Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | BAG Tierschutzpolitik (dort beschlossen am: 07.09.2024) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 25.09.2024, 22:32 |
V-10: Vertrauen in den Rechtsstaat stärken - Schluss mit Vollzugsdefizit und rechtsfreiem Raum im Tierschutz!
Antragstext
Als Teil der Ampelregierung bringen wir aktuell ein neues Tierschutzgesetz auf
den Weg. Wir haben in Deutschland, einem der reichsten Industrieländer der Welt,
ein Tierschutzgesetz, welches jedes Einzeltier schützt. Trotzdem leiden und
sterben in diesem Land, mit einem Netz aus Veterinärämtern und
Staatsanwaltschaften, viele Tiere durch rechtswidrige Haltungsbedingungen und
andere Misshandlungen.
Der Alltag sind Kontrollfrequenzen für Tierschutzkontrollen in
landwirtschaftlichen Betrieben von im Bundesdurchschnitt 17 Jahren [1] und eine
Nichtverfolgungsquote von mehr als 94% bei Tierschutzverstößen [2]. Ermittlungen
werden gar nicht erst aufgenommen, es folgen kaum Anklagen, kaum Verurteilungen,
Freiheitsstrafen werden aufgrund von Tierschutzdelikten so gut wie nie verhängt,
die meisten Strafverfahren eingestellt [3]. In Bayern wird durchschnittlich
sogar nur alle 48 Jahre kontrolliert [4]. Hier stirbt jedes fünfte Schwein und
Rind vor der Schlachtung [5]. Ein bestimmter Prozentsatz an toten Tieren wird
einfach als Kollateralschaden betrachtet [6]. Ständig neue verdeckte Aufnahmen
zeigen einen grausamen Umgang mit Tieren [7]. Leider keine Einzelfälle, sondern
strukturelle Missstände.
In unserem Land wird das Tierschutzrecht von den zuständigen Veterinärbehörden
und Staatsanwaltschaften nicht ausreichend durchgesetzt. Dieses Vollzugsdefizit
hat mehrere Ursachen, unter anderem die faktische Wert- und Wehrlosigkeit von
Tieren und deren mangelnde Vertretung.
Eine Abwärtsspirale ist die Folge: Nichtverfolgung suggeriert Legalität. Sind
Verstöße erst einmal eingewöhnt und toleriert, werden sie als
betriebswirtschaftliche Notwendigkeit gerechtfertigt. Anzeigen sind wirkungslos.
Das Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet. Im Strafrecht kann hier von
institutionalisierter Agrarkriminalität [8] oder Wirtschaftskriminalität
gesprochen werden, die zur Wettbewerbsverzerrung führt [9].
Wir wollen aus der Abwärts- eine Aufwärtsspirale machen. Aus dem 'race to the
bottom' muss ein 'race to the top' werden, bei dem hohe Tierschutzstandards
eingehalten werden und kein Wettbewerbsnachteil für gute landwirtschaftliche
Tierhalter*innen mehr sind.
Der nächste Schritt ist daher folgerichtig, das jahrzehntelang bestehende
Vollzugsdefizit anzupacken [10, 11], um den Neuerungen im Tierschutzgesetz zum
Erfolg zu verhelfen. Gemeinsam setzen wir uns auf der Bundes- und Länderebene
dafür ein
und werden daher:
verbindliche Mindestkontrollfrequenzen für die tierschutzrechtliche
Überwachung von landwirtschaftlichen Tierhaltungen bundesweit vorgeben.
die Mittel- und Personalausstattung der Veterinärämter in den Landkreisen
und kreisfreien Städten der Länder verbessern - angemessen für die an sie
übertragenen Aufgaben und zweckgebunden für den Tierschutz.
unabhängige, vertrauliche Anlaufstellen für Amtstierärzt*innen schaffen
mit - auch anonymer - psychologischer und juristischer Beratung und dem
Angebot der Supervision.
die Justiz und juristische Ausbildung im Tierschutz stärken indem wir
ein Mitwirkungs- und Verbandsklagerecht im gesamten Bundesgebiet
einführen,
anerkannten Tierschutzorganisationen in Stellvertretung die
Verletzteneigenschaft des Tieres zuerkennen, damit diese
Klageerzwingungsverfahren betreiben können,
ein Schwerpunktdezernat für Tierschutzrecht in jeder Staatsanwaltschaft,
jedem Amts- und Verwaltungsgericht einrichten,
Tierschutz als Pflichtbestandteil in die Jurist*innenausbildungsgesetze
der Länder aufnehmen,
unabhängige Gutachter*innenstellen in den Ländern schaffen.
die Tierschutzgesetzgebung evaluieren, an aktuelle wissenschaftliche
Erkenntnisse anpassen und laufend verbessern, unter anderem indem wir:
die Tierschutzstraftatbestände in das Strafgesetzbuch überführen,
das Mindeststrafmaß für Tierschutz-Grundstraftatbestände auf 5 Jahre
anheben,
landwirtschaftliche Tierhaltungen erlaubnispflichtig machen,
verwaltungsakzessorische Straftatbestände einführen,
interdisziplinäre Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für
Amtstierärzt*innen, amtliche Tierärzt*innen, Staatsanwält*innen, Polizei
und Verwaltung, sowie eine Fortbildungsverpflichtung für Richter*innen
einführen.
Agrarkriminalität unter Wirtschaftsgesichtspunkten konsequent verfolgen
und dazu unabhängige, kompetente und wirksame Tierschutzkontrollen
gewährleisten:
interdisziplinäre Sondereinheiten für die Kontrolle von Großbetrieben in
den Ländern einführen (ähnlich der Kontrollbehörde für
Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (KBLV) in Bayern),
die Gewerbeaufsicht einbinden, um Gewinnabschöpfung als Mittel gegen
illegal erwirtschaftete Gewinne aus Tierschutzdelikten einzuziehen,
Inhaber*innen und Leitungspersonal landwirtschaftlicher Betriebe
sanktionieren (nicht nur ausführende Mitarbeiter*innen).
ein bundesweites Register zur Überwachung von Tierhaltungs- und
Betreuungsuntersagungen und -verboten einführen, um diese landes- und
bundesweit zu vollziehen.
eine bundesweit abrufbare Betriebskontrolldatenbank schaffen, die es der
amtlichen Kontrolle ermöglicht, risikobasierte Tierschutzkontrollen in
landwirtschaftlichen Tierhaltungen durchzuführen. Die Erfassung tier- und
altersgruppenbezogene Mortalitäten, Schlachttier- und
Fleischuntersuchungsbefunde wie auch Ergebnisse betriebsbezogener
Falltieruntersuchungen sind dafür nötig. Diese Daten sind der amtlichen
Kontrolle wie auch den bestandsbetreuenden Tierärzt*innen zugänglich zu
machen und sollen als Grundlage für ein evidenzbasiertes, bundesweites
Tierschutz-Monitoring dienen.
mehr unabhängige Tierschutzforschung öffentlich finanzieren.
Über die den Vollzug stärkenden Maßnahmen hinaus bedarf es weiterer Maßnahmen
der besseren Interessenvertretung von Tieren und der Institutionalisierung von
Tierschutz, um die strukturellen Missstände angehen zu können. Darunter die
Dauereinrichtung von unabhängigen, hauptamtlichen Landestierschutzbeauftragten
in allen Bundesländern, die praktische Umsetzung der breiten interdisziplinären
Diskussion in der Wissenschaft zu politischen und rechtlichen
Repräsentationsformen von Tieren und einem Paradigmenwechsel der rechtlichen
Schutzkategorie.
[1] „Fünf Prozent dürfen zugrunde gehen“, Interview mit Elisa Hoven und Johanna
Hahn, Zeit Nr. 28/2022; https://www.zeit.de/2022/28/tierquaelerei-nutztiere-
haltung-kriminalitaet
[2] Bülte, J.; Dihlmann, A.-L.: Reform des Tierschutzkriminalstrafrechts zur
effektiven Bekämpfung von Tierquälerei, in der Reihe „Das Recht der Tiere und
der Landwirtschaft“, Reform des Tierschutzrechts: die Verwirklichung des
Staatsziels Tierschutz de lege lata, Band 12, 2022, S. 23-80, Nomos Verlag,
https://madoc.bib.uni-mannheim.de/64050/1/9783748928478-23.pdf
[3] Hahn, Johanna/ Hoven, Elisa (Hrsg.): Strafrechtliche Verfolgung von
Tierschutzkriminalität in der Landwirtschaft. Eine empirische Untersuchung, in:
Das Recht der Tiere und der Landwirtschaft Bd. 13, Baden-Baden, 2022.
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748934943/strafrechtliche-verfolgung-
von-tierschutzkriminalitaet-in-der-landwirtschaft?page=1
[4] Bundestagsdrucksache 19/3195, 03.07.2018, Vollzug von Tier- und
Verbraucherschutzrecht; https://dserver.bundestag.de/btd/19/031/1903195.pdf
[5] „20 Prozent der Kühe und Schweine verenden vor Schlachtung“, 4. Juni 2022,
Zeit online, Quelle: dpa Bayern, https://www.zeit.de/news/2022-06/04/20-prozent-
der-kuehe-und-schweine-verenden-vor-schlachtung
[6] Zu den Produktionskennzahlen der Ferkelerzeugung gehört eine sieben
prozentige Mortalität bei Sauen und Saugferkelverluste von 15 Prozent. Siehe:
Deblitz, C, Verhaagh M, Efken J (2023) Steckbriefe zur Tierhaltung in
Deutschland: Ferkelerzeugung und Schweinemast. Braunschweig: Thünen-Institut für
Betriebswirtschaft, https://www.thuenen.de/media/ti-
themenfelder/Nutztierhaltung_und_Aquakultur/Haltungsverfahren_in_Deutschland/Sch-
weinehaltung/Steckbrief_Schweine_2023.pdf
[7] Tierschutz-Skandale, Karte der Tierquälerei in Deutschland, Aninova e.V.,
https://tierschutz-skandale.de/
[8] Bülte, Jens: Zur faktischen Straflosigkeit institutionalisierter
Agrarkriminalität, https://www.jura.uni-
mannheim.de/media/Lehrstuehle/jura/Buelte/Dokumente/Veroeffentlichungen/Buelte__-
Zur_faktischen_Straflosigkeit_institutionalisierter_Agrarkriminalitaet__GA_2018_-
_35-56.pdf
[9] Bülte, Jens: Legalität und Realität bei der Verfolgung von
Agrarkriminalität, in: Beisel, Horst/Verrel, Torsten/Laue, Christian/Meier,
Bernd-Dieter/Hartmann, Arthur/Hermann, Dieter (Hrsg.): Die
Kriminalwissenschaften als Teil der Humanwissenschaften: Festschrift für Dieter
Dölling zum 70. Geburtstag, Baden-Baden, 2023, S.91–103.
[10] Positionspapier Vollzugsdefizite im Tierschutz 27.01.2021, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, BAG Tierschutzpolitik; https://gruene-bag-
tierschutzpolitik.de/userspace/NW/bag_tierschutzpolitik/Dokumente/Beschluesse/20-
21_01_Vollzugsdefizite.pdf
[11] Anhang zum Positionspapier „Vollzugsdefizite im Tierschutz“ 27.01.2021,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BAG Tierschutzpolitik; https://gruene-bag-
tierschutzpolitik.de/userspace/NW/bag_tierschutzpolitik/Dokumente/Beschluesse/20-
21_01_Vollzugsdefizite_Anhang.pdf
Begründung
Die Situation im Tierschutzvollzug ist seit Jahrzehnten prekär. Mit einer Stärkung haben wir die Chance, die von uns auf den Weg gebrachten tierschutzrechtlichen Verbesserungen in die Tat umzusetzen.
Die BAG Tierschutzpolitik hat ein Positionspapier „Vollzugsdefizite im Tierschutz“ mit ausführlichem Anhang erstellt: https://gruene-bag-tierschutzpolitik.de/userspace/NW/bag_tierschutzpolitik/Dokumente/Beschluesse/20-21_01_Vollzugsdefizite.pdf