Veranstaltung: | 43. Bundesdelegiertenkonferenz Leipzig |
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Tagesordnungspunkt: | WA Weitere Anträge |
Antragsteller*in: | KV Starnberg (dort beschlossen am: 18.09.2018) |
Status: | Zurückgezogen |
Eingereicht: | 19.09.2018, 07:50 |
WA-02: Die Notwendigkeit einer europäischen Flüchtlingspolitik – geordnete Aufnahme statt Abschottung Sichere Fluchtwege, Alternative zu Dublin, gerechte Verteilung in den Mitgliedstaaten
Antragstext
1. Das Elend der Flüchtlinge
Flüchtlinge kommen über Wüsten, das Mittelmeer, die Ägäis und dann den Landweg über Italien,
Griechenland und Spanien. Dabei kommen viele Menschen um. Sie verdursten in den Wüsten,
ertrinken im Meer, erfrieren, stürzen in den Bergen oder Schluchten ab. Viele verletzen sich
auch, um über Sperranlagen zu gelangen. Sie werden unter erbärmlichen Verhältnissen in
Lagern festgehalten, misshandelt, missbraucht und als Geiseln genommen, um Lösegeld zu
erpressen. Europa tut viel zu wenig, um diesen Menschen zu helfen. Hier wegzusehen ist
unmenschlich. Wir brauchen eine Lösung, um diesem Elend zu begegnen.
2. Europäische Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge – Anerkennung und Ablehnung
Eine deutliche Verbesserung dieser Situation bestünde darin, neben den nationalen
Aufnahmeeinrichtungen europäische Aufnahmeeinrichtungen innerhalb und außerhalb Europas zu
errichten, in denen die Flüchtlinge Schutz finden, in denen europäisches Recht gilt und die
von europäischem Personal betreut werden. In bestimmten Gebieten ist auch eine
Zusammenarbeit mit dem UNHCR anzustreben. Gewährleistet wird eine menschenwürdige
Infrastruktur (z.B. Unterkunft und Verpflegung, Sanitäranlagen, medizinische Versorgung,
Betreuung der Kinder, umfassende Beratung und Kontakte zu den Familien in Heimatland). In
diesen Einrichtungen soll in etwa zwei Monaten die Bleibeperspektive nach europäischem
Asylrecht ermittelt werden.
Derartige Einrichtungen könnten in mehreren Mitgliedstaaten der EU – nicht nur in den
Ländern, die am Mittelmeer liegen - sowie in Ländern angrenzend an die EU, die dazu bereit
sind, eingerichtet werden. Flüchtlinge haben also die Möglichkeit, sich auch außerhalb und
innerhalb Europas freiwillig an eine europäische Aufnahmeeinrichtung zu wenden, um
gefährliche Fluchtwege zu vermeiden und eine rasche Entscheidung über ihre Anerkennung oder
Ablehnung zu erreichen. Wenn sie sich an eine derartige Aufnahmeeinrichtung wenden, werden
sie registriert und stellen dort ihren Asylantrag. Dieses Verfahren und das Ergebnis der
Prüfung sind dann für alle EU-Mitgliedstaaten bindend. Die anerkannten Flüchtlinge werden in
der EU verteilt, die abgelehnten mit üblichen, von der EU gestellten Transportmitteln und
einem kleinen Betrag an Geld, um sich in ihrer Heimat zurechtzufinden, zurückgeführt.
Die Einrichtungen werden ausschließlich von der EU finanziert.
3. Verteilung anerkannter Flüchtlinge
Diejenigen Flüchtlinge, die ein Bleiberecht in Europa erhalten, werden nach einem
festzulegenden Schlüssel auf die Länder Europas verteilt, die dazu bereit sind. Es sind die
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plus-Länder. Der Verteilungsschlüssel bemisst sich sowohl nach der Bevölkerungszahl der
Länder als auch nach ihrer Wirtschaftskraft. Die Dublin-Regeln hinsichtlich des
Erstaufnahmelands werden außer Kraft gesetzt.
Es bestehen vier Möglichkeiten, für die Geflüchteten Asyl bzw. ein Bleiberecht zu
beantragen:
1. Sie können (aber müssen nicht) in den europäischen Aufnahmeeinrichtungen innerhalb
Europas oder
2. in den Anrainerstaaten Europas Asyl beantragen und bei Feststellung eines Bleiberechts
nach der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. den europäischen Rechtsnormen direkt in den
Mitgliedstaaten der EU ohne weitere Prüfung integriert werden. Geflüchteten, die kein
Bleiberecht erhalten, sollen bei freiwilliger Rückführung finanzielle Mittel für die
Existenzsicherung in ihrem Heimatland erhalten.
3. Daneben bleiben die bisherigen nationalen Wege bestehen. Hier wird das Prüfungsverfahren
von den nationalen Behörden durchgeführt.
4. Zudem sind großzügige, langfristige und verlässliche Aufnahmekontingente, etwa über das
sogenannte Resettlement-Programm des UNHCR oder über humanitäre Visa durch die Botschaften
vorzusehen. Dadurch können vor allem Menschen aus Flüchtlingslagern in Libyen, Jordanien,
Libanon oder der Türkei, über feste Kontingente in den EU-Mitgliedstaaten ein Bleiberecht
auf Zeit erhalten. Auch dies schafft Verlässlichkeit für die Geflüchteten, Planbarkeit für
die aufnehmenden Länder und entlastet die Länder an den Außengrenzen, die bereits viele
Geflüchtete aufgenommen haben. Geflüchtete sind dann Schleppern nicht mehr ausgeliefert.
Zusätzlich zu den Flüchtlingen, die über europäische und nationale Einrichtungen aufgenommen
werden, strebt die EU an, jährlich so viele Menschen als Kontingente über den UNHCR
aufzunehmen, dass insgesamt (mindestens eine Anzahl von 500.000 - entspricht 0,1 % von 500
Millionen Einwohnern) Geflüchteten in Europa aufgenommen und integriert werden.
4. Zuständigkeit der Europäischen Union – Finanzierung - Solidarischer Ausgleich
Die EU finanziert den aufnehmenden Mitgliedstaaten die Aufwendungen für die Unterkunft,
Betreuung und Integration der von ihnen aufgenommenen Geflüchteten in voller Höhe nach
berechneten Pauschalsätzen. Diese werden aus dem laufenden EU-Haushalt erbracht. Der
EU-Haushalt wird einen Betrag von (bis zu 10 Mrd. EUR) dafür jährlich zur Verfügung stellen
und damit die Mitgliedstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen, deutlich entlasten. In den
Kommunen, in denen Geflüchtete aufgenommen und betreut werden, ist auch an Hilfe für die
örtliche Infrastruktur zugunsten der ansässigen Bevölkerung (z.B. Wohnungsbau) zu denken.
Die zusätzliche Belastung für den EU-Haushalt könnte einerseits durch einen geringfügigen
höheren Beitrag der Mitgliedstaaten und andererseits durch Einsparungen an anderer Stelle
vorgenommen werden. In Betracht kommen - wie bereits vorgesehen - die Agrarsubventionen
sowie die Mittel für den Strukturfonds. Hierdurch wird ein solidarischer Ausgleich zwischen
den Mitgliedstaaten erreicht, was zu einer stärkeren Akzeptanz der Bevölkerung in den
aufnehmenden Ländern führen wird.
Begründung
Die Vorschläge, die von Innenministern der Europäischen Union (insbesondere Österreich, Italien und Deutschland) für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik gemacht werden, sind für uns nicht akzeptabel. Sie beruhen weitgehend auf einer Abschottung gegenüber Flüchtlingen, die in Europa Schutz suchen. Es ist von Ausschiffungsplattformen und Lagern in Nordafrika die Rede. Flüchtlinge sollen der Willkür von Despoten ausgesetzt in Lagern zunächst festgehalten und dann zurückgeschickt werden. Die Seenotrettung im Mittelmeer wird behindert und Häfen für die Schiffbrüchigen gesperrt. Eine derart menschenverachtende Politik wird von uns Grünen in aller Deutlichkeit abgelehnt.
Wir Grünen verschließen die Augen vor dieser Situation nicht und haben bereits im Juni 2018 die Leitlinie „Recht auf Asyl schützen – Migration steuern – Zusammenleben gestalten – Europa retten“ aufgestellt, um eine humane, d.h. sichere, aber auch geordnete Aufnahme von verfolgten Menschen in Europa anstreben. In dem vorliegenden Antrag sollen Kapitel 1. der Leitlinie vom 18.Juni 2018 „Migration steuern – einheitliches Asylsystem voranbringen“ sowie Kapitel 3.3. „Einwanderung gestalten, Flüchtlinge schützen“ des Entwurfs Europawahlprogramm des Bundesvorstands, Stand 29.8.2018 „Europas Versprechen erneuern“ konkretisiert werden. Um Missverständnisse zu vermeiden wird darauf hingewiesen, dass sich dieser Antrag nur mit einem Teilaspekt europäischer und nationaler Flüchtlingspolitik befasst. So werden auf die Formen der Integration und die Vermeidung von Fluchtursachen nicht eingegangen.
Wir wollen mit diesen Antrag vor allem drei Fragen beantworten:
1. Wie schaffen wir es, das viele Fluchtwege - über Schlepper teuer erkauft - nicht in Tod oder Elend führen und den Menschenhändlern das Handwerk gelegt werden kann?
2. Wie schaffen wir es organisatorisch, eine humane europäische Aufnahme für Flüchtlinge durchzuführen?
3. Wie schaffen wir es, diejenigen, die ein Bleiberecht erhalten, fair und gerecht in den dazu bereiten europäischen Mitgliedstaaten zu verteilen?
Die Antwort auf die erste Frage könnte sein, dass wir europäische Aufnahmeeinrichtungen innerhalb und außerhalb Europas einrichten, in die sich Flüchtlinge freiwillig begeben können. Zwar können humanitäre Visa, Familiennachzug und großzügige Kontingente über das Resettlement-Verfahren des UNHCR bereits einen Teil der Lösung darstellen. Diese Möglichkeiten kommen aber nur für diejenigen in Frage, die noch nicht oder nicht mehr auf der Flucht sind. Menschen auf der Flucht können dadurch nicht erreicht werden. Sie sind häufig schutzlos, müssen in Lagern notdürftig für lange Zeit menschenunwürdig hausen und werden von Menschenhändlern als Geiseln erpresserisch missbraucht. Europäische Aufnahmeeinrichtungen können dagegen Schutz bieten und einen sicheren Hort unter humanen Bedingungen darstellen.
Neben der Versorgung und Betreuung kann gleichzeitig eine Prüfung der Verfolgung der schutzsuchenden Menschen stattfinden. Führt sie zu einem positiven Ergebnis gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, werden sie in europäischen Ländern aufgenommen und möglichst integriert. Werden sie abgelehnt, sollen sie auf humane Art und Weise in ihre Länder zurückgeführt werden. Gleichzeitig ist sicher zu stellen, dass die einheimische Bevölkerung rund um die Aufnahmeeinrichtungen der EU nicht zusätzlich belastet wird. Vielmehr sollte auch hier die Infrastruktur verbessert werden.
Hinsichtlich der Größenordnungen, welche Flüchtlinge welche Aufnahmemöglichkeiten in Anspruch nehmen, können nur Annahmen getroffen werden. Wichtig ist aber, dass alle skizzierten Wege offen stehen und kein Zwang ausgeübt wird, ganz bestimmte Fluchtrouten zu nehmen oder in ganz bestimmten Einrichtungen zwangsweise untergebracht zu werden. Also keine Art ANKER-Zentren auf europäischer oder nationaler Ebene, die nur dazu dienen, Geflüchtete möglichst schnell abzuschieben, sondern Einrichtungen in Europa und den Anrainerstaaten, die zum Schutz und der Stellung von Asylanträgen dienen.
Da die europäischen Einrichtungen erst 2019 oder später eingerichtet werden können, würden hierdurch voraussichtlich zunächst nur wenige diese Möglichkeit in Anspruch nehmen. Dies könnte sich mit der Zeit ändern, wenn festgestellt wird, dass sie einen sicheren Hort darstellen, menschliche Behandlung stattfindet und die Asylanträge fair geprüft werden.
Die Verteilung von Flüchtlingen in den einzelnen Ländern stellt bis heute ein nahezu unüberwindliches Problem dar, weil sich einige Länder weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Andere bleiben weit hinter ihren Zusagen zurück. Es ist daher erforderlich, ein solidarisches System zu schaffen, das zum einen auf Freiwilligkeit beruht, zum anderen aber Anreizsysteme schafft, um die Lasten der Aufnahme von Flüchtlingen zu erleichtern. Dies
könnte darin bestehen, dass die Kosten für Unterbringung und Integration der Flüchtlinge angemessen durch den EU-Haushalt erfolgt. Insofern würden diejenigen Länder (und
Kommunen), die Flüchtlinge aufnehmen, einen Ausgleich für ihre Lasten erhalten. Wichtig ist auch, die einheimische Bevölkerung in den Kommunen dabei nicht zu vergessen, um eine Neiddebatte zu vermeiden.
Hinsichtlich der Verteilungskriterien unter den dazu bereiten Ländern könnte auf den Schlüssel zurückgegriffen werden, der bereits von den Grünen im Europäischen Parlament entwickelt wurde.
Beschlossen von der Kreisversammlung von Bündnis 90/Die Grünen am 18. September 2018
Kommentare
Mario Hüttenhofer:
https://antraege.gruene.de/43bdk/Kapitel_3_Sichern_was_uns_ausmacht_Freiheit_Demokratie_und_Mensche-24211/4053
Der Antrag fordert die Einführung des Botschaftsverfahrens als legalen Fluchtweg ins Europawahlprogramm zu schreiben.