Veranstaltung: | 1. Ordentlicher Länderrat 2020 |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | C Corona und die Folgen |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | 1. Digitaler Länderrat |
Beschlossen am: | 01.05.2020 |
Eingereicht: | 03.06.2020, 09:47 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Eindämmung, Erholung und Erneuerung
Beschlusstext
Das Corona-Virus hat die Menschheit in einen Ausnahmezustand versetzt. Wir
betrauern bereits über 200.000 Tote und großes Leid. Um die Pandemie zu
bekämpfen, wurde das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben auf der ganzen
Welt weitgehend angehalten, mit dramatischen Auswirkungen: Menschen verlieren
ihre Arbeit, sozialer Stress und häusliche Gewalt nehmen zu. Die Welt steht vor
einer tiefgreifenden Rezession.
Noch befinden wir uns mitten in der Pandemie. Es gilt – mit aller Kraft – die
Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten und zugleich einen sozialen und
ökonomischen Zusammenbruch zu verhindern. Dafür müssen wir weiter große Vorsicht
walten lassen und lernen, für eine längere Zeit mit dem Virus zu leben und es
zugleich immer besser und zielgenauer zu bekämpfen.
Corona ist eine globale Herausforderung, auf die es eine globale Antwort geben
muss. Kein Staat kann sie allein bewältigen. Das gilt vor allem für uns in
Europa. Wir müssen Wege aus der Krise konsequent europäisch denken. Nur
europäisch kommen wir durch diese schwere Zeit, nur gemeinsam werden wir die
Pandemie bekämpfen und unsere Wirtschaft wieder auf die Beine bringen können.
Europas Zusammenhalt hat bereits großen Schaden genommen. Wir müssen jetzt alles
dafür tun, dass das Friedensprojekt Europa zum historischen Kurs der Integration
zurückfindet.
Niemand weiß, wie lange diese globale Ausnahmesituation andauern wird, niemand
kann das tatsächliche Ausmaß und die Auswirkungen wirklich absehen. Aber die
Krise zeigt uns bereits heute, wie wichtig vorausschauendes politisches Handeln
ist. An unserer Zukunftsfähigkeit und Krisenresilienz zu arbeiten, wird am Ende
den Unterschied machen.
In der Not zeigt sich, worauf es ankommt: auf Gemeinsinn, Solidarität und
Humanität. Auf die Erkenntnis, dass deutsche und europäische Interessen eins
sind. Auf starke internationale Institutionen. Auf die Robustheit von
Wirtschaft, Gesundheits- und Sozialsystemen und den Erhalt unserer natürlichen
Lebensgrundlagen. Auf eine starke Daseinsvorsorge. Auf die Stärke derer, die man
in der Gesellschaft oft nicht sieht: Lastwagenfahrer*innen, Erntehelfer*innen,
Kassierer*innen, Reinigungskräfte und Pfleger*innen. Den Mitarbeiter*innen in
den Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Forschungseinrichtungen, bei den
Medizinproduktherstellern, in den Arztpraxen, bei Bundeswehr, Polizei und
Feuerwehr, den Rettungskräften oder den zahlreichen Krisenstäben. Auf die vielen
Frauen, die nicht nur in schlecht bezahlten Care-Berufen, sondern auch in vielen
Familien alles am Laufen halten. Ihnen allen schulden wir nicht nur Dank,
sondern ein Versprechen für die Zukunft: Anerkennung, Gleichberechtigung,
bessere Löhne. Eine neue Politik der Sicherheit – vorsorgend, widerstandsfähig,
umfassend und europäisch. Wir brauchen ein neues, ein nachhaltiges
Sicherheitsversprechen.
Dass diese Erkenntnis über den Tag hinaus Bestand hat, ist nicht
selbstverständlich. Wir stehen an einer Wegscheide. Schreiben wir eine alte
Politik, die alte Brüchigkeit, die alten Probleme fort und schaffen damit neue?
Oder treiben wir beherzt die nötigen Veränderungen voran und bauen Wirtschaft
und Gesellschaft auf festem Grund wieder auf? Wir sind überzeugt, dass nur ein
politischer Aufbruch nachhaltig aus der Krise führt. Nur, wenn wir Dinge
grundlegend verändern, wenn wir aus Bekenntnis Wirklichkeit machen, werden wir
diese und die anderen großen Herausforderungen – allen voran die Klimakrise –
bewältigen. Widerstandsfähig gegen globale Krisen zu sein, ist der Schlüssel für
eine neue Sicherheit im 21. Jahrhundert.
Corona und die Bekämpfung des Virus werden unser aller Leben, die
gesellschaftlichen Debatten und die Politik noch lange Zeit prägen. Nach der
Pandemie wird unsere Welt eine andere sein. Doch mit jedem Schritt voran – und
sei er noch so klein – öffnet sich auch ein Fenster in die Zukunft.
Demokratie bewährt sich gerade in der Krise. Sie ist ein lernendes System, in
dem mündige Bürgerinnen und Bürger frei über ihre Zukunft diskutieren. Das ist
die Voraussetzung für Innovation. Aus den jetzigen Erfahrungen können und müssen
wir Lehren für die Zukunft ziehen. Mit Corona enden die politischen Debatten
nicht, sondern sie beginnen neu.
I. Handeln in der Pandemie
Deutschland hat die Pandemie entschlossen bekämpft und bislang das
Gesundheitssystem vor einem Kollaps geschützt. Aber noch ist nichts gewonnen.
Solange ein Impfstoff nicht verfügbar ist, wird das Corona-Virus eine andauernde
Gefahr bleiben und wir werden voraussichtlich noch lange mit weitreichenden
Einschränkungen leben müssen. Wir müssen fundiert darüber sprechen, wo und wie
Lockerungen bei den jetzigen Beschränkungen stufenweise und unter der Prämisse
möglich sind, dass unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Der von der
Bundesregierung geplante allgemeine Immunitätsausweis ist kontraproduktiv, weil
er ein Anreiz sein kann, sich mutwillig zu infizieren. Zudem ist sein
gesellschaftliches Spaltungspotential enorm, Diskriminierungen in Privatleben,
Beruf und öffentlichem Raum könnten seine Folge sein. Wir lehnen ihn ab.
In dieser Ausnahmezeit ist Verhältnismäßigkeit das Gebot der Stunde. Es ist die
Verantwortung des Staates immer wieder zu prüfen, ob die massiven
Grundrechtseinschränkungen verhältnismäßig sind und ob es mildere Mittel gibt.
Einschränkungen, genauso wie schrittweise Lockerungen, müssen entlang von
klaren, nachvollziehbaren Kriterien so transparent wie möglich erklärt werden,
um Verständnis, Akzeptanz und Vertrauen zu schaffen. Die Einschränkungen müssen
geeignet, erforderlich und angemessen sein, die Folgewirkungen in den Blick
nehmen, mögliche Alternativen betrachten und gründlich abgewogen werden. Sie
sind zeitlich zu befristen und immer wieder aufs Neue zu begründen. Während es
im Shutdown eine große Geschlossenheit gab, droht sich die Gesellschaft in
Phasen der Lockerung zu spalten. Statt sich in Durchhalteparolen und
Lockerungsübungen aufzureiben, brauchen wir eine andere, zielgenauere Strategie
zur Bekämpfung des Virus, die auf Tests, schneller Nachvollziehbarkeit von
Infektionen und auf Schutzmaßnahmen beruht. Wir müssen jetzt daran arbeiten,
dass die Voraussetzungen dafür vor allem in den sensiblen Bereichen geschaffen
werden. Lockerungen müssen sich am Gemeinwohl orientieren und dürfen nicht davon
abhängen, welche Lobbygruppe die stärksten Einflussmöglichkeiten hat.
Mit dem Shutdown haben Bund und Länder die massivsten Grundrechtseingriffe in
der Geschichte der Bundesrepublik sowie beispiellose Hilfspakete beschlossen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben diese Maßnahmen im Bundestag und auf Ebene der
Landesregierungen mitgetragen, Vorschläge eingebracht und damit zu einem
schnellen, geschlossenen Handeln beigetragen. Auch so konnte breites Vertrauen
in den notwendigen Shutdown entstehen. Wir stehen bereit, auch weiter die Last
mit zu schultern. Dafür treiben wir mit eigenen Vorschlägen an, wo
Handlungsbedarf besteht und bremsen, wo nötig. Fraktionen und Parlamente sind
von den Regierungen im Bund und in den Ländern zwingend mit einzubinden. Sie
sind der Ort der demokratischen Debatte, auch in Krisenzeiten. Es ist unsere
Verantwortung, diese Vorgänge nicht nur jetzt kritisch zu begleiten, sondern
nach Bewältigung der Krise umfassend, fair und solidarisch aufzuarbeiten, Fehler
zu erkennen um bessere Konzepte für die Zukunft zu erarbeiten.
Bei allem gesellschaftlichen Zusammenstehen werden jetzt zunehmend die
politischen Versäumnisse der Bundesregierung sichtbar. Mit der gleichen
Vehemenz, mit der wir in den Shutdown gegangen sind muss eine funktionierende,
europäisch koordinierte Pandemiewirtschaft aufgebaut werden, die sich am
globalen Bedarf orientiert. Viele Unternehmen im Land sind bereit zu helfen und
ihre Produktion auf elementar notwendige Schutzgüter umzustellen. Doch wenn die
Bundesregierung nicht koordiniert, funktioniert es nicht. Wir brauchen
zuverlässige Zahlen über den notwendigen Bedarf, Abnahmegarantien,
gegebenenfalls Investitionshilfen und Koordination bei Engpässen in den
Lieferketten.
Testkapazitäten und die Versorgung mit Mund-Nasen-Masken müssen drastisch
gesteigert werden. Die Ausstattung mit Schutzkleidung ist gerade für die
sozialen Hilfeeinrichtungen, für die Kinder- und Jugendhilfe,
Frauenberatungsstellen, Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte
für Schutzsuchende oder die Obdachlosenhilfe jetzt notwendig, nicht später. Sie
müssen ebenso wie Pflegeheime mit Schutzmasken ausgestattet werden. Wir
benötigen eine datenschutzkonforme, pan-europäische, freiwillige Corona-Tracing-
App als wichtigen Baustein der Epidemiebekämpfung. Die Abläufe in den
Gesundheitsämtern müssen verbessert, beschleunigt und digitaler werden, es
braucht ausreichend Personal zur gezielten Verfolgung von Infektionsketten und
Quarantänebegleitung. Eine Corona-Tracing-App ist ein weiterer wichtiger
Baustein – auch europaweit – zur Eindämmung des Virus. Sie muss schnellstmöglich
bereitstehen, auf uneingeschränkter Freiwilligkeit beruhen, quelloffen und
interoperabel sein und den höchsten Standards beim Datenschutz und der IT-
Sicherheit genügen. Die Daten dürfen nur auf den Endgeräten verarbeitet weden.
Diese Prinzipien müssen gesetzlich abgesichert werden.
Die Krise befeuert die sozialen Probleme und zeigt, wer keine Lobby hat:
Familien, vor allem Alleinerziehende, und Kinder. So verschärft die Schließung
von Schulen und Kindergärten die Chancenungleichheit für Kinder dramatisch.
Zwischen "komplett geschlossen" und "alle sofort wieder rein", muss es Raum für
Verhältnismäßigkeit und pragmatische Lösungen geben – tageweiser
Kleingruppenunterricht, Schüler-Lehrer-Gespräche. Wenn im Betrieb Schichtsysteme
eingeführt werden, klappt das auch in der Kita. Der Staat hat eine
Fürsorgepflicht für Kinder und einen Bildungsauftrag.
Wenn die Gesellschaft unter Druck gerät, bekommen marginalisierte und vulnerable
Gruppen, beispielsweise Geflüchtete, Menschen mit Behinderung und wohnungslose
Menschen, die Folgen der Corona-Krise zu spüren. Wie eine Gesellschaft mit
diesen Gruppen und Minderheiten umgehen, ist ein Seismograph für die Stärke
unserer Demokratie – nicht nur, aber eben gerade auch in Krisenzeiten.
Mit neuer Wucht wird sichtbar, wie sehr unser gesellschaftliches Leben und damit
auch unser wirtschaftlicher Wohlstand immer noch darauf beruht, dass Frauen
Kinder betreuen, sich ums Essen kümmern oder die Wohnung putzen. Kinderbetreuung
darf aber nicht zur Privatsache werden, Familien müssen auf den Staat bauen
können. Nötig ist zudem ein großer, umfassender sozialer Schutzschirm, der auch
jene schützt, die arm sind, obdachlos, die Stress, Verhetzungen im Netz,
häuslicher Gewalt, Depressionen oder Suizidgefahr ausgesetzt sind.
Je länger die Pandemie andauert, umso stärker rückt die Frage in den
Vordergrund: Wie mit der Bedrohung durch das Virus leben lernen, ohne das
öffentliche Leben langfristig drastischen Einschränkungen zu unterwerfen? Wir
müssen uns jeden Tag aufs Neue – auch mit Blick auf eine mögliche neue Corona-
Welle – damit auseinandersetzen, wie wir unter Pandemie-Bedingungen Bildung,
Betreuung, Wirtschaft und Handel, Kultur- und Freizeitangebote sowie nicht
zuletzt chancengleiche Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben
organisieren, während wir gleichzeitig die Menschen bestmöglich vor Ansteckung
schützen.
II. Klimakrise und Corona gemeinsam bekämpfen
Die Welt steht vor einer tiefgreifenden Rezession. Der internationale
Währungsfonds prognostiziert, dass Corona zur schlimmsten Wirtschaftskrise seit
der großen Depression der 1930er Jahre führen wird. Das ist eine tiefgreifende
wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Herausforderung, der wir uns in
Europa gemeinsam und mit aller Kraft stellen müssen. Bei den nationalen
Maßnahmen zur Bekämpfung der ökonomischen Folgen der Coronakrise muss ein
weiteres soziales und wirtschaftliches Auseinanderklaffen zwischen den
Mitgliedstaaten unbedingt verhindert werden. Die Konjunkturprogramme müssen
deshalb europäisch gedacht bzw. in Europa aufeinander abgestimmt sein,
beispielsweise verknüpft über den Green Deal, damit sich alle Länder im
europäischen Binnenmarkt entwickeln können. Niemand wird es alleine schaffen.
Für dieses historische Moment gibt es keine Blaupause. Die wirtschaftlichen
Auswirkungen treffen fast alle Lebensbereiche und Branchen, aber sie treffen
diese sehr unterschiedlich. Manche Unternehmen können dank Homeoffice nahezu
weiter machen wie vor der Krise, haben aber weniger Aufträge. Einige verbleiben
vielleicht noch monatelang im Shutdown und sehen kaum noch eine Perspektive.
Andere können mit deutlichen Beschränkungen langsam wieder aufmachen, aber ihre
Lieferketten funktionieren nicht. Dazu kommt, dass wir mit den
wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht die gesundheitspolitischen konterkarieren
dürfen.
Anders als nach der Finanzkrise werden wir uns in Deutschland dieses Mal nicht
einfach aus der Rezession herausexportieren können. Die Nachfrage ist global
eingebrochen. Und wir müssen eine Antwort darauf finden, dass sich alte soziale
Schieflagen durch Corona verschärfen und neue auftun.
Bei all dem ist es die zweite große Aufgabe unserer Zeit, die Klimakrise zu
bewältigen. Wir erleben nach zwei Hitzesommern schon die nächste Dürre.
Knochentrockene Äcker, Waldbrände im April, das ist auch die Realität in unserem
Land. Und gegen die Klimakrise wird es keinen Impfstoff geben. Nicht in diesem
Jahr und auch in keinem anderen. Wir werden als Weltgemeinschaft scheitern, wenn
die jetzt geplanten Maßnahmen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen noch
beschleunigen.
Es ist daher entscheidend, jetzt die Weichen richtig zu stellen. Ohne Frage ist
die Rezession mit voller Kraft zu bekämpfen, Jobs und Wettbewerbsfähigkeit zu
erhalten. Tun wir das aber mit einer alten Politik und alten Mitteln,
produzieren wir neue Unsicherheit und steuern auf gigantische soziale und
wirtschaftliche Schäden zu. Unser Handlungsrahmen müssen der Pariser
Klimavertrag und die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung sein.
Vor der Pandemie hatte ein breites Bündnis aus Unternehmen, Klimabewegung,
Gewerkschaften, Forscher*innen und Wissenschaftler*innen die Chancen erkannt,
die in einem Aufbruch liegen, der Klimaschutz, ökonomische Dynamik und sozialen
Ausgleich zusammenbringt. Das Leitbild unseres Handelns ist klar: Wir brauchen
eine konsequente Transformation nach den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft hin
zu nachhaltigen Materialien, Ressourcen- und Energieeffizienz.
Kreislaufwirtschaft fördert Innovation und sichert Zukunftsfähigkeit und Chancen
auf allen Märkten. Wir haben eine doppelte Aufgabe und doppelte Chance: die
durch Corona bedingte Wirtschaftskrise und die Klimakrise zusammen anzugehen.
Herzstück des Auswegs aus der Krise muss der Europäische Green Deal sein. Ersten
Versuchen, diesen unter dem Deckmantel der Corona-Pandemie aufzuweichen oder in
Teilen zu verschieben, stellen wir uns entschieden entgegen. Der Green Deal muss
zum Pakt für die ökologisch-soziale Transformation der Wirtschaft werden.
Es wird massive Anstrengungen und beispiellose Programme brauchen, um diese
Herausforderungen zu lösen. Jetzt ist die Zeit großer und kreativer Antworten
und entschlossenen Handelns. Wir müssen auf der einen Seite kurzfristig
stimulieren und stabilisieren und zudem den Kurs in Richtung Klimaneutralität
und Zukunftsfähigkeit setzen. Dabei ist völlig klar: Ein solches
Konjunkturprogramm ist auch innerhalb von vielen Jahren so nur ein Mal leistbar.
Umso entschiedener und vorausschauender muss jetzt der richtige Weg zum
Wiederaufbau eingeschlagen werden.
III. Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise – sozial und ökologisch
Es braucht Direkthilfen für die Branchen, die im Shutdown stillstehen müssen,
und Konjunkturstimuli für die, die langsam wieder anlaufen.
Dabei ist klar, dass aus Steuermitteln finanzierte Wirtschaftshilfen in der
Rezession an Vorgaben gekoppelt werden müssen: Wenn Aktienkonzerne Dividenden
oder den Manager*innen Boni auszahlen, können sie keine Hilfe vom Staat
erwarten. Unternehmen, die in der Krise mit staatlichen Geldern unterstützt
wurden und in Zukunft wieder Dividenden auszahlen wollen, müssen diese Hilfen an
den Staat zurückzahlen. Unternehmen, die Staatshilfe beantragen, sollten
zunächst offenlegen müssen, in welchem Land sie welchen Gewinn machen und wie
viele Steuern sie zahlen. Öffentliche Gelder dürfen unter keinen Umständen dazu
beitragen, dass bestehende Steuerschlupflöcher gar geweitet werden. Staatliche
Beteiligungen an Unternehmen sind an die Bedingung von ökologischen und sozialen
Kriterien für die jeweiligen Branchen gebunden. Wenn der Staat sich mit
Steuergeldern an Unternehmen beteiligt, muss er auch Mitspracherechte haben und
Einfluss auf die Unternehmensstrategie nehmen können, wie private Investoren
auch.
Für dieses Jahr sollte ein deutsches Konjunktur-Sofortprogramm von etwa 100
Milliarden Euro vorbereitet werden, das dann schnell greifen kann, wenn die
medizinische Lage ein stärkeres Wiederanfahren des ökonomischen Lebens erlaubt.
Stimulieren wir dann schnell die Konjunktur, verhindern wir, dass Millionen
Menschen in unserem Land durch die Folgen von Corona in Existenznöte geraten,
Pleitewellen unsere Innenstädte veröden lassen, dass das, was uns lieb und teuer
ist, Kultur, Reisen, dauerhaften Schaden nimmt. Es braucht dabei Unterstützung
gerade für die Schwächsten. Die Maßnahmen sind auf die Dauer der
Krisenbewältigung zu befristen und immer wieder zu überprüfen.
Für dieses Sofortprogramm schlagen wir folgende Eckpunkte vor:
Lokalen Einzelhandel stärken – Pleitewellen verhindern
- Der lokale Einzelhandel und insbesondere die inhabergeführte Gastronomie
sowie Kultureinrichtungen leiden durch die Krise massiv. Der
Strukturwandel des Handels in Richtung online hat sich beschleunigt, es
droht eine Insolvenzwelle im stationären Handel. Um eine Verödung der
Innenstädte zu verhindern, schlagen wir für die zweite Jahreshälfte einen
Fonds in Höhe von 20 Milliarden Euro vor. Mit direkten Zuschüssen und
Kaufanreizen in Form von Kauf-vor-Ort-Gutscheinen wollen wir den Erhalt
der Strukturen im Einzelhandel, der Gastronomie und im Kulturleben
sichern. Darüber hinaus wollen wir insbesondere den stationären Fachhandel
und inhabergeführte Läden bei der Digitalisierung und der strukturellen,
regionalen Verankerung digitaler Geschäftsmodelle unterstützen. Die
Einführung von zusätzlichen kostenlosen Nahverkehrsangeboten für den
Einkaufsverkehr kann ebenfalls helfen, den Konsum anzureizen. Die
Gastronomie kann zudem durch eine Ausweitung von Ausschankflächen im
Freien, die die Einhaltung von Abstandsregelung ermöglichen, unterstützt
werden. Dazu sollen wo immer möglich öffentliche Flächen und Parkplätze
zeitlich befristet der Gastronomie zur Verfügung gestellt werden.
- Es braucht zudem gezielt einen Fonds für die weiterhin geschlossene
Kreativ- und Veranstaltungswirtschaft, um deren Fortbestand zu sichern,
dies ist wirksamer und fairer als das von der Bundesregierung geplante
Umtauschsystem.
Soziale Absicherung verbessern – Kaufkraft erhalten
- Zur Deckung der steigenden Kosten während der Pandemie soll ein
monatlicher Zuschlag auf die Grundsicherung (SGB II, SGB XII, AsylBlG) von
100 Euro monatlich für Erwachsene gewährt werden. Statt Mittagessen per
Lieferdienst, wie die Bundesregierung es plant, fordern wir einen
monatlichen Zuschlag von 60€ für anspruchsberechtigte Kinder und
Jugendliche nach dem Bildungs- und Teilhabepaket, der automatisch
ausgezahlt wird. Der derzeit erleichterte Zugang zur Grundsicherung muss
für alle Menschen gelten, um ein Zwei-Klassen-System zu verhindern. Dazu
muss sie als individuelle Leistung, ohne Anrechnung von
Partner*inneneinkommen gewährt werden.
- Wir wollen zudem temporär das BAföG auch für Studierende öffnen, die sonst
nicht förderberechtigt sind, da ihnen derzeit vielfach die
Nebenverdienstmöglichkeiten wegbrechen.
- Solange Kitas und Schulen nicht wieder in vollem Umfang geöffnet haben,
sollen Eltern, die deshalb ihre Kinder betreuen, die Möglichkeit haben, in
Elternzeit zu gehen und dafür ein Corona-Elterngeld erhalten. Das
Elterngeld soll so gestaltet sein, dass es Anreize für eine
gleichberechtigte Kinderbetreuung setzt.
- Das Kurzarbeiter*innengeld soll auf 90 Prozent für Einkommen bis 1.300
Euro erhöht und bis zu 2.300 Euro degressiv auf 60 Prozent abgesenkt
werden. Wir wollen verhindern, dass kleine Selbständige einen Antrag auf
Grundsicherung stellen müssen. In Bereichen, die einen längeren Shutdown
erfahren, soll deshalb eine Art Kurzarbeiter*innengeld gezahlt werden. Die
Leistung sollte bei 55 Prozent des jeweiligen Steuergewinns der letzten
Jahre liegen, maximal bei 1.500 Euro/Monat.
- Wir wollen Privat- und Gewerbemieter*innen entlasten. Der krisenbedingte
Verlust der eigenen Wohnung muss verhindert werden. Über die Maßnahmen der
Bundesregierung hinaus braucht es daher finanzielle Unterstützung von
Mieter*innen mit krisenbedingten Einkommensausfällen als Fonds oder
Programm der KfW Bank. Strom-, Wärmeenergie-, Wasser- und Telefon- oder
Internetsperren dürfen in der Krise nicht vollzogen werden. Betriebe und
Gewerbe, die direkt von der Pandemie-Schließung betroffen sind und kaum
Nachholeffekte bei den Einnahmen erzielen können, sollten die gesetzliche
Möglichkeit bekommen, Mieten zu mindern oder gar auszusetzen. Hierzu kann
die österreichische Regelung als Vorbild dienen, die im Allgemeinen
bürgerlichen Gesetzbuch ermöglicht, dass die Mietzahlungspflicht entfällt,
wenn das Objekt wegen "außerordentlicher Zufälle" nicht benutzt werden
kann, worunter auch eine Pandemie fällt. Vermieter*innen, die auf diese
Mietzahlungen angewiesen sind, sollten dann eine staatliche Unterstützung
erhalten. Die Corona-Krise darf nicht zu weiterer Marktkonzentration
einiger weniger Wohnungsunternehmen führen.
- Für Auszubildende soll zu jedem Zeitpunkt Kurzarbeiter*innengeld in Höhe
von 100 Prozent beantragt werden können. Wir wollen verhindern, dass
Ausbildungsverhältnisse der aktuellen Situation zum Opfer fallen. Darüber
hinaus muss sichergestellt werden, dass die Zeiten ausfallenden
Unterrichts nicht im Betrieb geleistet werden müssen, sondern
vollumfänglich für selbstständiges Lernen verwendet werden können.
Ökologische Modernisierung der Industrie beschleunigen
Um den Industrieunternehmen zu helfen, die durch die Pandemie in Existenznöte
geraten, wollen wir großzügige staatliche Unterstützung anbieten. Dabei sollen
die Investitionen gleichzeitig der ohnehin notwendigen ökologischen
Modernisierung dienen, damit die Unternehmen den Einstieg ins klimaneutrale
Zeitalter nicht verpassen, indem sie jetzt falsch abbiegen. Direkte Hilfen
sollen daher die Investitionen fördern, die einem der sechs EU-Umweltziele
dienen (Taxonomie). Und: Firmen müssen bestimme Sozialstandards einhalten. Zudem
sollte der Vorschlag des Sustainable-Finance-Beirats der Bundesregierung
aufgegriffen werden: Wenn Unternehmen belegen, dass sie nach dem Pariser
Klimaabkommen wirtschaften, sollten sie einen Teil der Kredite, die der Staat
jetzt als Hilfen ausgibt, am Ende der Tilgung erlassen bekommen.
Unsere Vorschläge:
- Über eine direkte Innovations- und Investitionsförderung wollen wir
Investitionen in transformative CO2-freie Verfahren und Prozesse durch
direkte Zuschüsse für sogenannte Leuchtturmprojekte fördern. Damit wollen
wir EU-Förderprogramme ergänzen und zudem über degressive Abschreibungen
der getätigten Investitionen für transformative CO2-freie
Industrieprozesse in Höhe von mind. 25 Prozent auch steuerlich Anreize
setzen.
- Wir wollen den Einstieg in die grüne Wasserstoffwirtschaft beschleunigen.
Damit treiben wir sowohl in Industriebranchen wie Stahl und Chemie als
auch im Luft-, Schiffs- und Güterverkehr gezielt Klimaschutz als auch
höhere Investitionen voran. Dazu gewähren wir Investitionszuschüsse für
Wasserstoff-Pipelines und schaffen Innovations- und Experimentierräume, um
verschiedene Geschäftsmodelle und Anwendungen besser erproben zu können.
- Mit Klimaverträgen wollen wir Investitionssicherheit – gerade in der
klimaintensiven Industrie – schaffen. Damit wollen wir die Differenz
zwischen dem aktuellen CO2-Preis und den tatsächlichen CO2-
Vermeidungskosten erstatten, welche den Unternehmen durch die
Investitionen in neue Verfahren und Technologien entstehen. Dafür werden
die besten Projekte in einem wettbewerblichen Ausschreibungsverfahren
ermittelt und mit den betreffenden Unternehmen Klimaverträge (Carbon
Contracts for Difference) abgeschlossen.
- Wir wollen für die Bürger*innen und insbesondere mittelständische
Unternehmen den Strompreis senken, indem die EEG-Umlage ab dem 1. Juli
2020 um fünf Cent je Kilowattstunde reduziert wird. Wind- und
Sonnenenergie sind heute die günstigsten Energiequellen, das haben wir dem
EEG zu verdanken. Diese Technologieentwicklung haben auch die
Stromkund*innen ermöglicht. Neben dem Strombereich müssen aber auch die
Sektoren Wärme, Mobilität und Industrie mit grüner Energie dekarbonisiert
werden, z.B. über Elektromobilität, Wärmepumpen uvm. Hierzu trägt eine
gesenkte EEG-Umlage bei, die über den Bundeshaushalt gegenfinanziert wird.
Bis Ende 2021 kann damit zudem ein Kaufkraft-Effekt von 22 Milliarden Euro
erreicht werden. Mittelfristig finanziert sich die Maßnahme durch die
Einnahmen aus dem CO2-Preis.
- Bei den Erneuerbaren Energien können wir dank der inzwischen attraktiven
Kosten durch einen beschleunigten Ausbau ebenfalls wirtschaftliche Impulse
setzen – ohne dass dem Staat dadurch zusätzliche Kosten entstehen. Der PV-
Deckel von 52 Gigawatt muss sofort aufgehoben werden, härtere
Abstandsregeln bei Windkraftanlagen dürfen nicht kommen, bereits
bestehende zu weitgehende müssen zurückgenommen werden. Im Anschluss
brauchen wir eine EEG-Novelle mit Ambition: Statt kleiner Änderungen
müssen grundlegende Weichen gestellt werden, um den Ausbau von Wind- und
Solarenergie zu beschleunigen, die Sektorenkopplung voranzubringen und zu
einer bürger*innennahen, partizipativen Energiewende zu gelangen.
- Damit wirtschaftliche Impulse nachhaltig wirken, schaffen wir mit einem
partizipativen Energiemarktdesign einen belastbaren Investitions- und
Refinanzierungsrahmen für Erneuerbare und Systemintegrations-Technologien.
Dadurch setzen wir die private Innovationskraft frei, nutzen gleichzeitig
die günstigen Kapitalkosten der Privathaushalte und verwirklichen unseren
Anspruch auf demokratische Teilhabe.
- Der Bausektor gehört zum Kern eines Konjunkturprogramms. Ambitionierte
energetische Gebäudesanierung hilft nicht nur dem Klima – sie stärkt auch
die Wirtschaft, schafft qualifizierte Arbeitsplätze im Handwerk und in der
Produktion. Wir brauchen wirksamere Fördersysteme für den
klimafreundlichen Ersatz von fossilen Heizungen und deutlich mehr
Gebäudedämmung. Konkret verdoppeln wir zunächst die bestehende Förderung
für den Tausch von Ölheizungen und legen für Stadtwerke einen
Eigenkapitalfonds auf. Darüber unterstützen wir sie gezielt beim Auf- oder
Umbau von klimafreundlichen Wärmenetzen oder erneuerbaren Wärmekonzepten
mit Geo- und Solarthermie.
- Auch in Industrie und Gewerbe starten wir eine Energieeffizienz-Offensive
und legen ein Förderprogramm und angemessene ordnungsrechtliche Vorgaben
auf, um die zahlreichen anstehenden Reinvestitionen in die richtige
Richtung zu lenken.
- Für Investitionen von Unternehmen sollte, wie schon in der Finanzkrise,
eine auf zwei Jahre befristete degressive Sonder-Afa eingeführt werden.
- Wir unterstützen die energieintensiven Rechenzentren finanziell dabei,
ihren Stromverbrauch zu senken und auf Erneuerbare Energien sowie
energieeffiziente Wasserkühlsysteme umzustellen. So leisten wir auch einen
Beitrag, um die digitale Souveränität Europas voranzubringen.
Die Automobilindustrie ist ein Schlüsselsektor unserer Industrie mit massiver
Bedeutung für hunderttausende Arbeitsplätze und zahllose Zulieferer. Schon vor
der Corona-Pandemie steckte die Automobilwirtschaft in einer Krise, diese hat
sich nun massiv verschärft. Unternehmen und Beschäftigte sind sehr verunsichert,
wie es weitergehen kann, welche Marktentwicklung eintreten wird, ob
Arbeitsplätze gesichert werden können. Die Branche muss sich grundlegend ändern.
Wir schlagen ein Zukunftsbündnis von Unternehmen, Gewerkschaften und
Umweltverbänden vor, um die Rezession zu überwinden, die ökologische
Transformation voranzubringen und Beschäftigung zu sichern. Dieses verbindet
zielgerichtete kurzfristige Hilfen mit dem dringend notwendigen Aufbruch in
Richtung nachhaltiger Mobilität. Dazu gehören ökologische Kaufanreize und
finanzielle Hilfen bei der Modernisierung. Die Kaufanreize müssen auf
klimaneutrale Mobilität fokussiert werden, denn es wäre klimapolitisch und
industriepolitisch kontraproduktiv, jetzt erneut Verbrennungsmotoren mit
Milliardenhilfen zu fördern. Im Gegenzug müssen umweltschädliche Subventionen
abgebaut und in der Kfz-Steuer ein Bonus-Malus-System eingeführt werden, wodurch
emissionsintensive Wagen wie SUVs stärker und emissionsärmere Fahrzeuge geringer
belastet werden. Zudem müssen Quoten für emissionsfreie Mobilität eingeführt und
die EU-Flottengrenzwerte entsprechend dem Pariser Klimavertrag angepasst werden.
Die nun nötigen Konjunkturmaßnahmen bieten eine große Chance für die ökologische
Wende, vor allem im Verkehrsbereich: Bürger*innen, die ihren privaten Pkw
abmelden und keinen neuen anschaffen, können eine Mobilitätsprämie in Anspruch
nehmen, um darüber klimafreundliche Alternativen wie eine BahnCard, eine ÖPNV-
Jahreskarte, ein Lastenfahrrad oder Car- oder Bikesharing-Angebote mitfinanziert
zu bekommen. Denn mehr Autos sind nicht die Lösung. Zusätzlich erhalten Kommunen
eine Umbauprämie zur Förderung von klimafreundlichen Mobilitätsangeboten, etwa
dem Ausbau von städtischen Busnetzen, dem Aufbau von Sharing-Dienstleistungen
oder auch einer größeren Radewegenetzinfrastruktur. Damit sorgen wir dafür, dass
sich das klimafreundliche Verkehrsangebot infolge der Krise nicht verschlechtert
und mittelfristig mehr Menschen zum Umstieg weg vom privaten Pkw bewegt werden.
Ähnlich wie die Autobranche ist auch die Luftfahrt hart getroffen. Analog zur
Autobranche müssten staatliche Hilfen an ordnungsrechtliche Vorgaben gekoppelt
werden. Wie in anderen europäischen Ländern gilt es in diesem Zuge, eine CO2-
Reduktionssstrategie im Sinne der Pariser Klimaziele für die Luftfahrt
vorzulegen, die das Flugverkehrsaufkommen insgesamt senkt. Dies kann zum
Beispiel durch Streckenschließungen für kürzere Inlandsflüge, Ausweitung des
Nachtflugverbots oder die Erneuerung der Flugzeugflotte durch effizientere und
schadstoffärmere Flugzeuge geschehen.
IV. Investitionen in die Zukunft
Wir sollten jetzt ein zehnjähriges Investitionsprogramm von 500 Mrd. Euro
vorbereiten. Allein in unseren Kommunen besteht ein Sanierungsstau von 138 Mrd.
Euro und hier sind ökologische Investitionen, etwa in den Ausbau des
öffentlichen Nahverkehrs, noch gar nicht einbezogen. Es braucht gerade jetzt
starke Kommunen, die vor Ort handlungsfähig sind, sei es bei den Sozialdiensten
oder Frauenhäusern. Die Investitionen des Staates müssen deshalb nicht nur in
der Krise, sondern dauerhaft auf ein höheres Niveau gebracht werden. Die
ökonomischen Forschungsinstitute der Unternehmen und Gewerkschaften kommen auf
einen Investitionsbedarf von über 450 Mrd. Euro. Hinzu kommen Investitionen in
unser Gesundheitssystem, deren Notwendigkeit uns durch Corona vor Augen geführt
wurde. Allein unsere Krankenhäuser haben einen zusätzlichen Investitionsbedarf
von mindestens sechs Milliarden Euro pro Jahr. Und in der Pflege sind die
Herausforderungen ebenfalls groß.
Bundes- und Landespolitik sollten alles tun, um diese Investitionen auf den Weg
zu bringen. Dazu gehört, Planungsprozesse jetzt zu starten und das Planungsrecht
zu entbürokratisieren bzw. Regelungen befristet auszusetzen. Gerade jetzt sollte
die öffentliche Hand Planer*innen und Projektsteuernde einstellen und die
Genehmigungsbehörden aufstocken, damit die zusätzlichen Investitionen auch
verbaut werden können. Dazu sollte der Bund durch eine Verwaltungsvereinbarung
einen Fonds mit den Ländern auflegen, aus dem zusätzliche Planungsstellen über
den Zeitraum von mindestens fünf Jahren bezahlt werden können. Viele
Investitionen liegen bei den Kommunen und viele von ihnen werden durch Altlasten
erdrückt.
Das Wegbrechen der Gewerbesteuereinnahmen verschärft diese Situation enorm. Bund
und Länder müssen den Kommunen mit einem Altschuldenfonds einen Neustart
ermöglichen, indem ihnen ein großer Teil ihrer Altschulden abgenommen wird. Sie
können dauerhaft zu niedrigen und derzeit sogar negativen Zinsen refinanziert
werden. Zudem müssen Kommunen mit besonders hohen Soziallasten unterstützt
werden. Dafür muss der Bund insbesondere einen höheren Anteil bei den Kosten der
Unterkunft und Heizung übernehmen.
Dieses riesige Investitionsvolumen ist gut angelegtes Geld, sowohl um eine große
globale Depression mit unvorhersehbaren gesellschaftlichen und politischen
Folgen zu verhindern, als auch um krisenfestere und nachhaltige neue
Wirtschaftsstrukturen aufzubauen. Natürlich steigen dadurch die Schulden. Die
öffentlichen Haushalte werden in den nächsten Jahren unter dem Druck der Tilgung
dieser aufgenommenen Kredite stehen. Gleichzeitig dürfen wichtige
Zukunftsinvestitionen nicht der Krise geopfert und keine Einschnitte bei der
kommunalen Grundversorgung, der Infrastruktur und der sozialen Sicherung
vorgenommen werden. Für eine nachhaltige Finanzierung der Kosten der Corona-
Krise ist deshalb eine Kreditfinanzierung mit sehr langen und flexiblen
Tilgungszeiträumen notwendig. Und Deutschland zahlt auf seine Schulden derzeit
keine Zinsen. Eine zu schnelle, restriktive Tilgung würde die wirtschaftliche
Erholung und Investitionsfähigkeit des Staates gefährden.
Wir müssen deshalb die Schuldenbremse reformieren, um mehr kreditfinanzierte
Investitionen zu ermöglichen. Immer wieder hat Deutschland nach besonderen
Herausforderungen (Zweiter Weltkrieg, Wiedervereinigung) besondere Formen des
Lastenausgleichs gefunden. Die Krise verschärft die soziale Spaltung in
Deutschland und Europa. Massenarbeitslosigkeit und die Folgen eines schwachen
Gesundheitssystems werden süd- und osteuropäische Staaten besonders hart
treffen. Immer mehr Europäer*innen stehen vor existenziellen Fragen, während
einige wenige über große Vermögen und sehr hohe Einkommen verfügen. Über die
Schulden hinaus, die durch die Corona-Krise entstanden sind, braucht es eine
Politik, die diese Spaltung verhindert. Wenn die akute Krise überstanden ist,
brauchen wir wirksame Instrumente, um die sozialen Folgen abzumildern, die
Krisenkosten fair aufzuteilen und die EU zusammenzuhalten. Entsprechend brauchen
wir einen solidarischen Ausgleich nach dem Prinzip: Wer starke Schultern hat,
kann mehr tragen.
V. Unser Gesundheitssystem stärken
Die Corona-Epidemie legt die Stärken und Schwächen unseres Gesundheitssystems
offen. Unser Gesundheitswesen verfügt über ein gut ausgebautes System der
Diagnostik, eine im europäischen Vergleich gute Akutversorgung mit zahlreichen
Intensivbetten und eine gute technische Ausstattung. Zugleich ist aber deutlich
geworden, dass insbesondere bei der personellen Situation in der Pflege, in der
kommunalen Gesundheitsversorgung, beim Zugang zum Gesundheitssystem, bei der
digitalen Vernetzung sowie bei der Beschaffung und Bevorratung von
Schutzausrüstung erhebliche Defizite bestehen, die behoben werden müssen.
Jetzt müssen wir unser Gesundheitssystem akut so gut stärken, wie es nur geht,
um dieser Epidemie Herr zu werden. Die Vorhaltung von Reservekapazitäten für den
Ernstfall und eine gute und gut bezahlte Personalausstattung müssen Vorrang
haben und gehören ins Zentrum unserer Anstrengungen. Das sollte durchaus
ökonomisch geschehen, aber Sicherheit geht vor. Das heißt konkret, dass uns als
Gesellschaft die Investitionen in medizinische und pflegerische Infrastruktur
und Investitionen in Pandemiemanagement mehr Geld wert sein müssen als bisher.
Wir brauchen eine deutliche Aufwertung und berufsständische Stärkung der Pflege,
attraktivere Arbeitsbedingungen und eine bessere Personalausstattung. Wir müssen
die über Jahre ausgedünnten öffentlichen Gesundheitsdienste, insbesondere die
Gesundheitsämter, besser ausstatten und die Arbeitssituation für die Menschen im
Gesundheits- und Pflegebereich verbessern. Um die Löhne in der Pflege zu
verbessern, sollen die Tarifparteien die Verhandlungen für eine tarifliche
Bezahlung in der Pflege baldmöglichst fortsetzen, damit eine Einigung zeitnah
für allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Sollte das trotz laufender
Verhandlungen nicht erreicht werden, müssten gesetzliche Maßnahmen ergriffen
werden. So könnte in einem nächsten Schritt die soziale Pflegeversicherung dazu
verpflichtet werden, nur mit Arbeitgebern Verträge zu schließen, die tariflich
zahlen.
Der durch die Krise teilweise entstehende Schwung bei der Digitalisierung
unseres Gesundheitswesens muss genutzt werden, um Telemedizin und andere für die
Versorgung und die Forschung sinnvolle digitale Angebote auszubauen.
Forschungsdaten sollen unter Wahrung des Persönlichkeitsschutzes leichter
ausgetauscht werden können, genauso wie medizinische Logistik. Wir wollen einen
Investitionspakt von Bund und Ländern, um Krankenhäuser, aber auch den
öffentlichen Gesundheitsdienst bei den notwendigen Investitionen für die
digitale Infrastruktur zu unterstützen.
Mit digitaler Epidemiologie lässt sich aus einer Vielzahl anonymisierter Daten
der Gesundheitsstatus der Bevölkerung in Echtzeit analysieren, um so gezielter
eingreifen und einer künftigen Epidemie besser begegnen zu können. Nicht nur
dafür muss das E-Government der Verwaltung in Deutschland mit Hochdruck
entwickelt werden. Unsere Virolog*innen sind weltweit Spitze und die
Forschungseinrichtungen sind es auch. Wenn hingegen heute noch Gesundheitsdaten
per Fax von Amt zu Amt versendet werden müssen, weil es technisch anders nicht
geht, kostet uns das jetzt im Kampf gegen Corona wertvolle Zeit.
VI. Recht auf Bildung, auch in der Pandemie
Das Coronavirus hält auch der Bildungspolitik den Spiegel vor. Da sind die immer
noch enormen Ungerechtigkeiten, die das deutsche Bildungssystem hervorbringt –
sichtbar zum Beispiel in der unterschiedlichen technischen Ausstattung der
Schüler*innen und ihrer Schulen. Da sind die vielerorts mangelhaften baulichen
und sanitären Zustände von Bildungseinrichtungen, die in Pandemiezeiten noch
größere Probleme als sonst hervorrufen. Da ist die Situation von Schüler*innen
mit Behinderung oder anderem sonderpädagogischem Förderbedarf, die sich in der
Krise in besonderer Form zuspitzt . Da ist eine den Zukunftsherausforderungen
nicht angemessene Fixierung auf Prüfungen und Leistungsnachweise, die den Blick
auf das pädagogisch und sozial Notwendige versperrt und Ressourcen bindet, die
an anderer Stelle gebraucht würden. Und da ist, nicht zuletzt, allen
Beteuerungen zum Trotz, der immer noch viel zu geringe Stellenwert der
frühkindlichen Bildung, wenn wieder nur unter dem Label "Betreuung" über Kitas
gesprochen wird. Was hier in den ersten Jahren pädagogisch versäumt wird, kann
vielfach kaum nachgeholt werden. Die Bildungspolitik reagiert bisher
unzureichend auf die Herausforderungen, weil sie die eingeschränkten Ressourcen
auf das Erfüllen von Lehrplänen und Ableisten von Prüfungen konzentriert, statt
auch die sozialen Folgen der Pandemie aufzufangen.
Auf der anderen Seite macht das Engagement vieler Akteur*innen Mut für einen
echten Bildungsaufbruch. Bildungsverantwortliche, Schulleitungen, Kommunen,
pädagogische Fach- und Lehrkräfte, aber auch Eltern und Schüler*innen finden
neue, pragmatische und kreative Lösungen in der schwierigen Situation. Dabei
wird oftmals von den Praktiker*innen aufgefangen, was eigentlich in die
Verantwortung von Politik und Verwaltung fällt, nämlich der adäquate Umgang
unserer Bildungsinstitutionen mit einer solchen Krise. Dafür gebührt auch ihnen
unser Dank.
Es geht beim Lernen aus der Krise nicht nur um ein bisschen Digitalisierung, es
geht darum, das Bildungssystem so auszurichten, dass Menschen selbstbestimmt,
nachhaltig und aufgeklärt handeln können. Einmal mehr wird deutlich, dass die
Zukunft unseres Bildungssystems in einem Paradigmenwechsel liegt; weg von der
Fokussierung auf Planerfüllung und reproduzierbarem, prüfbaren Fachwissen hin
zur Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung, der Entwicklung von
Krisenresilienz und dem Umgang mit Unsicherheiten und Ambiguitäten, von denen
unsere Zeit auch jenseits der aktuen Pandemie geprägt ist und weiter sein wird.
Die Digitalisierung an den Schulen braucht dauerhaft finanzielle Unterstützung
vom Bund, nicht nur einen einmal gefüllten, befristeten Fördertopf. Die
Megaaufgabe Digitalisierung in der Bildung können Bund und Länder nur gemeinsam
schaffen. Die Bereitschaft auf allen Seiten, das deutsche Bildungssystem an die
digitale Welt anzuschließen, war nie so groß wie heute. Dabei darf es nicht
darum gehen, digitale Tools einfach für analog gedachten und konzipierten
Unterricht zu nutzen. Das Fenster für echte Innovation in unserem Bildungssystem
ist so offen wie nie. Es ist unsere Aufgabe, dieses Fenster zu nutzen und eine
Bildung im und für das 21. Jahrhundert zu gestalten – unter den Bedingungen der
Digitalisierung, der ökologischen und der gesellschaftlichen
Zukunftsherausforderungen.
Ebenfalls muss die Digitalisierung an den Universitäten und Berufsschulen
unterstützt und verbessert und der Zugang aller Studierenden zu Online-
Vorlesungen sicher gestellt werden. Lehrende müssen bei der Nutzung digitaler
Tools begleitet werden. Ohne entsprechende Unterstützung droht die beschleunigte
Digitalisierung an Hochschulen, soziale Ungleichheiten zu verschärfen. Die
Corona-Krise darf für Studierende, die auf BAföG angewiesen sind, nicht zu
finanziellen Nachteilen führen. Deshalb soll das aktuelle Semester nicht auf die
Regelstudienzeit und damit im BAföG angerechnet werden.
Um den Ungerechtigkeiten im Bildungssystem entgegenzuwirken, ist der weitere
Ausbau guter ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote zentral. Hier könnte
die Krise möglicherweise alte Blockaden aufbrechen: Wenn für eine längere Zeit
der klassische Bildungsbetrieb nur eingeschränkt stattfinden kann, sollten Kitas
und Schulen die Möglichkeit haben, unbürokratisch und flexibel neue Lern- und
Freizeit-Angebote zu schaffen. Schulen sollen dafür ein Budget erhalten, das im
Rahmen eines sozialen Schutzschildes aus dem Mitteln des Bundes kommt.
Zusätzlich ist ein Aufholprogramm für Schulen in benachteiligten Regionen und
Stadtteilen nach der Krise nötiger denn je, damit jene, die schon vor Corona
drohten, abgehängt zu werden, den Anschluss nicht verlieren.
Außerdem ist es dringend notwendig, dass im Rahmen der Kultusministerkonferenz
jetzt schon Strategien für die Zeit nach den Sommerferien entwickelt werden, die
die vielfältigen Auswirkungen des eingeschränkten Schulbetriebs in fachlicher,
pädagogischer, aber auch emotionaler und sozialer Hinsicht aufgreifen. Lehrpläne
und schulgesetzliche Bestimmungen müssen für das kommende Schuljahr
flexibilisiert und entlastet werden. Durchschnittsabschlüsse können – wie sich
im laufenden Schuljahr zeigt – bei allen Beteiligten zu Entlastungen führen.
VII. Eine neue Chance für Europa
Ganz Europa ist von der Corona-Krise betroffen. Unser Kontinent ist derzeit die
Region mit den meisten Infizierten weltweit. Alle sind betroffen, manche
Regionen, wie die Lombardei, das Elsass, Madrid ganz besonders. Wie schon in der
letzten Finanzkrise und der Flüchtlingskrise haben einige europäische Staaten
auch in der Corona Krise unsolidarisch und uneuropäisch gehandelt. Auch das
Handeln der Bundesregierung hat in finanzpolitischen Fragen oder durch die
anfänglichen Exportbeschränkungen für medizinische Produkte das Vertrauen in die
europäische Solidarität weiter geschwächt.
Gemeinsam mit ihren europäischen Partnern muss die Bundesregierung
sicherstellen, dass sich die Spaltung in der EU durch die Pandemie nicht noch
weiter verschärft. Wenn Europa jetzt nicht zusammensteht, springen andere in die
Lücke und versuchen ihren geopolitischen Einfluss noch weiter auszudehnen. Die
Bundesregierung muss die Krisenbewältigung konsequent europäisch angehen, damit
keine neue soziale Ungerechtigkeit, Jugendarbeits- und Perspektivlosigkeit
insbesondere in süd- und osteuropäischen Mitgliedstaaten – drohen.
Aber es gibt viele Beispiele europäischer Solidarität, die Mut machen, dass die
europäische Idee in dieser Zeit besteht: europäische Patient*innen werden in
deutschen Krankenhäusern behandelt, über europäische Städtepartnerschaften wird
kommunale Hilfe organisiert, viele Personen aus der Zivilgesellschaft haben
individuelle Initiativen gestartet. Wir müssen diese Krise als Wendepunkt
begreifen, um die Gemeinschaft zu vertiefen. Dann kann Europa sogar gestärkt aus
ihr hervorgehen.
Wir wollen so schnell wie möglich zu den offenen Grenzen des Schengen-Raums
zurückkehren. Bei der Bekämpfung von Corona muss Europa zu seinen Werten stehen
und offen bleiben. Grenzkontrollen und Einreiseverbote müssen medizinisch
begründet, abgestimmt und verhältnismäßig sein. An die Stelle willkürlicher
Grenzkontrollen auf nationaler Ebene sollten zielgerichtete Beschränkungen auf
regionaler Ebene (die dann durchaus auch grenzübergreifend gelten) treten. Die
Kriterien müssen nicht überall zu einhundert Prozent identisch, aber
wirkungsgleich sein. Wo notwendig, muss an den Grenzen auf die Frage des
effektiven Gesundheitsschutzes fokussiert werden.
Europa braucht eine Koordinierung der Strategien aus dem Shutdown, auch um zu
verhindern, dass Lieferketten unterbrochen werden. Eine europäische
Pandemiewirtschaft sollte eine massive Produktion an medizinischer Ausrüstung
sowie die bestmögliche Ausnutzung der gemeinsamen Test- und
Behandlungskapazitäten zum Ziel haben. Die Staaten sollten die Beschaffung
gemeinsam organisieren bzw. untereinander abstimmen, um zu verhindern, dass man
sich gegenseitig Konkurrenz macht. Die europäischen Anstrengungen in der
Impfstoffforschung sollten verstärkt werden. Wir fordern einen EU-Corona-
Forschungsfonds für Medikamente und Impfstoffe, die dann unter Gemeinwohllizenz
vermarktet werden. Es gilt, bei der nächsten Pandemie besser gerüstet zu sein.
Dafür muss das European Center for Desease Prevention and Control (ECDC)
gestärkt und ein European Health Corps gegründet werden. Das Health Corps
besteht aus regulären Mitarbeiter*innen europäischer Krankenhäuser, die im
Krisenfall schnell mobilisiert und in besonders betroffenen Regionen eingesetzt
werden können, damit kein Krankenhaus in Europa in die Lage kommt, Menschen
nicht angemessen medizinisch versorgen zu können. Die bevorstehende deutsche
Ratspräsidentschaft sollte auch genutzt werden, um die Arzneimittelproduktion
wieder verstärkt in Europa anzusiedeln, um in diesen lebenswichtigen Bereichen
nicht von transkontinentalen Lieferketten abhängig zu sein. Die Corona-Krise
zeigt erneut, wie wichtig ein nachhaltiges Management von Lieferketten ist. Es
ist gut, dass die EU-Kommission ein verbindliches Lieferkettengesetz angekündigt
hat.
Mit den Entscheidungen der Europäischen Zentralbank (EZB) konnte eine neuerliche
Finanz- und Währungskrise fürs Erste abgewehrt werden. Wieder einmal musste die
EZB einspringen, weil die Staats- und Regierungschefs nicht in der Lage waren,
umfassende Maßnahmen wie gemeinsame Corona-Bonds für die Krisenbewältigung zu
beschließen. Das jetzt vereinbarte Paket aus ESM-Hilfen, Unternehmenskrediten
über die Europäische Investitionsbank und das europäische Kurzarbeiter*innengeld
sind ein erster Schritt, aber unzureichend.
Wenn jetzt in Ländern wie Spanien und Italien aus Angst vor einer Überschuldung
zu wenig getan werden kann, trifft das nicht nur die dortige Bevölkerung hart,
sondern am Ende alle Mitglieder der Union. Gerade die deutsche Wirtschaft ist
eng verknüpft mit diesen Ländern. Wenn dort keine deutschen Produkte mehr
gekauft werden, führt dies zu einer stark steigenden Arbeitslosigkeit bei uns.
Und wenn dort die Produktion wegen der Pandemie nicht wieder anlaufen kann,
stehen wegen der verwobenen Lieferketten hierzulande Bänder still. Nur wenn
Italien wieder auf die Beine kommt, wird Deutschland es auch. China wird
versuchen, sich in der kommenden Rezession in die europäische Wirtschaft
einzukaufen, und Putin die Möglichkeit nutzen, um europäische Demokratien zu
destabilisieren. Nur wenn Europa seine Interessen gemeinsam wahrnimmt, werden
insbesondere Süd- und Osteuropa diese Angebote ablehnen können
Diese europäische Antwort muss einen gemeinsamen Recovery Fund beinhalten, der
durch gemeinsame Anleihen finanziert wird, um so die Krisenlasten gemeinsam und
solidarisch zu schultern. Die Ausgaben sollten sich an den Pariser
Klimaschutzzielen und dem Green Deal orientieren. Der Recovery Fund hat einen
Umfang von mindestens einer Billion Euro und ist damit dem Ernst und der Größe
der Herausforderung angemessen. Die Verschuldung zählt nicht in die nationalen
Schuldenquoten und soll nach ökonomischer Leistungsfähigkeit geschultert werden.
Vielmehr ermöglicht die gemeinsame Haftung Zinsen unterhalb der Inflation. Der
Recovery Fund muss strenger Antikorruptionsüberwachung und parlamentarischer
Kontrolle unterliegen.
Während viele Unternehmen, insbesondere Mittelständler*innen und der
Einzelhandel in den Innenstädten, gerade leiden, machen große Digitalkonzerne
riesige Gewinne. Zugleich zahlen sie weniger Steuern als vergleichbare
traditionelle Unternehmen. Deshalb wäre jetzt spätestens der Zeitpunkt, dass
sich die Bundesregierung diesem Steuerdumping entgegenstellt und ihre Blockade
bei der europäischen Digitalsteuer aufgibt. Schon der Vorschlag der EU-
Kommission, die Umsätze digitaler Großunternehmen an dem Ort, wo sie tätig sind,
mit drei Prozent zu besteuern, würde zu geschätzten Einnahmen von fünf
Milliarden Euro führen. Wenn einzelne EU-Mitgliedstaaten weiterhin blockieren,
braucht es eine Koalition der Willigen als ersten Schritt zu einer europäischen
und globalen Lösung.
In der Krise erweist sich das jahrelange Bremsen und Verweigern der deutschen
Bundesregierung in zentralen europäischen Fragen als schwere Hypothek. Nach der
Krise müssen in der Europäischen Union die seit Jahren aufgeschobenen
Entscheidungen zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion, wie
beispielsweise ein eigener EU-Haushalt mit einem eigenen fiskalpolitischen
Instrument, der Umgang mit Handelsungleichgewichten und die Vollendung der
Bankenunion endlich angegangen werden. Ein größerer EU-Haushalt ab 2021 bedeutet
auch einen größeren deutschen Beitrag und mehr Möglichkeiten für die Union,
eigene Einnahmen zu generieren, um die EU strukturell zu stärken. Um Europa neu
aufzustellen muss die Bundesregierung nicht jeden Vorschlag anderer Länder
übernehmen, sie muss aber endlich auch eigene konstruktive Vorschläge machen, um
die Probleme zu lösen und nicht weiterhin nur verweigern und im Falle einer
Krise die gesamte wirtschaftspolitische Verantwortung der Europäischen
Zentralbank zuschieben. Zu den notwendigen Fragen gehört auch die Überprüfung
des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Der Stellenwert der eigenen Grundüberzeugungen erweist sich besonders in der
Krise. Auch die Bundesregierung muss sich deshalb dem drohenden Abbau von
Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Pressefreiheit in einigen EU-
Mitgliedstaaten entgegenstellen – im europäischen Verbund, nicht zuletzt im Zuge
der anstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Die EU-Kommission fordern wir
auf, alle nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in EU-
Mitgliedstaaten auf ihre Einhaltung europäischen Rechts hin zu untersuchen und,
wo nötig, entsprechend einzugreifen. Um die Antworten der EU auf die Krise mit
allen Europäer*innen zu diskutieren, muss sich die Bundesregierung im Rat dafür
einsetzen, dass die Konferenz für die Zukunft Europas dafür genutzt wird.
Die Welt wird nur im Geist der Kooperation gut durch diese Pandemie kommen. So
vernetzt sie ist, so kurzsichtig egoistisch handeln derzeit die meisten
Nationalstaaten. Wenn Europa kooperativ und solidarisch vorangeht, schaffen wir
eine starke und unwiderstehliche Gegenerzählung mit globaler Wirkung. Die ganze
Welt kämpft gegen diese Corona-Pandemie. Deshalb müssen in der Pandemie die
Zölle für überlebenswichtige Produkte wegfallen und Exportbeschränkungen
aufgehoben werden. Sieben Milliarden Menschen warten auf einen Impfstoff und
Medikamente gegen COVID-19. Es muss dafür gesorgt werden, dass beides, sobald
vorhanden, global, schnell und zu einem günstigen Preis verfügbar ist.
Wir müssen deshalb über eine Lockerung der Regeln geistigen Eigentums nachdenken
und die Besitzer*innen geistigen Eigentums dazu aufrufen, günstige Lizenzen in
einem internationalen Patentpool anzubieten, der über die WTO koordiniert wird –
insbesondere für einen neu entwickelten Impfstoff oder eine anerkannte Therapie.
Die globale Rezession droht in den Entwicklungs- und Schwellenländern ein
Brandbeschleuniger der Schuldenkrise und damit von Armut, Flucht und Konflikten
zu werden. Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass die Schulden des globalen
Südens erlassen werden. Weiterhin braucht es eine deutliche Erhöhung der
Sonderziehungsrechte beim Internationalen Währungsfonds, um besser gegen
spekulative Kapitalflucht gewappnet zu sein. Die Europäische Zentralbank sollte
prüfen, inwiefern sie Entwicklungs- und Schwellenländern mit weiteren Devisen-
Swap-Vereinbarungen im Falle von Kapitalflucht beistehen kann. Die Bekämpfung
illegaler Finanzströme muss intensiviert werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass
globale Ungleichheiten noch weiter verschärft werden. Wir brauchen ein globales
Hilfspaket gegen das Corona-Virus und seine Folgen und eine Stärkung der
Vereinten Nationen.
Wir unterstützen die Forderung des UN-Generalsekretärs nach weltweiten
Waffenstillständen. Die Bundesregierung sollte ihren Einfluss bei den
europäischen und internationalen Partnern geltend machen, um auf dieses Ziel
hinzuarbeiten. Sie muss schnell ausreichende zusätzliche Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen.
Gleichzeitig dürfen die internationale Gemeinschaft und die deutsche humanitäre
Hilfe sowie die Entwicklungszusammenarbeit nicht bei Maßnahmen in bestehenden
Gesundheitsprogrammen nachlassen.
VIII. Stärker aus der Krise
Die Pandemie führt uns vor Augen, was wir vermissen und unbedingt wiedergewinnen
wollen: unsere Freiheit, soziale Nähe und die Vielschichtigkeit unseres Lebens;
den öffentlichen Raum; Kitas, Schulen und Hochschulen; den direkten Austausch
mit den Kolleg*innen am Arbeitsplatz; Kultur und das bunte Leben, mit Kneipen,
Kinos, Konzerten, lebendigen Innenstädten, die uns weiter fehlen und die jetzt
um ihre Existenz kämpfen; unser vereintes und offenes Europa.
Der Shutdown hat uns auch gezeigt, was wir stärker wertschätzen und fördern
müssen:
Die Klugheit einer aufgeklärten Gesellschaft, die fähig ist, präventiv zu
handeln; in einem funktionierenden demokratischen Rechtsstaat zu leben; unsere
öffentliche Daseinsvorsorge, ein lebendiges Gemeinwesen vor Ort und einen
starken Sozialstaat; unabhängige Qualitätsmedien und den Öffentlich-Rechtlichen
Rundfunk; solidarische Menschen und einen solidarischen Staat; saubere Luft auch
in den Städten und staufreie Straßen; die Möglichkeit des Homeoffice; ein
parlamentarisches Miteinander zwischen Regierung und Opposition, das gemeinsam
Dinge löst, statt nur gegeneinander zu arbeiten.
Nicht zuletzt führt uns die Corona-Krise vor Augen, was wir in der Vergangenheit
versäumt haben. Es gab Pandemiewarnungen und sogar Pandemienotfallvorkehrungen
mit Drucksachennummer des Bundestages, aber in der Realität, als Gesellschaft
waren wir nicht ausreichend vorbereitet. Wir müssen Resilienz noch lernen. Dazu
gehört, dass wir bei der Arzneimittelproduktion und zentralen Utensilien für
Seuchenbekämpfung nicht allein auf den Markt setzen können. Wir müssen in Europa
selbst in der Lage sein, die zentralen medizinischen Produkte und Medikamente zu
produzieren, ebenso wie Lebensmittel, die wir zum Leben in einer Notlage
brauchen. Dazu gehört, dass wir kritische Infrastrukturen, beispielsweise vor
weitreichenden IT-Angriffen, besser schützen. Wir müssen die Digitalisierung
voranbringen, wir müssen Europa und multilaterale Institutionen stärken und wir
müssen verstehen, dass der Raubbau an den natürlichen Ökosystemen das Risiko von
Epidemien erhöht. So haben Ausbrüche von Infektionskrankheiten in den letzten 40
Jahren immer stärker zugenommen. Circa zwei Drittel davon sind Zoonosen, also
Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen wurden. Wir müssen die
Ursachen für Zoonosen stärker bekämpfen und uns zugleich wappnen, Epidemien
zukünftig besser einzudämmen.
Nur wenn wir uns selbstkritisch reflektieren, können wir uns besser gegen
zukünftige hereinbrechende Katastrophen wappnen. Vorsorge ist politisch das
Schwierigste überhaupt. Aber Corona führt uns jeden Tag vor Augen, wie wichtig
sie ist. Entsprechend geht es uns mit diesem Antrag darum, über die unmittelbare
Krisenbekämpfung hinaus Leitlinien für die nächsten Schritte zu beschließen und
die richtigen Lehren aus der Erfahrung der letzten Wochen zu ziehen. Wir wollen
schneller sein als das Virus, damit seine schlimmsten Folgen verhindert werden
können und wir stärker aus der Krise kommen als wir hineingegangen sind.