Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Thomas Mohr (KV München) und 57 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 45%) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 19.09.2024, 23:43 |
V-04: Krieg in der Ukraine: Unsere grüne Kernkompetenz „Zivile Konflikttransformation“ ist jetzt gefragt
Antragstext
Nach mehr als zweieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine:
Unsere Kernkompetenz „Zivile
Konflikttransformation“ ist jetzt gefragt
Bündnis 90/Die Grünen sind die Partei in Deutschland, die sich am
längsten, intensivsten und kompetentesten mit dem Thema zivile,
gewaltfreie Konflikttransformation befasst hat. Deshalb wurde zum Beispiel
während der ersten grünen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene die
Struktur und staatliche Förderung der zivilen Konfliktbearbeitung deutlich
ausgebaut: ZentrumInternationale Friedenseinsätze, Ziviler Friedensdienst,
Stiftung Friedensforschung. Zurecht dürfen wir sagen, dass Zivile
Konflikttransformation eine unserer grünen Kernkompetenzen ist.
In der langen Geschichte unserer Partei mussten wir uns immer wieder mit
dem Spannungsverhältnis zwischen unserem ursprünglichen Ideal der
Gewaltfreiheit und dem aktuell realpolitisch Machbaren auseinandersetzen.
In schmerzhaften Debatten haben wir miteinander um den bestmöglichen Weg
in konkreten Entscheidungssituationen gerungen. Diese Debattenkultur – oft
stellvertretend für die Gesellschaft – dieses Abwägen des Möglichen bei
gleichzeitigem Respekt vor pazifistischen Grundüberzeugungen und vor der
Haltung des „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“ war über
lange Zeit ein Markenzeichen der grünen Partei.
In diesem innerparteilichen Debattieren wurden uns Menschenrechte und
menschliche Sicherheit, das Völkerrecht und die Stärkung der Vereinten
Nationen zu wesentlichen Orientierungspunkten. Den Einsatz für eine Kultur
der Gewaltfreiheit verstehen wir inzwischen als eine Querschnittsaufgabe,
die weit mehr als den Bereich der Außenpolitik umfasst. Frieden ist einer
unserer fünf Grundwerte. Politik für Gewaltfreiheit bleibt weiterhin eine
der entscheidenden Leitlinien unserer Politik. Wir treten konsequent ein
für die Stärke des Rechts statt dem Recht des Stärkeren! Wir wissen aber,
dass Demokratie und Menschenrechte in den seltensten Fällen durch
Militäreinsätze und Krieg gefördert werden, sondern vor allem durch das
überzeugende und ansteckende eigene Beispiel. In unserem Streben nach
einer Welt ohne Atomwaffen werden wir nicht nachlassen. Unser Ziel bleibt,
durch eine Politik für Gewaltfreiheit mittel- und langfristig die
politische Institution des Krieges zu überwinden (siehe: Grundsatzprogramm
2020, Abs. 51).
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt einen eindeutigen Bruch
des Völkerrechts dar. Deshalb haben wir – in Kooperation mit der EU –
Sanktionen gegen Russland verhängt. Und wir unterstützen – im Rahmen der
NATO – die Ukraine durch Waffenlieferungen, damit sie ihr
Selbstverteidigungsrecht überhaupt in Anspruch nehmen kann. Nach mehr als
zweieinhalb Jahren Krieg und gigantischen Zerstörungen müssen wir aber
konstatieren, dass der Kriegsverlauf festgefahren ist und sich ein Patt
eingestellt hat. Es gelingt der Ukraine nicht mehr, mit militärischen
Mitteln entscheidende Fortschritte zu erreichen. Perspektivloses Leiden
und Sterben ist zur Realität geworden. Die Situation ist reif für andere
Wege zur Beendigung dieses schrecklichen Krieges.
Die Charta der Vereinten Nationen räumt ein Selbstverteidigungsrecht ein,
„bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ (UN-
Charta, Art. 51) Bekanntlich ist es bisher weder der Ukraine und Russland
noch den Vetomächten im UN-Sicherheitsrat gelungen, sich auf eine für alle
Beteiligten völkerrechtlich akzeptable Beendigung des Ukrainekriegs, die
zu einer Konfliktlösung und einem Friedensvertrag führen könnte, zu
einigen. Bündnis 90/Die Grünen haben sich wiederholt in Programmen und
Beschlüssen darauf festgelegt, dass im Falle solcher Blockaden des UN-
Sicherheitsrates, die UN-Generalversammlung über friedenserzwingende
Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit beschließen soll (siehe:
Grundsatzprogramm 2020, Abs. 374). Die UN-Generalversammlung hat sich
bereits mehrfach mit dem Ukrainekrieg befasst. Für Aktionen außerhalb der
friedlichen Mittel, wie sie von den westlichen Staaten in Form von
Sanktionen und Aufrüstung praktiziert werden, gab es in der
Generalversammlung allerdings keine Mehrheit. Vielmehr hat die
Generalversammlung am 23.02.2023 die Mitgliedsstaaten und die
internationalen Organisationen aufgefordert, ihre Unterstützung für die
diplomatischen Bemühungen um einen umfassenden, gerechten und dauerhaften
Frieden in der Ukraine zu verdoppeln (siehe: IPPNW: Waffenstillstand und
Frieden für die Ukraine).
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich dafür ein, die internationale
Zusammenarbeit Deutschlands postkolonial und antirassistisch auszurichten
(siehe: Grundsatzprogramm 2020, Abs. 404). Deshalb ist es uns besonders
wichtig, auf die Stimmen aus dem sogenannten „Globalen Süden“ zu hören.
Brasilien, Mexico, Indien, Indonesien, die Afrikanische Union und andere
Staaten haben Ideen und Initiativen für ein Ende des Krieges eingebracht.
Diese Ansätze wollen wir fördern und unterstützen. Denn wir wissen: In
dieser hocheskalierten Situation braucht es hilfreiche Dritte, die das
Vertrauen beider Kriegsparteien gewinnen können. Nur unter aktiver
Beteiligung des Globalen Südens kann realistischerweise ein
Waffenstillstand ermöglicht und ein Friedensprozess eingeleitet werden. So
wird auch eine wünschenswerte Fortsetzung der Friedenskonferenz in der
Schweiz vermutlich in einem nicht-europäischen Land stattfinden müssen,
das nicht nur von der Ukraine, sondern auch von Russland als Vermittler
akzeptiert wird.
Die Suche nach Waffenstillstand und Frieden verstehen wir als
ergebnisoffenen Prozess. Ein solcher Verhandlungsprozess kann aber nur
dann nachhaltige Ergebnisse erzielen, wenn alle Beteiligten und
Betroffenen gleichberechtigt an den Gesprächen mitwirken können. Auch hier
muss sich der Ansatz der feministischen Außenpolitik in der Praxis
bewähren und Frauen und marginalisierte Gruppen als Mitwirkende in den
Verhandlungsprozess integrieren. Uns ist klar, dass Dritte, die als
Vermittelnde in einem Krieg wirksam werden wollen, nicht mit einem
fertigen Endergebnis Verhandlungen einleiten können. Wer als Mediator*in
bereits vor Beginn einen Kompromiss als mögliches Endresultat der
Gespräche in den Raum stellt, wird in der Regel von mindestens einer der
Parteien nicht mehr als neutraler, allparteilicher Vermittler
akzeptiert. Vielmehr geht es zunächst darum, kleine Schritte
herauszufinden, die für beide Seiten hinnehmbar sind. Dass dies auch
bezüglich des Angriffs Russlands auf die Ukraine ein realpolitisch
gangbarer Weg ist, zeigen die immer wieder erfolgreich abgewickelten
Gefangenenaustausche zwischen der Ukraine und Russland.
Vor diesem Hintergrund erhält auch der sehr offen formulierte chinesische
„12-Punkte-Plan zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise“ seine
Bedeutung. China hat sich zuletzt außenpolitisch – unabhängig von seinem
Umgang mit Menschenrechten im Inneren – mehrfach als erfolgreicher
Vermittler in aktuellen Konflikten profiliert (Iran und Saudi Arabien,
Fatah und Hamas). China ist allerdings ein zunehmend wichtigerer
Verbündeter Russlands und kann deshalb aus westlicher Sicht schwerlich als
neutraler Vermittler gelten. Wenn auf westlicher Seite eine Bereitschaft
zur Einleitung von im Rahmen des Völkerrechts grundsätzlich
ergebnisoffenen Verhandlungen zur Beendigung des russischen Angriffskriegs
besteht, könnte China aber in Kombination mit den USA auf die aktiven
Kriegsparteien – Russland und die Ukraine – in Richtung eines Kriegsendes
einwirken. China und die USA könnten ihre spezifischen Kompetenzen
gemeinsam mit anderen Staaten in eine größere Vermittlungs- bzw.
Kontaktgruppe einbringen. In diesem Fall könnten sich die nahen
Beziehungen zwischen China und Russland einerseits und zwischen den USA
und der Ukraine andererseits als Chance für das lang erhoffte Ende von
Leid, Tod und Zerstörung in der Ukraine erweisen.
Wir wissen, wie wichtig es für einen Vertrauensaufbau ist, nicht
reflexhaft die andere Seite zu rügen, sondern selbstkritisch das eigene
Verhalten in den Blick zu nehmen. Wir prangern jeden völkerrechtswidrigen
Angriff eines Landes auf ein anderes an. Deshalb betonen wir an dieser
Stelle ausdrücklich, dass der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands
gegen die Ukraine nicht der einzige seiner Art in den letzten Jahrzehnten
ist. Wir erinnern beispielhaft an den von der US-Regierung unter G.W. Bush
geführten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak 2003, den die
damalige rot-grüne Bundesregierung aus guten Gründen abgelehnt hat. Der
Angriff der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ auf den Irak erfolgte
trotz fehlenden UN-Mandats. Die von den USA dem UN-Sicherheitsrat vor dem
Angriff vorgelegten angeblichen Beweise für eine Existenz von
Massenvernichtungswaffen im Irak erwiesen sich im Nachhinein als Lüge.
Unsere Zustimmung im Jahr 1999 zum – ebenfalls ohne Mandat des UN-
Sicherheitsrats erfolgten – Angriff der NATO auf Serbien, um einem
befürchteten
Völkermord im Kosovo zuvorzukommen, war für uns eine „statthafte Ausnahme,
aber kein Präzedenzfall“ (Grundsatzprogramm 2002, S. 164). Wir müssen
jedoch einräumen, dass
Russland diesen NATO-Angriff auf Serbien damals sehr wohl als Bruch des
Völkerrechts eingeordnet hat und ihn heute für seine Argumentation im
Hinblick auf den eigenen Angriffskrieg gegen die Ukraine benutzt.
Die größte Herausforderung für die menschliche Sicherheit in unserer Zeit
ist und bleibt die Klimakrise. Entweder die Menschen lernen, sich als
Menschheit zu begreifen und solidarisch zu organisieren oder die Gattung
Mensch wird auf diesem Planeten keine große Zukunft haben. Ein Jahrhundert
der Konfrontation und der Aufrüstung kann sich die Menschheit nicht
leisten. Angesichts der Bedrohungen für das menschliche Leben auf der Erde
muss unser Jahrhundert zu einem Jahrhundert wachsender Kooperation werden.
Nur gemeinsam können die Erderwärmung gestoppt und ihre Folgen abgemildert
werden. Dafür werden auch die Reform und die Stärkung der globalen
Institutionen, insbesondere der UN-Institutionen notwendig sein. Der
Beginn eines ernsthaften Gesprächsprozesses aller direkt und indirekt
Beteiligten des Ukrainekriegs in Richtung Waffenstillstand und
Friedensverhandlungen wäre ein weltweites Hoffnungszeichen. Eine
gemeinsame Konfliktlösung stellt eine große Ermutigung dar, um die für das
Überleben der Menschheit als Ganzes wirklich wichtigen Aufgaben zusammen
engagiert anzugehen. Statt einer gefährlichen Aufrüstungsspirale können so
wieder Abrüstungsverhandlungen in Gang kommen. Dann können die Ressourcen,
die momentan für Militär und Rüstung eingeplant werden, für echte
menschliche Sicherheit verwendet werden.
Bündnis 90/Die Grünen sind überzeugt, dass wir – als einzelne Menschen und
als gesamte Menschheit – über die Fähigkeit der konstruktiven
Konflikttransformation verfügen. Wenn wir gleichwertig und fair
zusammenarbeiten, sind wir in der Lage, die aktuellen Krisen und Konflikte
zu meistern. Dafür setzen wir uns ein! Dieses wichtige Zeichen der
Hoffnung und Ermutigung wollen wir von diesem Parteitag aussenden.
Begründung
Wir dürfen die Menschen in der Ukraine nicht alleine lassen. Sie brauchen dringend Frieden!
Wir dürfen das Friedensthema nicht anderen Parteien in Deutschland überlassen. Unsere Kernkompetenz "Zivile Konflitktransformation" ist jetzt dringend notwendig! Weiteres dazu siehe: gewaltfrei grün e.V.