Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | D Dringlichkeitsanträge |
Antragsteller*in: | Karl-Wilhelm Koch u.a. und Thomas Mohr u.a. (KV Vulkaneifel und KV München) und 0 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 0%) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 15.11.2024, 11:57 |
D-01-03 NEU: Dringlichkeitsantrag: Nach mehr als zweieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine: Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärken und Zivile Konfliktbearbeitung fördern!
Antragstext
Seit Antragsschluss zur BDK haben sich entscheidende Entwicklungen im
Zusammenhang mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ergeben: Die
Demokratische Volksrepublik Korea beteiligt sich nunmehr auch mit eigenen
Truppen an Kampfhandlungen, der ukrainische Präsident Selenskyj hat einen – von
Fachleuten als unrealistisch eingestuften – „Siegesplan“ vorgestellt. Zudem
wurde im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) des Bundestages eindringlich
vor einer systematischen Desinformationskampagne Russlands in Deutschland
gewarnt.
Letztlich wird die Wahl des neuen US-Präsidenten Donald Trump den weiteren
Kriegsverlauf massiv beeinflussen, da eine weitere Unterstützung durch die USA,
schon gar nicht auf dem extrem hohen finanziellen Niveau in Bidens Amtszeit,
fraglich ist. Die europäischen Mitglieder der NATO werden diesen Ausfall – wenn
er denn kommt – in keiner Weise ausgleichen können.
Die russische Invasion brachte eine historischen Zäsur der europäischen
Sicherheitsordnung. Unsere Haltung und unser Handeln werden darüber entscheiden,
ob unsere Ordnung, welche die UN-Charta und das Völkerrecht beachtet, ihre
gegenwärtige Krise übersteht oder ob militärische Gewalt und das Recht des
Stärkeren sich durchsetzen. Gerade unsere grüne Kernprogrammatik – zivile
Konfliktbewältigung im Sinne eines breiten und vernetzten Sicherheitsbegriffes
und dekolonialer Ansätze – erfordert dringend an diesem neuralgischen Punkt
beherztes Handeln. Zu all diesen Entwicklungen bedarf es baldigst einer
parteiinternen Debatte und Positionierung.
1. Kriegspartei Nordkorea (Demokratische
Volksrepublik Korea)
Durch den Einsatz nordkoreanischer Truppen im Ukrainekrieg ist eine neue
Situation im Kriegsgeschehen entstanden. Dieser Einsatz könnte im Gegenzug eine
Eskalation auf der koreanischen Halbinsel provozieren und stellt eine massive
Bedrohung nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die europäische sowie
asiatische Sicherheitsarchitektur (ASEAN) dar. Die militärische Allianz zwischen
Russland und Nordkorea ist ein klares Zeichen dafür, dass Moskau auf eine
internationale Eskalationsstrategie setzt, aber auch dass die Opferzahlen in
Russland mittlerweile eine innenpolitische Rolle spielen.
2. Friedensplan und atomare Gefahren
Die Situation der Ukraine ist entscheidend für die Zukunft der europäischen
Sicherheitsordnung. Für einen stabilen und nachhaltigen Frieden sind
Sicherheitsgarantien für die Ukraine essentiell. Diesbezüglich hat der
ukrainische Präsident auf dem EU-Gipfel und dem parallel stattfindenden NATO-
Treffen in Brüssel seinen sogenannten "Siegesplan" vorgestellt. Dabei hat er
ausgesprochen, dass eine nukleare Bewaffnung der Ukraine die einzige Alternative
zu einer NATO-Mitgliedschaft sei. Diese Drohung Selenskyjs, die ukrainische
Sicherheit durch den Besitz von Atomwaffen sicherstellen zu wollen – sollte sie
nicht NATO-Mitglied werden und/oder entsprechende Sicherheitsgarantien erhalten
–, verdeutlicht, wie sich in diesem Konflikt die Eskalationsspirale immer weiter
dreht und wie groß die Gefahr eines nuklearen Schlagabtausches ist, wenn wir
nicht unseren Beitrag zu einer Zivilen Konflikttransformation leisten.
Statt eine friedensfördernde Wirkung zu haben, führt diese Drohung zu einer
weiteren Verschärfung der globalen Sicherheitslage. Eine nukleare Aufrüstung der
Ukraine ginge derzeit nicht aus eigener ukrainischer Kraft, sie wäre schon gar
nicht von dieser zu finanzieren und würde so die unterstützenden Staaten nach
Russlands Doktrin zum direkten Angriffsziel machen.
Aber auch dem Sicherheitsinteresse der russischen Seite muss entgegen gekommen
werden, soll ein echter Friedensschluss – und kein Diktatfrieden zulasten der
Ukraine – erreicht werden. Als erster Schritt sollte von der deutschen Regierung
dazu eine Initiative zu neuen Abrüstungsabkommen zwischen NATO und Russland
erfolgen. Gestartet werden kann mit einer Wiederbelebung der gekündigten und
abgelaufenen Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsverträge:
- INF, Abschaffung aller landgestützten ballistischen Raketen und
Marschflugkörper, 2019 ausgelaufen nach Kündigung durch die USA;
- KSE-Vertrag, konventionelle Streitkräfte, von Russland 2023 gekündigt;
- START-Vertrag, Reduzierung strategischer Trägersysteme für Nuklearwaffen,
Februar 2022 von Russland ausgesetzt;
- Open Skies, Überfliegen von Mitgliedsstaaten auf vorher vereinbarten
Routen, USA sind November 2020 ausgetreten, Russland folgte Dezember 2021
sowie mit neuen Initiativen.
3. Deutschland im Visier Russlands:
systematische Desinformations- und
Propagandakampagnen
Russland betrachtet die Bundesrepublik Deutschland und den Westen schon seit
längerer Zeit als Kriegsgegner und führt bereits einen hybriden Krieg gegen den
Westen. Dies wurde in der jüngsten öffentlichen Anhörung des Parlamentarischen
Kontrollgremiums (PKGr) deutlich, bei der systematische russische
Desinformations- und Propagandakampagnen, durchgeführt durch Geheimdienste und
sogenannte "Trollfabriken", im Zentrum standen. Diese Angriffe zielen darauf ab,
unsere Demokratie zu destabilisieren und das Vertrauen in unsere Institutionen
zu untergraben. Ein aktuell alarmierendes Beispiel ist die Einmischung in das
Referendum in der Republik Moldau und in die Wahl in Georgien, wo Moskau
Maßnahmen ergriffen hat, um freie und faire Wahlen zu torpedieren.
4. Russland rüstet massiv auf, liegt aber immer
noch weit hinter der NATO
Parallel dazu baut Russland seine konventionellen Streitkräfte massiv aus und
strukturiert diese neu. Es hat seine Ökonomie auf Kriegswirtschaft umgestellt,
2025 läge der Etat dann bei knapp 130 Milliarden €. (Zum Vergleich: allein der
Etat von GB, Frankreich, Deutschland, Polen und Italien liegt in der Summe bei
ca. 310 Milliarden €, der Etat der USA bei 968 Milliarden US-$) Es wird
behauptet, dass Russland spätestens gegen Ende dieses Jahrzehnts personell und
materiell in der Lage sein wird, einen Angriff gegen einzelne NATO-Länder zu
starten, ohne eine sofortige Niederlage fürchten zu müssen.
Auch wenn die Gefahr eines russischen Angriffes durchaus besteht, könnte die
NATO selbst ohne die USA militärisch so dagegenhalten, dass ein Angriff nicht
erfolgreich wäre. Nötig bleibt es, dass die Unterstützung der Selbstverteidigung
der Ukraine, aber vor allem diplomatische Vermittlungen und Initiativen
vorangetrieben werden, um das dauerhafte Sterben zu beenden. Der langanhaltende
Krieg destabilisiert die gesamte Region und Westeuropa.
5. Stimmen des „Globalen Südens“
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich dafür ein, die internationale Zusammenarbeit
Deutschlands postkolonial und antirassistisch auszurichten. Deshalb ist es uns
besonders wichtig, auf die Stimmen aus dem sogenannten „Globalen Süden“ zu
hören. Brasilien, Mexico, Indien, Indonesien, die Afrikanische Union und andere
Staaten haben Ideen und Initiativen für ein Ende des Krieges eingebracht. Diese
Ansätze wollen wir fördern und unterstützen. Denn wir wissen: In dieser
hocheskalierten Situation braucht es hilfreiche Dritte, die das Vertrauen beider
Kriegsparteien gewinnen können. Nur unter aktiver Beteiligung des Globalen
Südens kann realistischerweise ein Waffenstillstand ermöglicht und ein
Friedensprozess eingeleitet werden. So wird auch eine wünschenswerte Fortsetzung
der Friedenskonferenz in der Schweiz vermutlich in einem nicht-europäischen Land
stattfinden müssen, das nicht nur von der Ukraine, sondern auch von Russland als
Vermittler akzeptiert wird.
6. Vermittlungs- bzw. Kontaktgruppe
China hat sich zuletzt außenpolitisch – unabhängig von seinem Umgang mit
Menschenrechten im Inneren und seiner Taiwanpolitik – mehrfach als erfolgreicher
Vermittler in aktuellen Konflikten profiliert (Iran und Saudi Arabien, Fatah und
Hamas). China ist allerdings ein zunehmend wichtigerer Verbündeter Russlands und
kann deshalb aus westlicher Sicht schwerlich als neutraler Vermittler gelten.
Wenn auf westlicher Seite eine Bereitschaft zur Einleitung von im Rahmen des
Völkerrechts grundsätzlich ergebnisoffenen Verhandlungen zur Beendigung des
russischen Angriffskriegs besteht, könnte China in Kombination mit den USA auf
die aktiven Kriegsparteien – Russland und die Ukraine – in Richtung eines
Kriegsendes einwirken. China und die USA könnten ihre spezifischen Kompetenzen
gemeinsam mit anderen Staaten in eine größere Vermittlungs- bzw. Kontaktgruppe
einbringen. In diesem Fall könnten sich die nahen Beziehungen zwischen China und
Russland einerseits und zwischen den USA und der Ukraine andererseits als Chance
für das lang erhoffte Ende von Leid, Tod und Zerstörung in der Ukraine erweisen.
7. Eigenes Verhalten des Westens in den Blick nehmen
Wir wissen, wie wichtig es für einen Vertrauensaufbau ist, nicht reflexhaft die
andere Seite zu rügen, sondern selbstkritisch das eigene Verhalten in den Blick
zu nehmen. Wir prangern jeden völkerrechtswidrigen Angriff eines Landes auf ein
anderes an. Deshalb betonen wir an dieser Stelle ausdrücklich, dass der
völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht der einzige
seiner Art in den letzten Jahrzehnten ist. Wir erinnern beispielhaft an den von
der US-Regierung unter G.W. Bush geführten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
gegen den Irak 2003, den die damalige rot-grüne Bundesregierung aus guten
Gründen abgelehnt hat. Der Angriff der USA und ihrer „Koalition der Willigen“
auf den Irak erfolgte trotz fehlenden UN-Mandats. Die von den USA dem UN-
Sicherheitsrat vor dem Angriff vorgelegten angeblichen Beweise für eine Existenz
von Massenvernichtungswaffen im Irak erwiesen sich im Nachhinein als Lüge.
Unsere Zustimmung im Jahr 1999 zum – ebenfalls ohne Mandat des UN-
Sicherheitsrats erfolgten – Angriff der NATO auf Serbien, um einem befürchteten
Völkermord im Kosovo zuvorzukommen, war für uns eine „statthafte Ausnahme, aber
kein Präzedenzfall“. Wir müssen jedoch einräumen, dass Russland diesen NATO-
Angriff auf Serbien damals sehr wohl als Bruch des Völkerrechts eingeordnet hat
und ihn heute für seine Argumentation im Hinblick auf den eigenen Angriffskrieg
gegen die Ukraine benutzt.
8. Klimakrise erfordert globale Zusammenarbeit statt Aufrüstung
Die größte Herausforderung für die menschliche Sicherheit in unserer Zeit ist
und bleibt die Klimakrise. Ein Jahrhundert der Konfrontation und der Aufrüstung
kann sich die Menschheit nicht leisten. Nur gemeinsam können die Erderwärmung
gestoppt und ihre Folgen abgemildert werden. Dafür werden auch die Reform und
die Stärkung der globalen Institutionen, insbesondere der UN-Institutionen
notwendig sein.
Der Beginn eines ernsthaften Gesprächsprozesses aller direkt und indirekt
Beteiligten des Ukrainekriegs in Richtung Waffenstillstand und
Friedensverhandlungen wäre ein weltweites Hoffnungszeichen. Eine gemeinsame
Konfliktlösung stellt eine große Ermutigung dar, um die für das Überleben der
Menschheit als Ganzes wirklich wichtigen Aufgaben zusammen engagiert anzugehen.
Statt einer gefährlichen Aufrüstungsspirale können so wieder
Abrüstungsverhandlungen in Gang kommen. Dann können die Ressourcen, die momentan
für Militär und Rüstung eingeplant werden, für die dringend nötige Bekämpfung
der Klimakrise, des Artensterbens und die Stärkung des Naturschutzes verwendet
werden.
Bündnis 90/Die Grünen sind überzeugt, dass wir – als einzelne Menschen und als
gesamte Menschheit – über die Fähigkeit der konstruktiven Konflikttransformation
verfügen. Wenn wir gleichwertig und fair zusammenarbeiten, sind wir in der Lage,
die aktuellen Krisen und Konflikte zu meistern. Dafür setzen wir uns ein! Dieses
wichtige Zeichen der Hoffnung und Ermutigung wollen wir von diesem Parteitag
aussenden.
Resümee
Die EU und die NATO müssen zukünftig nicht nur mit möglichen russischen
Angriffen rechnen. Sie müssen vor allem ihre internationale Politik ändern, um
von den Ländern außerhalb unserer Bündnisse als glaubhafte Partner anerkannt zu
werden. Andernfalls droht eine breite Allianz gegen den Westen. Die von der
Ukraine geforderte Lieferung von weitreichenden Waffen und die Genehmigung ihres
Einsatzes befördert eine Eskalation.
Wir müssen als eine der führenden Mächte in Richtung einer nichtmilitärischen
Konfliktlösung aktiv werden. Ernsthafte diplomatische Lösungen und echte
Friedensverhandlungen müssen vorangetrieben werden. Dabei muss gleichzeitig die
militärische Unterstützung der Ukraine in der Verteidigung gegen die gemäß
Kapitel VII UN-Charta völkerrechtswidrigen Angriffe Russlands auf zivile Ziele
gestärkt werden. Wir als Bündnis 90/Die Grünen können und müssen eine starke
Stimme der Unterstützung für Sicherheit und Frieden sein – auch mit Blick auf
unsere Geschichte und unsere Beschlusslage. Wir müssen uns in unseren
bevorstehenden programmatischen Debatten und Wahlkämpfen auch dezidiert
positionieren.
Wir dürfen das Friedensthema nicht anderen Parteien in Deutschland überlassen.
Bündnis 90/Die Grünen müssen weiter als starker Partner an der Seite der Ukraine
stehen und gleichzeitig die Vermittlungsbemühungen des Globalen Südens fördern.
Wir dürfen die Menschen in der Ukraine nicht alleine lassen. Sie brauchen
dringend Frieden!
Die BDK beschließt vor dem Hintergrund dieser
kritischen Lage:
- diplomatische Initiativen neutraler Staaten (u.a. des Globalen Südens)
aktiv zu unterstützen und zu intensivieren mit dem Ziel, schnellstmöglich
einen Waffenstillstand und in der Folge Friedensverhandlungen einzuleiten
- auf die bisherigen Unterstützer Russlands wie BRICS oder Vermittler wie
die Türkei zuzugehen und deren Vorschläge (z.B. Chinas 12-Punkte-Plan)
aufzugreifen, um Bündnisse gegen die Ordnung der UN-Charta und des
Völkerrechtes zu verhindern
- eine deutliche Positionierung bezüglich Schutzgarantien für die Ukraine im
Fall eines Friedensschlusses zu erarbeiten
- eine deutliche Stärkung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit, vor allem
der zivilen Ziele – unter Einbeziehung von Konzepten sozialer
Verteidigung, aber auch eines funktionierenden „Iron Dome“ –, zu
ermöglichen
- uns klar zu positionieren, dass eine atomare Bewaffnung der Ukraine nicht
akzeptabel ist
- die Ukraine bei Aufbau und Stärkung einer dezentralen Energieinfrastruktur
zu unterstützen
- das außenpolitische Profil von Bündnis 90/Die Grünen als Partei
hervorzuheben, die konsequent an der Seite der Angegriffenen steht und für
die Bewahrung von Menschenrechten, unsere europäische Sicherheitsordnung
und eine regelbasierte Weltordnung, die sich auf die UN-Charta und das
Völkerrecht gründet, einsteht
- diese Fragen im (außenpolitischen) Programmprozess und im
Bundestagswahlkampf zu priorisieren.
- Es gibt ein großes Bedürfnis nach innerparteilicher Debatte bei diesem
Thema. Verschiedene grüne Grundüberzeugungen stehen hier in Konflikt
miteinander. Es handelt sich um eine Dilemma-Situation, in der es keine
einfache, schmerzlose Entscheidung gibt. Um Positionen für eine immer
weitgehendere militärische Unterstützung der Ukraine und Positionen für
eine (verstärkte) Unterstützung externer Verhandlungsbemühungen in ein
konstruktives Gespräch miteinander zu bringen, wird ein innerparteilicher
Gesprächsprozess initiiert. Der Bundesvorstand achtet darauf, dass in
diesem Gesprächsprozess beide Positionen gleichwertig beteiligt werden.
Aus diesem Gesprächsprozess ergeben sich die Formulierungen für das
Bundestagswahlprogramm.
Begründung der Dringlichkeit
aus Antragsverfahren
Begründung
Dieser Antrag ersetzt die Anträge D-01/02, D-01-031, D-01-060, D-01-065, D-01-065-2, D-01-081-2, D-01-092