Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | BAG Tierschutzpolitik (dort beschlossen am: 07.09.2024) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 22.09.2024, 20:38 |
V-06: Tiere sind keine Sachen! Demokratiedefizit angehen, Interessenvertretung von Tieren in der Demokratie stärken
Antragstext
Tiere sind in unserer Gesellschaft aufgrund ihrer faktischen Wert- und
Rechtlosigkeit und des bestehenden Vollzugsdefizits schweren strukturellen
Missständen[1] ausgesetzt. Dies liegt auch an ihrer ungenügenden politischen und
rechtlichen Vertretung.[2] Wie für andere vulnerable und marginalisierte Gruppen
unserer Gesellschaft existiert ein Demokratiedefizit[3], wenn Nicht-Betroffene
über Betroffene entscheiden, die selbst nicht wählen können, wie z. B. auch für
Kinder, zukünftige Generationen oder Einwohner*innen ohne deutsche
Staatsbürgerschaft. Um diesem Demokratiedefizit für Tiere zu begegnen, brauchen
wir:
Erst in diesem Frühjahr haben nach Auswertung der aktuellen Studienlage namhafte
Wissenschaftler*innen mit der “New York Declaration on Animal Consciousness”[4]
eben dies angemahnt: Wenn unsere Entscheidungen Tiere betreffen, ist es
unverantwortlich, die neuesten Erkenntnisse zu ignorieren. Daher fordern wir
eine zeitgemäße Politik für Tiere und eine progressive Lösungssuche, wie sie
besser in unserer Demokratie repräsentiert werden können.
Das Tierschutzgesetz und die verschiedenen Verordnungen beziehen im Moment zu
wenig die Interessen der Tiere selbst ein. Darin bedarf es zur Zeit nur eines
"vernünftigen Grundes”, der durch die vorherrschende gesellschaftliche Meinung
darüber bestimmt wird, was als akzeptabel gilt und was nicht, um einem Tier
Schmerzen, Leiden, Schäden zuzufügen. Wirtschaftliche Gründe sollen jedoch nicht
als vernünftiger Grund gelten.
Die Tierschutzbeauftragten auf Landes- und Bundesebene können über die
Beratungsfunktion hinaus ihrer Aufklärungs- und Kontrollfunktion viel besser
gerecht werden, wenn sie früher und besser eingebunden werden. Durch Auskunfts-
und Akteneinsichtsrechte, Beanstandungs- und Klagerechte, eigene Medienarbeit
für die Aufklärungsfunktion, ausreichend Fachpersonal und finanzielle Mittel.
Ihre fachliche und dienstliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit muss
gesetzlich abgesichert sein.
Tierschutzbeiräte auf Landes- und Bundesebene wie die Bundestierschutzkommission
haben großes Potenzial, werden jedoch im Moment von Multistakeholderism[6] und
Tierschutzwashing bestimmt. Sie müssen um ihrer Kontrollfunktion gerecht zu
werden mit Expert*innen aus dem Tierschutzbereich besetzt und öffentlich und
transparent in Prozesse der Exekutive und Legislative eingebunden werden.
Akteur*innen aus der Landwirtschaft usw. können für den Austausch hinzugeladen
werden.[7]
Besserer interdisziplinärer Austausch und Unterstützung der Veterinärämter durch
mehr Expertise für Tierschutz bei Polizei und Verwaltung sowie
Schwerpunktdezernate für Tierschutzrecht in den Staatsanwaltschaften und
Gutachterstellen. Um das personell und fachlich zu gewährleisten, braucht es
verstärkt Tierschutzrecht in der Jurist*innenausbildung und
verwaltungswissenschaftliches und juristisches Wissen für Veterinäre,
gegebenenfalls Tierschutz-Masterstudiengänge. Auch das Konzept der
Tieranwält*innen[8] sollte diskutiert werden, d. h. Anwält*innen, die in
behördlichen und gerichtlichen Verfahren stellvertretend für die Tiere
ausschließlich deren Interessen durchsetzen.
Das Verbandsklagerecht auf der Landes- und Bundesebene ist ein zusätzliches, gut
unterstützendes Mittel der Interessenvertretung von Tieren und der Umsetzung des
Staatsziels Tierschutz, so wie es sich auch beim Umweltschutz etabliert hat.
Nötige Verbesserungen wie u. a. die finanzielle Unterstützung der Verbände bei
der Durchführung oder Schadensersatz für Verbände bei Verletzung von
Tierschutzrecht müssen hier dringend diskutiert werden.
In den Parlamenten gibt es häufig tierschutzpolitische Zuständigkeiten in den
Fraktionen. Doch ist dies oft nicht ihr einziges Fachgebiet, außerdem sind sie
ihren Parteien und Fraktionen verpflichtet. Es ist daher zweifelhaft, ob Tiere
damit politisch ausreichend repräsentiert sind. Unabhängige
Tierrepräsentant*innen könnten ein Weg sein, wobei die Frage zu lösen wäre, wie
sie gewählt oder besetzt werden.[9] Jede politische Entscheidung, die Tiere
tangiert, sollte auch aus Tierperspektive bewertet werden. Nicht-staatliche
Repräsentant*innen müssten anerkannt und besser eingebunden werden. In British
Columbia, Kanada, werden bereits Microboards umgesetzt, um Menschen mit
bestimmten Behinderungen besser zu repräsentieren.
Auf Ebene der Bundesregierung ist der Tierschutz bislang dem Bundesministerium
für Ernährung und Landwirtschaft zugeordnet, das bringt naturgemäß große
Interessenskonflikte mit sich. Um sie zu vermeiden, muss der Tierschutz einem
neutraleren Ministerium oder einer eigenständigen Struktur zugeordnet werden,
unter Nennung des Begriffs “Tiere”. Auch die australischen Grünen und die
australische Labor Partei vertreten diese Position.[10]
Auf der EU-Ebene: Ein/e EU-Kommissar*in oder eine explizite politische
Tierschutzzuständigkeit in der EU-Kommission mit einem entsprechenden Ausschuss
für Tierschutz im EU-Parlament.[11] Während ein Drittel der EU-Gelder in
Agrarsubventionen fließen, sollten EU-[12] und auch Bundesfördermittel
Tierschutzprojekte nachhaltig absichern.
Auf der globalen Ebene: Tierschutz als Nachhaltigkeitsziel, also als weiteres
Sustainable Development Goal (SDG)[13], wie in unserem aktuellen EU-Wahlprogramm
beschlossen, ein UN-Tierschutzprogramm und eine UN-Tierschutz-Konvention[14]
(“Welttierschutzgesetz”)[15], damit die Tierschutzstandards weltweit endlich
Schritt für Schritt angehoben werden. Ein globaler Ideenaustausch, die
Überprüfung von Best Practices auf ihre Übertragbarkeit in vorhandene Strukturen
bzw. ihre Anpassung und eine bessere internationale Zusammenarbeit sind eine
wichtige Voraussetzung dafür.
Im Bereich der politischen Repräsentation müssen die politische Theorie[16] und
Konzepte wie Multispecies oder Interspecies Democracy[17], Zoodemocracy[18] oder
Bruno Latours “Parlament der Dinge”[19] weitergedacht und auf Praxistauglichkeit
überprüft werden, z. B. durch Machbarkeitsstudien oder Pilotprojekte. Das
Projekt Organismendemokratie[20] z. B. führt seit 2018 an verschiedenen
deutschen und internationalen Orten Parlamente durch, in denen die vorkommenden
Spezies durch Menschen vertreten und Beschlüsse umgesetzt werden. Dabei werden
demokratische Prinzipien und wohldurchdachte Strukturen, wie auch fundiertes
Fachwissen angewandt.
Im rechtlichen Bereich brauchen Tiere einen Paradigmenwechsel der
Schutzkategorie. Für Tiere gibt es bisher keinen besseren Status, als dass sie
“keine Sachen” sind (das sind sie faktisch aber doch, denn man kann sie kaufen
und besitzen) und “auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften
entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist”.[21] Diese
rechtliche Lücke zu schließen beschäftigt Wissenschaft und Justiz weltweit. Die
Vielzahl existierender und neu hinzukommender Konzepte, wie der Schutzstatus von
Tieren sinnvoll rechtlich abgebildet werden kann, muss interdisziplinär und in
internationaler Kooperation zu einem praxistauglichen gemeinsamen Konzept
weiterentwickelt werden. Beispiele solcher Konzepte sind: Rechte der Natur[22],
Legal Animalhood[23], Tiere als Rechtssubjekte[24], tierliche
Persönlichkeit[25], eine Zuerkennung der Verletzteneigenschaft eines Tieres an
anerkannte Tierschutzorganisationen, die es vertreten, tierliches
Existenzminimum mit einer Liste objektiver Interessen und tierspezifische
Grundrechte[26]. Sie bilden tierspezifische Bedürfnisse und Kommunikationsformen
ab und sind nicht gleichzusetzen mit menschlichen Grundrechten, die menschliche
Bedürfnisse abbilden. Auch müsste es ein passendes Konzept sein, das nicht nur
herkömmliche Annahmen zu Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit,
Leidensfähigkeit oder gar Bewusstsein einbezieht, denn der Kenntnisstand der
Biologie verändert sich ständig.
Wir wissen viel zu wenig über die Wahrnehmung anderer Lebewesen und verstehen
ihre Kommunikationsformen nicht. Der erkenntnistheoretische Anthropozentrismus
muss überwunden, tierliches Wissen und tierliche Sprachen als wertvoll angesehen
und in den rechtlichen und politischen Aushandlungen berücksichtigt werden.
Cooke, Steve: Perpetual Strangers: Animals and the Cosmopolitan Right, in:
Political Studies, 2014, 62:4 S.930-944. https://theconversation.com/non-human-
democracy-our-political-vocabulary-has-no-room-for-animals-51401
[3] Ahlhaus, Svenja. 2014 „Tiere im Parlament? Für ein neues Verständnis
politischer Repräsentation.“, in: Mittelweg 36 23, Nr. 5: 59–73.
https://www.eurozine.com/tiere-im-parlament/
Ahlhaus, Svenja/ Niesen, Peter (Hrsg.): Animal Politics. A New Research Agenda
in Political Theory, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung
40, 2015. https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-
sowi/professuren/niesen/archiv/ahlhaus-niesen-what-is-animal-politics-intro.pdf
[4] “The New York Declaration on Animal Consciousness” April 2024
https://sites.google.com/nyu.edu/nydeclaration/declaration
Bolliger, Gieri/ Goetschel, Antoine F.: Wahrnehmung tierlicher Interessen im
Straf- und Verwaltungsverfahren: (unter besonderer Berücksichtigung der
Situation des Tierschutzrechtsvollzugs im Kanton Zürich), in: Schriften zum Tier
im Recht, Band 3, Zürich/ Basel/ Genf, 2011 (Erstveröffentlichung 2001),
Schulthess Verlag.
[9] Ahlhaus, Svenja. 2014 „Tiere im Parlament? Für ein neues Verständnis
politischer Repräsentation.“, in: Mittelweg 36 23, Nr. 5: 59–73.
https://www.eurozine.com/tiere-im-parlament/
Cochrane, Alasdair: An Introduction to Animals and Political Theory. 2010,
Palgrave MacMillan; https://www.sheffield.ac.uk/politics/people/academic-
staff/alasdair-cochrane
[23] Pérez Castelló, Pablo: A Strategic Proposal for Legally Protecting Wild
Animals, in: Journal of International Wildlife Law & Policy, 2022, 5:2, S.103-
134. https://www.crimejusticejournal.com/article/view/2598
Begründung
Es gibt eine breite interdisziplinäre Diskussion zu diesem Thema in der Wissenschaft, die wir in die Praxis tragen wollen.