Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | BAG Tierschutzpolitik (dort beschlossen am: 07.09.2024) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 22.09.2024, 20:47 |
V-05: Schwere gesundheitliche Probleme bei Legehennen und Masthühnern - Qualzuchten auch in der Landwirtschaft beenden
Antragstext
Die untragbaren Zustände der agrarindustriellen Tierhaltung sind weitreichend
bekannt. Ebenso untragbar, aber im Vergleich eher unbekannt, sind ihre
Qualzuchten. Weil wir mit Heimtieren direkt umgehen, sind uns dort eher Tiere
bekannt, denen bereits aufgrund ihrer gewünschten Zuchtmerkmale häufig kein
Leben ohne Schmerzen, Leiden oder Schäden möglich ist. Im Agrarbereich ist
dieses Tierleid weniger sichtbar oder wird sogar als „Leistung“ verbrämt, dient
aber der Optimierung des Geschäftsmodells – mit der Folge, dass auch andere
Betriebe nachziehen müssen. Wie bei Kühen und Schweinen werden das Staatsziel
Tierschutz sowie das Tierschutzgesetz durch die in der agrarindustriellen
Landwirtschaft eingesetzten Legehennen und die schnell wachsenden Masthybriden
ad absurdum geführt, die einseitig auf eine hohe Legeleistung und ein Maximum an
Fleischansatz gezüchtet wurden. Die so selektierte Zucht führt zu genetisch
bedingten Imbalancen und daraus folgenden Gesundheitsstörungen, die aktuell
mangels tiergestützter Indikatoren während regulärer Kontrollen zudem kaum
erfasst werden. Auch Puten und andere Vögel sind betroffen.
Eines der größten Tierschutzprobleme in der Legehennenhaltung sind
Brustbeinschäden. Bis zu 97 Prozent der Hennen einer Herde können von Frakturen
und bis zu 83 Prozent der Hennen von Deformationen betroffen sein.[1] In nahezu
allen Erzeugerbetrieben der konventionellen, aber auch der ökologischen
Eiererzeugung werden ausschließlich sogenannte spezialisierte Legehybride
eingesetzt, die auf eine Legeleistung von bis zu 330 Eiern/Jahr gezüchtet
wurden. Der dafür benötigte Nährstoffbedarf, z. B. von Kalzium, kann nicht
allein über die Nahrungsaufnahme kompensiert werden, was sich in Folge dessen
auf die Knochenstruktur auswirkt. Durch die hoch schmerzhaften Brustbeinbrüche,
oft sogar Mehrfachbrüche, und weiteren schmerzhaften Erkrankungen wie
Salpingitis (Eileiterentzündung), Kloakenprolaps (Vorfall der Kloake),
Peritonitis (Bauchfellentzündung) und Osteoporose (Knochenschwund) mit
ausgeprägten Gangstörungen, werden die Tiere meist nach einer Legeperiode, in
einem Alter von nur etwas über einem Jahr, geschlachtet.[2]
Bei Masthühnern können die Gefäße und das Bindegewebe nicht mit dem schnellen
Muskelwachstum mithalten. Ihnen ist zudem das natürliche Sättigungsgefühl
abgezüchtet worden. Sie nehmen pro Tag durchschnittlich etwa 70 Gramm
Körpergewicht zu und erreichen im Alter von etwa einem Monat ein Schlachtgewicht
von bis zu mehreren Kilogramm. Auf den Menschen übertragen bedeutet diese
Wachstumsgeschwindigkeit, dass ein dreijähriges Kind bereits das Körpergewicht
eines Erwachsenen hätte.[3] Auch die schlechten Haltungsbedingungen der
Elterntiere und die auf das Nötigste begrenzte Fütterung um Verfettung zu
vermeiden, d. h. permanenter Hunger und ein strapaziertes Immunsystem, werden
den Nachkommen in Form von Infektionen über Darm und beschädigter Ei-Cutikula
mitgegeben. In guter Praxis wird dem mit Probiotika begegnet. Meist erfolgt
jedoch ein Dauereinsatz von Antibiotika, da auch die genetisch bedingte zu
schnelle Gewichtszunahme der Tiere schmerzhafte Erkrankungen verursacht:
Ausgeprägte Gangstörungen, Absterben des Oberschenkelknochenkopfes und andere
Gelenkentzündungen. Außerdem sind Masthühner und -puten durch
Fußballenentzündungen und Entzündungen der Fersenhöcker betroffen, verursacht
durch schlechtes Management mit zu feuchter Einstreu, welche während eines
Durchgangs nicht gewechselt wird. Durch all diese Faktoren stirbt ein Teil der
Tiere vorzeitig, meist an plötzlichem Herztod. Atemwegsinfekte sind häufig.[4,5]
Die Folgen sind schwere Leiden und Schmerzen, die ein artgemäßes Verhalten nicht
zulassen. Dies verstößt neben dem „Qualzuchtparagrafen“ auch gegen Paragraf 2
des Tierschutzgesetzes, nachdem ein Tier angemessen ernährt, gepflegt und
verhaltensgerecht untergebracht werden muss sowie die Bewegung nicht derart
eingeschränkt werden darf, dass Schmerzen, Schäden oder Leiden erfolgen. Dies
ist in der konventionellen Tierhaltung regelmäßig der Fall. Selbst unter Bio-
Haltungsbedingungen wäre die Gesundheit dieser Zuchten deutlich schlechter als
von langsamer wachsenden Rassen für Bio-Freilandhaltung.[6,7] Auch langsamer
wachsende Masthybride weisen Qualzuchtmerkmale auf. Die Qualzucht und -haltung
funktioniert oftmals nur unter permanentem, prophylaktisch und metaphylaktisch
erfolgendem Einsatz von Antibiotika [6,7,8] mit entsprechender Auswirkung auf
die Ernährungssicherheit und Gesundheitsrisiken auch von uns Menschen durch
multiresistente Keime.[8]
Die bestehenden Regelungen werden einerseits aufgrund des im Tierschutzbereich
besonders häufigen Vollzugsdefizits kaum durchgesetzt, andererseits bestehen
systematische Lücken im Tierschutzgesetz, im Tierzuchtgesetz und in den
tierschutzrechtlichen Verordnungen. Wir setzen uns für eine Harmonisierung
zwischen EU-Tierzuchtrecht und dem für alle Tiere geltenden, nationalen
Tierschutzgesetz ein. Ebenso wie das Staatsziel Tierschutz sind die Forderungen
für die Behebung des Defizits der Qualzuchten im Bereich der landwirtschaftlich
genutzten Tiere zwei Jahrzehnte alt. Aber trotz eines Beschlusses des
Bundesrates[9] und zahlreicher anderer Vorstöße[10,11] und Rechtsgutachten[12]
wurden entsprechende Initiativen nie fertiggestellt.
Der Koalitionsvertrag besagt, bestehende Lücken in der
Nutztierhaltungsverordnung zu schließen und das Tierschutzgesetz zu verbessern –
unter anderem dadurch „Qualzucht“ zu konkretisieren. Diese Änderungen[vgl.13]
sind notwendig, denn Qualzuchten sind bereits seit Jahrzehnten verboten –
eigentlich. Aber jede*r, der die Bilder von beispielsweise Hühnern oder Puten
aus industrieller Tierhaltung kennt oder weiß, wie schnellwachsende Masthühner
aussehen, sieht, dass das Tierschutzgesetz in der Praxis kaum eine Wirkung hat.
Grundlegende Gutachten[13] sind veraltet oder betreffen hauptsächlich Heimtiere.
Außerdem gibt es keine brauchbare Liste, die definiert, was bei welcher Tierart
als Qualzucht-Merkmal gezählt werden muss. Erschwerend kommt hinzu, dass im
Einzelfall bewiesen werden muss, dass Schmerzen, Leiden oder Schäden ursächlich
und nachweislich auf die Zucht zurückzuführen sind – und nicht
„Produktionskrankheiten“ oder Folgen der gängigen „Qualhaltung“ sind.
Der 'Qualzuchtparagraf 11b des Tierschutzgesetzes soll bei gezüchteten Tieren
Schmerzen, Leiden oder Gesundheits- oder Verhaltensstörungen verhindern. Eine
Differenzierung zwischen "Heim"- und "Nutztieren" ist nicht vorgesehen. Die
Liste der Merkmale einer Qualzucht muss um solche erweitert werden, die die
physiologische Kompensationsfähigkeit des Stoffwechsels der landwirtschaftlich
genutzten Tiere überfordern.
Durch eine Übergangsfrist darf bereits aktuell rechtswidriges Handeln nicht zu
Lasten der Tiere künftig legalisiert werden. Das Tierzuchtgesetz und die
Allgemeine Verwaltungsvorschrift (AVV) zur Durchführung des Tierschutzgesetzes
müssen in diesem Sinne nachgeführt werden. Zusätzlich wäre die Erarbeitung einer
AVV Tierschutzüberwachung, analog der AVV Rahmenüberwachung in der
Lebensmittelüberwachung, wichtig, um eine bundesweit harmonisierte Durchführung
der amtlichen Überwachung im Tierschutz zu gewährleisten.
Generell dürfen sich aus der Zucht keine Belastungen für die Tiere ergeben,
insbesondere wenn in der Folge Schmerzen, Leiden, Schäden oder Angst beim Tier
selbst oder bei dessen Nachkommen nach objektiven Verhältnissen ernsthaft
möglich erscheinen. Bei Masthühnern, Puten und anderen Vögeln muss die maximale
tägliche Gewichtszunahme auf eine Prozent- oder Gewichtsgrenze begrenzt werden,
die Schmerzen, Leiden oder Schäden vermeidet. Dies schafft Rechtssicherheit und
entlastet Veterinär*innen und Gerichte von für den Vollzug aufwendigen
Einzelfallentscheidungen über erkrankte Einzeltiere.
Neben des Verbots der Haltung mit Ausnahme von Bestandshaltungen, sollten in
Anlehnung an den Paragrafen 8 des österreichischen Tierschutzgesetzes und in
Abstimmung mit der EU-Ebene ebenfalls die Vermittlung, die Weitergabe, der
Erwerb, der Import und darüber hinaus der Handel mit Tieren, die zuchtbedingte
Defekte aufweisen, verhindert werden. Das Verbot muss auch den Import von
Produkten umfassen, die von qualgezüchteten Tieren stammen. Gleichzeitig mit
einer Aktualisierung der gesetzlichen Regelungen wollen wir sicherstellen, dass
in den Ländern und Kommunen ein ausreichender Vollzug ermöglicht und
durchgeführt wird.
Wir begrüßen, dass der Lebensmitteleinzelhandel in den Niederlanden und Dänemark
in einem ersten Schritt den Ausstieg zumindest von den schnellstwachsenden
Masthühnern vollzieht. Wir wollen diesen Weg über eine Regulierung auf EU-Ebene
unterstützen und weiterführen, beispielsweise über eine Integration der
Verhinderung von Qualzuchten in der Landwirtschaft in die EU Tierzucht-
Verordnung 1012/2016.
Anstatt auf die Anpassung an industrielle Tierhaltung müssen sich die Forschung
und auch alle Zuchtbemühungen auf gesunde Zuchtlinien fokussieren, die den
Tieren die Möglichkeit zum Ausleben des artgemäßen Verhaltensspektrums gewähren.
Geringere Besatzdichten dürfen nicht durch größere Qualzuchten ausgeglichen
werden. Auch die Eltern- und Zuchttiere müssen ihrer Art und ihren Bedürfnissen
entsprechend gehalten werden. Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht als
vernünftiger Grund für das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden an Tieren
gelten. Dieser beim Töten von männlichen Küken vom Bundesverwaltungsgericht
festgelegte Grundsatz muss im Tierschutzgesetz übernommen werden, u. a. damit
Gerichte und Veterinärämter vermehrt sicherstellen, dass dem Anspruch des
Staatsziels Tierschutz im Grundgesetz genügt wird.[12]
[2] Dänische Studie zu Legehennen „Painful fractures: Large eggs push small hens
to the breaking point“ (2021): https://healthsciences.ku.dk/newsfaculty-
news/2021/09/painful-fractures-large-eggs-push-small-hens-to-the-breaking-point/
[3] Bülte, Jens / Felde, Barbara / Maisack, Christoph (Hrsg.) (2022): Reform des
Tierschutzrechts. Die Verwirklichung des Staatsziels Tierschutz de lege lata.
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748928478/reform-des-tierschutzrechts
[4] Rösler, Beatrice (2016): Untersuchungen von konventionell gehaltenen Ross
308 Masthühnern in einer angereicherten Haltungsumwelt unter dem Aspekt der
Tiergesundheit. Diss. Univ. München. https://edoc.ub.uni-
muenchen.de/19995/1/Roesler_Beatrice.pdf
[5] Knowles TG, Kestin SC, Haslam SM, Brown SN, Green LE, Butterworth A, et al.
(2008): Leg Disorders in Broiler Chickens: Prevalence, Risk Factors and
Prevention. PLoS ONE 3(2): e1545. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0001545
[8] Ebner, Rupert (2021): Antibiotika für Nutztiere: sinnvolle Therapie und
Missbrauch, in: Neussel, Walter (Hrsg.): Verantwortbare Landwirtschaft statt
Qualzucht und Qualhaltung, S. 167 ff.
https://www.oekom.de/_files_media/titel/leseproben/9783962383039.pdf
[9] BR-Drs. 36/03, Entschließung des Bundesrates zur Qualzucht.
https://www.bundesrat.de/bv.html?id=0036-03
[13] BMEL: „Gutachten zur Auslegung von Paragraf 11b des Tierschutzgesetzes“,
26.10.2005. https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-
paragraf11b.html
Begründung
Immer mehr Hühner, Puten und Enten sind betroffen: In den vergangenen Jahrzehnten ist der Pro-Kopf- Konsum von Geflügelfleisch in Deutschland gestiegen. Während im Jahr 1991 pro Person etwa 7,3 Kilogramm Geflügelfleisch konsumiert wurden, lag der Pro-Kopf-Verbrauch im Jahr 2022 bereits bei 12,7 Kilogramm. Damit hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch fast verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch insgesamt jedoch um knapp zwölf Kilogramm zurückgegangen.[A] Auch der Verbrauch von Eiern steigt – aktuell sind es 230 Eier pro Kopf und Jahr, insbesondere über verarbeitete Produkte und überwiegend aus dem niedrigsten Standard der „Bodenhaltung“ stammend.[B] Gerade Geflügelfleisch wird als typisches Billigfleisch vermarktet und liegt pro Kilo preislich unter Früchten oder Gemüse. Die Last dieser Entwicklung tragen die leidensfähigen Lebewesen mit einem im Freiland reichen Repertoire an Verhaltensweisen, dessen Ausleben neben der Haltung auch allein durch die Qualzuchtmerkmale verhindert wird.
Durch die Kombination von Qualzucht und dem steigenden Konsum dieser Arten ist es dringender denn je, dieses Problem anzugehen.
Änderungsanträge
- V-05-140 (BAG Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (dort beschlossen am: 29.09.2024), Eingereicht)