Die im Programm gewählte Formulierung ist nicht dringlich genug:
Die Anfang Dezember erschienene Studie „Zur Aktualität kosmetischer Operationen ‚uneindeutiger‘ Genitalien im Kindesalter“ stellt fest, dass im untersuchten Zeitraum zwischen 2005 und 2014 jedes Jahr rund 1.700 Kinder zwischen null und neun Jahren operiert werden. Die Datenanalyse hat gezeigt, dass dabei die Anzahl der klassischen Intersexdiagnosen gesunken, aber die Zahl der Diagnosen, die zu den „Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale“ zu rechnen sind, erheblich gestiegen ist.
Zu vermuten ist, dass die Ärzte die Veränderung der Leitlinien zur Behandlung von Kindern mit klassischen Intersex-Diagnosen so verarbeitet haben, dass sie die Diagnosen verändert haben und die Operationen weiterhin durchführen. Bis zur Überarbeitung der medizinischen Behandlungsleitlinien für kosmetische Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern rieten diese bei „Störungen der sexuellen Differenzierung“ zu einer operativen „Korrektur“ eines „uneindeutigen“ Genitals.
Die Anpassung an das als (für Babys!) normal empfundene Aussehen der Geschlechtsteile sollte idealerweise innerhalb der ersten sechs Lebensmonate erfolgen. Dass die Kinder nicht gefragt wurden, versteht sich von selbst. Viele Ärzt*innen und Eltern sind weiterhin überzeugt, dass eine „geschlechtsangleichende“ Operation das Kind vor gesellschaftlicher Diskriminierung, Spott und zudringlichen Fragen bewahren wird, also dem „Kindeswohl“ dient. Die invasiven und irreversiblen Eingriffe können aber schwere Folgen für das geistige und körperliche Wohlergehen der Kinder haben und müssen daher als Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit gewertet werden.
Die Studie wurde vom Bundesfamilienministerium gefördert, das allerdings nicht die daraus notwendigen Schlüsse ziehen will. Der Ende Oktober 2016 veröffentlichte Zwischenbericht des Ministeriums zur Situation von inter- und transsexuellen Menschen geht auf nur sehr wenige Forderungen der Interessensvertretungen intergeschlechtlicher Menschen ein. Die Stärkung nicht diskriminierender Beratung, auf die das Ministerium fokussiert, ist notwendig, aber keineswegs hinreichend. Da diese Operationen Menschenrechtsverletzungen darstellen, kann es nicht den Eltern überlassen werden, sie durchzuführen oder nicht.
Damit jetzt schon Betroffene nachvollziehen können, was mit ihren Körpern gemacht wurde, müssen so schnell wie möglich die Aufbewahrungsfristen für die Krankenakten über die jetzigen zehn Jahre hinaus verlängert und der Beginn der Verjährungsfristen auf das Erreichen der Volljährigkeit festgesetzt werden. Dafür zu sorgen, dass diese menschenrechtsverletzenden Eingriffe beendet werden, erfordert mehr als Beratung und das Vertrauen auf die Selbstregelung der Ärzteschaft – gerade wenn man die Beweise präsentiert bekommen hat, dass letztere unter anderem Label Business als usual machen.
Ein eindeutiges Verbot von kosmetischen Genitaloperationen wäre ein gesellschaftliches Signal, dass das Kindeswohl eben darin besteht, ein Kind so sein zu lassen, wie es ist.
Kommentare