Veranstaltung: | 1. Ordentlicher Länderrat 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | C Corona und die Folgen |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | 1. Digitaler Länderrat |
Beschlossen am: | 01.05.2020 |
Eingereicht: | 03.06.2020, 12:32 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Das Recht auf Asyl gilt uneingeschränkt – auch in der Krise
Beschlusstext
Die zivilisatorische Errungenschaft des individuellen Rechts auf Asyl ist einer
der menschenrechtlichen Grundpfeiler des internationalen und deutschen Rechts
und der Europäischen Union. Es muss geschützt werden, zu jeder Zeit. Doch schon
vor der Pandemie haben die Mitgliedstaaten der EU es nicht vermocht, dieses
Recht zu achten und gemeinsam zu schützen. Sie ließen zu und lassen bis heute
zu, dass Menschen auf der Flucht ertrinken und in überfüllten Lagern auf
europäischem Boden monate- und jahrelang feststecken. Eine solidarische
Verteilung der Menschen, die nach Europa kommen, wurde bislang ebenso wenig
erreicht wie ein gemeinsames europäisches Asylsystem.
Jetzt, in Zeiten der Krise, drohen diese Versäumnisse zu einer noch größeren
Katastrophe zu werden: Die von einigen Ländern der EU zugesagte Verteilung
besonders schutzbedürftiger Menschen aus den überfüllten Lagern auf den
griechischen Inseln verzögert sich lebensgefährlich. Und auch auf dem Mittelmeer
haben sich die EU-Mitgliedsstaaten aus der Verantwortung gezogen. Wenn
Schutzsuchende im zentralen Mittelmeer gerettet werden, verdanken wir das einzig
und allein dem Engagement der ehrenamtlichen Seenotrettungsorganisationen. Die
Pandemie stellt jeden EU-Mitgliedstaat vor schwierige Herausforderungen.
Momentan wird sie jedoch als Vorwand genutzt, um Hilfsorganisationen beim Retten
von Menschenleben zu behindern und die staatliche Seenotrettung weiter
auszusetzen. All das nun mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit des Virus, auf
fehlende gesundheitliche Ressourcen in Südeuropa und aus Angst vor weiteren
Infizierten. Doch Europa darf Menschen nicht ertrinken lassen.
Das Corona-Virus unterscheidet nicht nach Herkunft, Religion oder Aussehen. Es
fragt nicht danach, ob wir aus Deutschland, Afghanistan oder Syrien sind. Es
gefährdet uns alle. Und es ist, nach den Worten des Bundespräsidenten, eine
Prüfung für unsere Menschlichkeit. Für uns GRÜNE ist klar, dass wir diese Krise
nur gemeinsam meistern können. Wir riskieren keine Toten, wo wir Leben retten
können – nicht hier, aber auch nicht in Italien, Griechenland oder auf dem
Mittelmeer. Wir setzen europäische Werte und Solidarität nicht aufs Spiel, wo
sie dringender denn je gebraucht werden. Wir haben ein Ziel: Wir lassen
niemanden zurück, auch nicht die Geflüchteten in Deutschland und an den
europäischen Außengrenzen.
Schutzbedürftige aufnehmen, menschenwürdige Bedingungen schaffen, vor Corona
schützen
Durch die Corona-Krise hat sich die Verteilung der Menschen aus den überfüllten
Lagern auf den griechischen Inseln nochmal lebensgefährlich verzögert.
Eigentlich hatten Anfang März sieben Mitgliedstaaten angekündigt, insgesamt
1.600 besonders Schutzbedürftige von dort aufzunehmen. Doch bis heute haben
lediglich Luxemburg und Deutschland Menschen zu sich geholt – zusammen insgesamt
59 Kinder. Das ist nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Mehr als 35.000 Geflüchtete stecken auf den griechischen Inseln fest, 18.000
alleine im Camp Moria auf Lesbos, das ursprünglich für 3.000 Menschen konzipiert
war. Es fehlt an Medikamenten, Toiletten, Platz zum Abstandhalten. Nicht einmal
fließend Wasser gibt es jeden Tag. Niemand kann sich dort ausreichend vor einer
Ansteckung mit dem COVID-19-Virus schützen. Auf ganz Lesbos gibt es nur sechs
Intensivbetten. Angesichts dieser Bedingungen ist es nur nachvollziehbar, dass
die Geflüchteten große Angst um sich und ihre Liebsten in den Camps haben, wenn
das Virus dort ankommt. Dass die Bundesregierung es nach langem Ringen geschafft
hat, gerade einmal rund 50 Kinder aufzunehmen, ist unter diesen Umständen
beschämend.
Viele Städte und Gemeinden in Deutschland und auch in anderen europäischen
Staaten, selbst ganze Bundesländer haben ihre Bereitschaft signalisiert, viel
mehr Menschen aufzunehmen. Darum müssen nun sofort als erstes die besonders
schutzbedürftigen Menschen, also unbegleitete Kinder und Jugendliche, Familien,
Schwangere, chronisch Kranke, traumatisierte Personen, Menschen mit Behinderung
und Ältere von den Inseln geholt werden. Die Bundesländer, die deutlich erklärt
haben, dass sie Kapazitäten für mehr Menschen haben und aufnehmen wollen, müssen
nun aktiv werden, Landesaufnahmeanordnungen erlassen und mit dem
Bundesinnenminister ein Einvernehmen über die Aufnahme herstellen. Doch einzelne
Bundesländer können die Probleme der Europäischen Asylpolitik nicht im
Alleingang lösen. Sie können nur ihren Beitrag leisten und vom
Bundesinnenministerium einfordern, dass Deutschland die eigenen Möglichkeiten
nutzt und endlich Verantwortung übernimmt. Die hierzulande vorhandenen
Kapazitäten dürfen nicht ungenutzt bleiben.
Wir GRÜNE fordern, in den nächsten Wochen zuerst die besonders schutzbedürftigen
Menschen, wie unbegleitete Minderjährige, Familien mit kleinen Kindern oder
Corona-Risikofälle zu evakuieren. Familien dürfen nicht auseinandergerissen
werden, auch wenn sie durchs enge Raster der Kernfamilien-Definition in der
Dublin-Verordnung fallen. Es ist absurd, wenn ein minderjähriger Junge nach
Deutschland kommt und von seiner Schwester getrennt wird, die mit einem kleinen
Kind in Moria zurückbleibt.
Aufgrund der Ausbreitung von COVID-19 können derzeit viele Visa mangels
Flugverbindungen nicht genutzt werden und verfallen. Daher braucht es einen
großzügigen Umgang mit Fristen und Verlängerungen von bereits ausgestellten
Visa. Da dies auch den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten in
Deutschland betrifft, der ohnehin auf maximal 1.000 Menschen pro Monat begrenzt
ist, fordern wir die Übertragung nicht ausgeschöpfter Kontingente auf die Zeit,
in der konsularischer Betrieb wieder vollumfänglich aufgenommen werden kann und
Flugverbindungen existieren. Sobald es wieder möglich ist, sollten die
Visaabteilungen personell aufgestockt werden, um zügig die aufgestauten Anträge
abarbeiten zu können.
Um Menschen nicht noch länger im Ungewissen zu lassen, setzen wir uns dafür ein,
die 6-monatige Dublin-Rücküberstellungfrist nicht zu verlängern oder
auszusetzen, sondern die Zuständigkeit für das Asylverfahren nach Ablauf der
Frist anzuerkennen.
Auch die EU-Kommission muss ihren Teil dazu beitragen, die menschenunwürdige
Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln zu beenden und dabei
unterstützen, dass die sichere Aufnahme der Geflüchteten in anderen EU-
Mitgliedstaaten finanziert wird. Statt 280 Millionen Euro dafür auszugeben,
überfüllte Lager einige Kilometer weiter durch geschlossene Freiluftgefängnisse
für die Geflüchteten zu ersetzen, sollte die medizinische und humanitäre
Versorgung der Menschen verbessert werden.
Häfen öffnen, Menschenleben retten
Über Ostern wurde von überfüllten Booten im Mittelmeer berichtet, die Notrufe
abgesetzt hatten, jedoch von den maltesischen und italienischen Behörden
ignoriert wurden. Die Bundesregierung forderte von den Seenotrettungs-NGOs sogar
einen Stopp ihrer Rettungseinsätze im Mittelmeer. Damit unterstützt Deutschland
die Blockadepolitik Italiens, Maltas und anderer Mitgliedstaaten und nimmt in
Kauf, dass Menschen im Mittelmeer sterben oder aber in libysche Folterlager
zurückgebracht werden, wo auf sie die Hölle auf Erden wartet. Das ist zutiefst
unmenschlich.
Im zentralen Mittelmeer trotzen zivilgesellschaftliche Seenotretter*innen der
tödlichen Blockadepolitik und retten auch in Zeiten von Corona so viele Leben
wie nur möglich. Wir GRÜNE stehen an der Seite dieser starken und solidarischen
Zivilgesellschaft und stellen uns ihrer zunehmenden Kriminalisierung entgegen.
Die Pandemie erfordert zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen, aber sie entbindet einen
nicht von der Pflicht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die Häfen Italiens
und Maltas sind offen, es fahren täglich Schiffe ein und aus. Es gibt keinen
Grund, sie ausgerechnet für Rettungsschiffe zu schließen.
Wir GRÜNE fordern, dass sich die Bundesregierung gemeinsam mit anderen
Mitgliedstaaten und der EU-Kommission dafür einsetzt, dass Italien und Malta
ihre Häfen für Rettungsschiffe wieder öffnen. Und wir brauchen dringend und
weiterhin ein europäisches Seenotrettungsprogramm für das Mittelmeer, zu dem
auch Deutschland mit Booten seinen Beitrag leisten muss.
Um eine mögliche Ausbreitung des Virus zu verhindern, können Schutzsuchende auf
derzeit still liegenden Fähren und Kreuzfahrtschiffen in 14-tägige Quarantäne
gebracht werden. Danach muss eine Verteilung der Menschen auf EU- Staaten
erfolgen. Hierfür braucht es eine Neuauflage und Erweiterung des Abkommens von
Malta aus dem vergangenen September.
Ein gerechtes und effizientes Europäisches Asylsystem voranbringen
Wir GRÜNE setzen uns für eine Reform des Europäischen Asylsystems ein. Dabei
müssen faire, zügige und rechtsstaatliche Verfahren überall in Europa genauso
wie ein funktionierender Verteilmechanismus im Zentrum stehen. Langwierige
Verfahren, Zulässigkeitsprüfungen und Vorprüfungen von Asylanträgen führen zu
unmenschlichen Situationen wie derzeit auf den griechischen Inseln. Und genau
das wollen wir vermeiden. Schutzsuchende müssen deshalb an den Außengrenzen
schnell registriert werden, einen Gesundheitscheck und Sicherheitskontrollen
durchlaufen und dann rasch auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Die
Erstunterbringung muss menschenwürdig sein und medizinische Versorgung sowie
Schutzkonzepte für Frauen, Kinder und weitere besonders vulnerbale Gruppen
garantieren. Ein Campieren unter Plastikplanen oder gar unter freiem Himmel ist
mit Menschenrechtsstandards unvereinbar. Auch muss eine unabhängige
Rechtsberatung sichergestellt sein. Kapazitäten der Aufnahmezentren dürfen nicht
überschritten werden.
Um Schutzsuchende gerecht zu verteilen, setzen wir auf einen Ansatz, der das
Potenzial der Solidarität in Europa voll ausschöpft. Hunderte von Städten und
Gemeinden in Europa haben sich bereit erklärt, Asylsuchende aufzunehmen. Für uns
ist das der Ausgangspunkt. Wer helfen will, muss helfen können. Dabei müssen EU-
Gelder zur Unterstützung bereitgestellt werden. Die Blockadepolitik einzelner
Mitgliedstaaten darf nicht länger ein menschenwürdiges Asylsystem verhindern.
Deshalb setzen wir auf positive Anreize zur Stärkung der Solidarität. Wenn die
freiwilligen Kapazitäten erschöpft sind und weitere Plätze für Asylsuchende
benötigt werden sollten sich in einem weiteren Schritt alle Mitgliedsstaaten
solidarisch beteiligen. Mitgliedstaaten, die sich grundsätzlich gegen die
Aufnahme von Schutzsuchenden sperren, sollen stattdessen einen angemessenen
finanziellen Beitrag leisten und sich so an einem funktionierenden Europäischen
Asylsystem beteiligen. Der finanzielle Beitrag muss mindestens die tatsächlichen
Kosten für die Aufnahme von Geflüchteten entsprechen und denjenigen
Mitgliedsstaaten zugutekommen, die bereit sind, weitere Schutzsuchende
aufzunehmen. Auf diese Weise werden die Anreize für die Verteilung von
denjenigen mitfinanziert, die den Schutz von Geflüchteten in Europa
grundsätzlich ablehnen.
Wir wollen, dass Anknüpfungspunkte von Asylsuchenden an einen bestimmten
Mitgliedstaat, wie familiäre Bindungen, Sprachkenntnisse oder frühere
Aufenthalte, bei der Verteilung so weit wie möglich berücksichtigt werden. Das
verbessert die Aussichten auf Integration und verringert die Anreize, irregulär
in einen anderen Mitgliedstaat weiterzuziehen.
Die Europäische Kommission muss prinzipiell dafür sorgen, dass Geflüchtete
überall in Europa Perspektiven haben. Missstände wie inhumane Zustände in
Flüchtlingsunterkünften, illegale Pushbacks und Gewalt an der Grenze müssen ein
Ende haben. Die Europäische Kommission darf nicht vor
Vertragsverletzungsverfahren und Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten
zurückschrecken, welche die Werte und Rechte der EU nicht respektieren.
Geflüchtete auch hierzulande schützen
Im Kampf gegen die Ausbreitung des Corona-Virus darf es keine doppelten
Standards geben. Auch Geflüchtete müssen vor Corona geschützt werden – weltweit
und hier in Deutschland. Neben zwingenden Hygieneplänen für eine Entzerrung
innerhalb der Erstaufnahmeeinrichtungen und in Gemeinschaftsunterkünften muss
eine sofortige Umverteilung von mindestens den Risikogruppen und den
schutzbedürftigen Personen in die Kommunen erfolgen.
Abschiebungen sind derzeit faktisch ausgesetzt, da der Flugverkehr nahezu
eingestellt wurde. Es ist auch aus menschrechtlicher Sicht absolut inakzeptabel,
in Zeiten einer Pandemie an Abschiebungen festzuhalten, wie es die
Bundesregierung jedoch tut. Sie gefährdet damit nicht nur die Geflüchteten,
sondern auch die beteiligten Beamt*innen und das Bordpersonal.
Neben den 16 Landesintegrationsbeauftragten und zahlreichen Flüchtlings- und
Menschenrechtsorganisationen fordern auch wir GRÜNE, Abschiebungen ausnahmslos
auszusetzen. Dafür soll ein Abschiebestopp aus humanitären Gründen erlassen und
die Abschiebhaft entsprechend ausgesetzt werden. Das BAMF und die
Ausländerbehörden sollten keine negativen Bescheide mehr ausstellen, da
Beratungsstellen und Anwält*innen nur eingeschränkt arbeitsfähig sind. Alle in
Deutschland lebenden Menschen sollten unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus
uneingeschränkt Zugang zu unserem Gesundheitssystem haben. Auch bei den
Sozialleistungen muss darauf geachtet werden, dass Empfänger*innen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz bei den Hilfspaketen nicht vergessen werden.