Härte in der Migrations- und Asylpolitik fordert. Nationale und europäische
Kompromisse werden zunehmend infrage gestellt, diskreditiert und durch
Forderungen nach weiteren Verschärfungen geschwächt. Eine realistische und
menschenrechtsorientierte Politik hingegen stärkt den gesellschaftlichen
Zusammenhalt. Es ist ermutigend, dass Anfang des Jahres so viele Menschen wie
nie zuvor in Deutschland auf die Straße gegangen sind, um ein Zeichen für eine
offene, vielfältige Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus zu setzen. Diese
Solidarität gibt uns Hoffnung und zeigt, wie wichtig es ist, diesen Weg
entschlossen zu gehen.
Menschlichkeit bildet die Grundlage unseres Zusammenlebens, sowohl in
Deutschland als auch in Europa. Als Teil dieser Regierung fordern wir, dass
Menschenrechte nicht nur Rhetorik bleiben, sondern konsequent in die Praxis
umgesetzt werden. Es ist unsere gesellschaftliche Verpflichtung, diese Rechte zu
verteidigen, wenn sie mit Füßen getreten werden. Dazu gehört auch die unbedingte
Achtung der Menschenwürde. Sie steht aus gutem Grund seit 75 Jahren in unserem
Grundgesetz und gilt für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem
Aufenthaltsstatus.
Wir nehmen auch den Appell an die Bundesregierung von über 300 Organisationen
und Initiativen ernst, die Teil einer Gesellschaft sein wollen, die geflüchtete
Menschen menschenwürdig aufnimmt. Einer Gesellschaft, die das Recht auf Asyl als
ein Menschenrecht nicht in Frage stellt und schon gar nicht auslagert.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen wissen: Aufnahme und Teilhabe funktionieren, wenn
alle an einem Strang ziehen und der politische Wille vorhanden ist. Deshalb
begegnen wir den derzeitigen Herausforderungen mit konstruktiven, praxisnahen
und somit realistischen Vorschlägen für eine zukunftsfähige Aufnahme. Dafür
setzen wir uns jetzt und auch zukünftig mit allen uns zur Verfügung stehenden
Kräften ein – gerade auch auf kommunaler Ebene.
Deshalb fordern wir:
1. Sofortiger Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien!
Abschiebungen in Krisen- und Kriegsgebiete verletzen fundamentale Menschenrechte
und internationale Konventionen und sind daher rechtswidrig. Die Machtübernahme
der Taliban hat Afghanistan zu einem Hotspot für Extremismus und Islamismus
gemacht, wo Frauenrechte massiv eingeschränkt werden und sich die allgemeine
Sicherheitslage weiter verschlechtert. Besonders gefährdet sind FLINTA*-
Personen, deren Lebensgrundlagen und Rechte akut bedroht werden. Es ist ein
Widerspruch gegen Islamismus vorzugehen und gleichzeitig mit brutalen Regimen zu
verhandeln und diese damit zu legitimieren. Dazu gehört auch das Verhandeln und
Einfädeln schmutziger Deals mit den Nachbarstaaten, die Abgeschobene skrupellos
weiter schieben.
In Syrien sind die Menschen in allen Landesteilen nach wie vor willkürlicher
Herrschaft und gravierenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Folter,
außergerichtliche Hinrichtungen und das Verschwindenlassen politisch
missliebiger Personen sind alltäglich. Es ist wie vor 2011 völlig
unkalkulierbar, was Abgeschobenen widerfährt. Der Norden des Landes leidet unter
Bombardierungen durch das Assad-Regime und Russland, Angriffe der Türkei sowie
Terror durch den IS. Es gibt keine sicheren Regionen in Syrien – niemand ist
dort in Sicherheit. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes bestätigt
das.
Wir stehen zur Europäischen Menschenrechtskonvention, welche die Ausweisung und
Abschiebung verbietet, wenn im Zielland Folter, unmenschliche Behandlung oder
schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Wir erwarten, dass sich die Grünen in
der Bundesregierung und als Partei entschieden gegen (weitere) Abschiebungen
nach Afghanistan oder Syrien stellen. Wir verurteilen schwere Straftaten und
lehnen die Verbrechen ab, die auch von Personen mit Herkunft aus Syrien oder
Afghanistan in Deutschland begangen wurden. Diese Straftäter müssen in
Deutschland zur Rechenschaft gezogen werden. Gerechtigkeit und der Schutz der
Menschenrechte dürfen in keinem Fall gegeneinander ausgespielt werden.
2. Keine Kriminalisierung von Geflüchteten!
Kriminalität muss unabhängig vom Aufenthaltsstatus verfolgt werden. Jede Person
hat das Recht auf ein faires Verfahren und darf nicht aufgrund von Vorurteilen
oder Herkunft unterschiedlich behandelt werden. Wir setzen uns für eine
evidenzbasierte Strafrechtspolitik ein, die populistischen Forderungen nach
höheren Strafen und schärferen Maßnahmen entgegensteht. Statt auf Abschreckung
setzen wir auf Prävention, Integration und den Schutz der Menschenrechte. Eine
pauschale Kriminalisierung von Geflüchteten lehnen wir ab.
3. Asylrecht stärken, nicht verschärfen!
Herausforderungen bei der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von
Asylsuchenden werden nicht durch Verschärfungen des Asylrechts gelöst. Im
Gegenteil, viele in der Diskussion befindliche Vorschläge führen zu untragbaren
Härten, überbordender Bürokratie oder sind schlichtweg verfassungswidrig.
Insbesondere Leistungskürzungen bis hin zu Leistungsausschlüssen für
Geflüchtete, etwa wenn Dublin-Abschiebungen scheitern, lehnen wir entschieden
ab. Sie sind verfassungswidrig, menschenfeindlich und missachten, dass die
betroffenen Personen oft keine Verantwortung für diese Umstände tragen. Solche
Leistungskürzungen führen nicht nur zu untragbaren menschlichen Härten, sie
stellen die Kommunen, in denen sich die Menschen aufhalten, vor unlösbare
Aufgaben. Menschen auf die Straße zu setzen, würde zu Leid und zu Chaos führen.
Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass die in Art. 1 Abs. 1 GG
garantierte Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren ist und
daher das soziokulturelle Existenzminimum für Geflüchtete gesichert sein muss.
Wir erwarten, dass die Verfassungsmäßigkeit der Sozialleistungen für
Asylsuchende sichergestellt ist.
Darüber hinaus dürfen finanzielle Mittel für die Integration von Geflüchteten
nicht gekürzt werden, denn das erschwert die Teilhabe geflüchteter Menschen am
gesellschaftlichen Leben. Ausreichende Finanzierung ist auch eine Notwendigkeit,
um die Arbeit von zahllosen zivilgesellschaftlichen Organisationen und
Engagierten aufrechtzuerhalten. Integration statt Isolation muss das Ziel
unserer Asyl- und Migrationspolitik sein. Die zügige Einbindung von Geflüchteten
in das gesellschaftliche Leben, das Bildungssystem und die Arbeitswelt ist von
zentraler Bedeutung. Die Unterbringung in Wohnungen fördert die
Selbstständigkeit und spart enorme Kosten im Vergleich zu Sammelunterkünften,
insbesondere da in Deutschland etwa zwei Millionen Wohnungen leer stehen.
Als Ergänzung des Asylsystems unterstützen wir humanitäre Aufnahmeprogramme und
Resettlement. Es muss sichergestellt sein, dass alle Personen zügig aufgenommen
werden, die eine Aufnahmezusage im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms
Afghanistan erhalten haben. Die Beendigung der Aufnahme aus Afghanistan lehnen
wir ab. Wir appellieren an die Bundesregierung, den Aktionsplan Afghanistan
entschieden umzusetzen und weiter bedrohte Personen aus Afghanistan aufzunehmen.
Zudem muss die Flucht vor der Klimakrise als Fluchtursache anerkannt werden.
Bereits jetzt kann, wer in sein Herkunftsland zurückkehrt, seine
Flüchtlingseigenschaft verlieren. Ein weitere Verschärfung dieser Möglichkeit
halten wir weder für notwendig noch für sinnvoll. Etwa die geplante
Beweislastumkehr zu Lasten von Geflüchteten schafft zusätzliche Härten, ohne
irgendein Problem zu lösen. Auch eine weitere Absenkung der Schwelle für
Ausweisungen oder die Verhinderung der Flüchtlingseigenschaft im Asylverfahren
im Falle von strafrechtlichen Verurteilungen lehnen wir ab. Bereits jetzt liegt
ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse bei rechtskräftigen Verurteilungen zu
einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen vorsätzlicher
Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit oder das Leben vor. Damit
besteht eine sachgerechte Regelung, die keiner Verschärfung bedarf.
4. Keine Inhaftierung von Schutzsuchenden!
Unsere Bewertung der Einigung zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem bleibt
unverändert. Wir werden die Umsetzung in deutsches Recht aktiv begleiten und
dabei alle Spielräume nutzen, um den Schutz von Menschen auf der Flucht zu
verbessern. Es ist für uns von zentraler Bedeutung, dass die Möglichkeit eines
fairen und transparenten Asylverfahrens innerhalb der EU garantiert ist und es
nicht zu Abschiebungen in Drittstaaten kommt ohne vorheriges Asylverfahren mit
inhaltlicher Prüfung der Fluchtgründe. Im Falle von Rückführungen muss das
Verbindungselement erhalten bleiben. Es ist zutiefst inhuman einen Menschen in
ein Land abzuschieben, in dem er nie zuvor gewesen ist.
Unzulässigkeitsentscheidungen aufgrund vermeintlich sicherer Drittstaaten
spielen in Deutschland bisher keine Rolle – und das sollte so bleiben. Eine
solche Praxis wäre kaum umsetzbar und würde den Zugang zu Schutz erheblich
verzögern.
Grenzverfahren, die mit einer de-facto-Inhaftierung einhergehen und keine
inhaltliche Prüfung von Fluchtgründen garantieren, sind nicht human und werden
den Rechten und Nöten schutzsuchender Menschen nicht gerecht. Daher setzen wir
uns mit aller Kraft dafür ein, dass EU-Mitgliedstaaten nicht zur Durchführung
von Grenzverfahren verpflichtet werden und Schutzsuchende nicht inhaftiert
werden. Geschlossene Lager, Transitzonen oder europäische Außenlager in
Drittstaaten lehnen wir ab.
5. Europäische Solidarität statt Grenzkontrollen
Der freie Personen- und Warenverkehr ist eine der größten Errungenschaften
unseres gemeinsamen Europas und bildet die Grundvoraussetzung für einen
funktionierenden Binnenmarkt. Die Einführung von Grenzkontrollen sowie die
Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Binnengrenzen verstoßen gegen
EU-Recht und schwächen die EU als Rechtsgemeinschaft. Darüber hinaus ist die
Entscheidung eine unnötige Belastung in den Beziehungen zu unseren europäischen
Nachbarn und Partnern, die bereits dazu führt, dass auch andere Länder wieder
vermehrt auf Grenzkontrollen setzen wollen. Mit der Wiedereinführung der
Grenzkontrollen gefährden wir das Schengen-Grenzregime als Ganzes.
Wir verteidigen die offenen Grenzen, von denen wir alle täglich profitieren. Die
Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten hat zudem eindrucksvoll gezeigt, wie
Solidarität mit Schutzsuchenden innerhalb der EU funktionieren kann und dass wir
gemeinsam humanitäre Verantwortung übernehmen können.
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich nachdrücklich dafür ein, dass Deutschland
seiner humanitären Verantwortung gerecht wird und eine solidarische und
menschenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene verfolgt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, entschieden gegen menschenrechtswidrige
Praktiken wie illegale Zurückweisungen (Pushbacks) an den EU-Außengrenzen und
auf dem Mittelmeer, sowie gegen die inhumane Behandlung von Schutzsuchenden in
den sogenannten "Hotspots" vorzugehen.
Das Dublin-System mit seinen Überstellungsfristen darf nicht dazu führen, dass
Schutzsuchende in einen rechtlichen Schwebezustand geraten und kein EU-Staat für
das Asylverfahren zuständig sein möchte. Menschen, die sich de facto hier
aufhalten, müssen auch Zugang zum Asylverfahren haben. Kettenabschiebungen
dürfen nicht dazu führen, dass Asylsuchende ohne Prüfung ihres Schutzgesuches in
Staaten außerhalb der EU abgeschoben werden. Wir stehen weiterhin zum
Kirchenasyl.
Begründung
Bei viele Menschen – insbesondere jenen mit Migrations- und Fluchtgeschichte – wächst die Angst über ihre Zukunft in Deutschland. “Seid Menschen” [1] appelliert die Shoa-Überlebende Margot Friedländer immer wieder an uns, in Anbetracht der zunehmenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland. Solche Mahnungen erinnern uns unermüdlich an unsere politische Verantwortung, die wir tragen, um eine Gesellschaft zu fördern, die auf Solidarität und Menschlichkeit basiert.
Wir stehen als Bündnis 90/Die Grünen vor der entscheidenden Frage, ob wir in unserem Verständnis als Menschenrechtspartei als einzige Partei für die Rechte der marginalisierten und gefährdeten Menschen in unserer Gesellschaft eintreten und diese verteidigen wollen.
Wir haben die Chance, als einzige Partei einen alternativen Weg aufzuzeigen, der es Menschen ermöglicht, bei uns Schutz zu finden und gleichzeitig einen wertvollen Beitrag zu den bestehenden Herausforderungen in Deutschland zu leisten, insbesondere im Hinblick auf die demografische Lage.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen wollen die Partei bleiben, die die vielen Millionen Menschen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten bei uns Zuflucht gefunden und Teil unserer Gesellschaft geworden sind, repräsentiert. Diese Verantwortung wollen wir wahrnehmen, indem wir dafür sorgen, dass auch zukünftig Menschen, die bei uns Schutz suchen, diesen auch erhalten. Bereits über 2.000 Parteimitglieder haben sich in einem offenen Brief dafür ausgesprochen und deutlich Stellung bezogen.[2]
Als Bündnis 90/Die Grünen haben wir die einmalige Gelegenheit, als einzige Partei einen neuen Weg aufzuzeigen, der die Erfolgsgeschichten unserer Migrations- und Einwanderungsgesellschaft ins Rampenlicht rückt. Von den Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, hatten knapp zwei Drittel sieben Jahre später einen Arbeitsplatz; die Beschäftigungsquote entspricht mittlerweile nahezu dem Niveau der deutschen Bevölkerung. 90 Prozent dieser Erwerbstätigen waren sozialversicherungspflichtig angestellt, rund drei Viertel davon in Vollzeit.[3] Immer mehr Menschen bezeichnen Deutschland inzwischen selbstverständlich als ihr Zuhause. Es liegt in unserer Verantwortung, dass das so bleibt.