Veranstaltung: | 44. Bundesdelegiertenkonferenz Bielefeld |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | BAG Kinder, Jugend und Familie (dort beschlossen am: 28.09.2019) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 02.10.2019, 10:30 |
V-10: Abschaffung der Kostenbeiträge für Jugendliche und junge Erwachsene in der stationären Jugendhilfe
Antragstext
Bündnis 90/ Die Grünen fordern, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die in Einrichtungen
der Kinder- und Jugendhilfe und in Pflegefamilien leben, zukünftig keinen Kostenbeitrag für
die jeweilige stationäre Jugendhilfemaßnahme einsetzen müssen. Bei der anstehenden Reform
des SGB VIII muss die Verpflichtung zur Erhebung eines Kostenbeitrags bei allen jungen
Menschen, die vollstationäre Leistungen erhalten, gestrichen werden.
Begründung
Junge Menschen, die in einer Pflegefamilie oder in einer Einrichtung vollstationär untergebracht sind, haben nach § 94 (6) Satz 1 SGB VIII 75 % ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen. Hierbei handelt es sich in der Regel um Ausbildungsvergütungen, Aufwandsentschädigungen für ein Praktikum oder auch um Taschengeld für ein FSJ. Diese Einkommen haben für die jungen Menschen eine erhebliche motivationsstiftende Wirkung. Mit der bisherigen Regelung bleibt von dem Einkommen kaum etwas übrig, so dass die Bereitschaft, sich in einem Nebenjob, einem FSJ oder Praktikum sinnvoll zu betätigen, deutlich reduziert wird. Dies ist mit Blick auf das Ziel der Hilfen, die auch zur Verselbständigung und der Selbstverantwortung der jungen Menschen beitragen sollen, kritisch zu bewerten. Dies bringen junge Menschen, die sich als „Careleaver“ organisiert haben, auch selbst deutlich in Stellungnahmen zum Ausdruck.[1]
Die geltende Ausnahme, wonach der öffentliche Träger der Jugendhilfe, auf eine Kostenheranziehung verzichten kann oder diese reduzieren darf, sofern das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, welche dem Zweck der Hilfe dient (§ 94 (6) Satz 2 und 3 SGB VIII), ist nicht ausreichend und wird zu selten genutzt, da der Fokus hier auf Engagement/ehrenamtlicher Tätigkeit v. a. im sozialen und kulturellen Bereich liegt. Auch andere Erwerbssituationen z.B. in einer Ausbildung oder in einem Schülerjob dienen der Verselbständigung und müssten deshalb Berücksichtigung finden. Zudem sollten junge Menschen, gerade wenn sie außerhalb der eigenen Familie untergebracht sind, die Möglichkeit haben, für ihre spätere Lebenssituation vorzusorgen. Diese Jugendlichen haben einen Verlust ihrer engsten Bindungspersonen zu verarbeiten und sind dadurch allein schon sozial benachteiligt. Sie stehen vor den besonderen Herausforderungen durch das weitgende Auf-sich-selbst-Gestelltsein, wenn sie mit 18 oder 21 Jahren aus der Jugendhilfe herausfallen. Deshalb brauchen sie die Chance, sich ein kleines Polster dazuzuverdienen, das ihnen als Care Leaver den Start in die Selbstständigkeit erleichtert. Sie sollten daher nicht gegenüber denjenigen Jugendlichen benachteiligt werden, die in ihrer Herkunftsfamilie leben und sich zum Beispiel in Ferienjobs etwas verdienen.
Letztlich verlangt der Staat von den Kindern/Jugendlichen für etwas, was diese nicht selbst verursacht haben, gerade zu stehen und für die Hilfe, die sie erhalten, zu bezahlen.
Kommentare
Stefen Mario Schrapp:
ABSCHAFFUNG DER KOSTENHERANZIEHUNG FÜR JUNGE MENSCHEN IN STATIONÄREN EINRICHTUNGEN
https://www.openpetition.de/petition/online/abschaffung-der-kostenheranziehung-fuer-junge-menschen-in-stationaeren-einrichtungen?direct=1
Uwe Josuttis:
Aber es besteht ja schon jetzt die Möglichkeit, mit dieser Heranziehung flexibel und zu Gunsten der jungen Menschen umzugehen. Wie ist denn da die Praxis in der Jugendämtern? Vor allem bei denen, wo Grünen die politische Verantwortung in der Kommune haben? Ihr Grüne z. B. in den Jugendhilfeausschüssen oder als zuständige Dezernenten*innen, fragt bei Euch doch mal nach und sorgt dafür, dass bei Euch die Praxis entsprechend geändert wird. Ihr müsst nicht erst auf ein neues Bundesgesetz warten. Wäre gut für die politische Glaubwürdigkeit.
Uwe Josuttis KV Kassel
Alexandra Heimerl:
Gabriele Bartoszak:
Harm Ellinghusen:
Der § 94 Absatz 6 SGB VIII gilt ausschließlich für junge Volljährige in Pflegefamilien oder stationären Einrichtung. In diesen Fällen stellt der Jugendhilfeträger den gesamten Lebensunterhalt der volljährigen Menschen sicher. Lebensunterhalt beinhaltet unter anderem Verpflegung, Kleidung, Hygiene, Pauschalbeträge für Fahrrad und Führerschein, Werbungsausgaben (Laptop, etc.), Familienheimfahrten und weitere Leistungen. Zusätzlich erhält dieser junge Erwachsene ein Taschengeld in Höhe von zusätzlich 114,48 €.
Jetzt tritt der o.g. Fall ein, der junge Erwachsene erhält nun ein zusätzlich Ausbildungsentgelt in Höhe von 100 €.
Bisher durfte er von dem Ausbildungsentgelt 250 € selbst behalten. 750 € musste er als Kostenbeitrag einsetzen.
Gemäß des o.g. Antrag darf er das komplette Ausbildungsentgelt (1000€) behalten.
Der o.g. Antrag führt zu folgenden Problemen:
- Der junge Erwachsene hat ein monatliches Einkommen im Wert von über 2000 € und fällt spätestens nach der Beendigung der Jugendhilfemaßnahme in ein Loch, weil er sein angewöhnten Lebensstandart nicht mehr halten kann.
- Die Jugendhilfemaßnahmen werden folglich länger bestehen bleiben, obwohl Sie aus pädagogischer Sicht die Jugendhilfe nicht mehr notwendig ist.
- Die weitere Folge ist eine weitere Belastung, des ohnehin schon überlastete Jugendhilfesystem.
- Verstärkung des Fachkräftemangel
- Heranwachsende werden das Jugendhilfesystem nutzen um sich aus finanziellen Gründen in eine Jugendhilfemaßnahme unterbringen zulassen um in den finanziellen Vorteil nutzen zu können. Dies sorgt dafür, dass die Kinder in der Masse untergehen, welche wirkliche Hilfe brauchen.
- Dieser finanzielle Entlastungsmaßnahme hat nichts mit Jugendhilfezielen zu tun und zerstört einen realistischen Verselbstständigungsprozess.
Damit ich jetzt nicht gesteinigt werde, unabhängig davon gibt es schon jetzt eine vorhande Härtefallprüfung, welche in jeden Einzelfall eine Reduzierung des Kostenbeitrages bis auf 0 % zulässt. Eine pauschlalierte oder generelle Reduzierung wie Uwe es anspricht führt grundsätzlich ebenso zu meinen oben genannten Gegenargumenten.
Ich bin auch gegen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarmut. Aber eine Unterbringung im SGB VIII ist meines Erachtens der falsche Ansatz. Dann sollten man als Beispiel lieber das Berufs-Ausbildung-Beihilfe (BAB) stärken und ausbauen.
Der Fokus im BAG Kinder, Jugend und Familie sollte auf eine grundsätzliche SGBVIII Reform zielen, damit man für den Fall einer Regierungsbeteiligung vorbereitet ist.
Auch eine Diskussion der Reduzierung von 75% auf 60% oder 50% würde ich begrüßen. Aber den grundsätzlichen Erlass ist nicht im Sinne der Ziele der Kinder- und Jugendhilfe.
Harm Ellinghusen KV Oldenburg-Land
Martin Drees:
zunächst einmal geht es nicht nur um Volljährige. Das Gesetz spricht hier von „jungen Menschen.“
Die von dir beispielhaft genannte Höhe des Ausbildungsgeldes von 1000 € (wir sprechen hier von um versch. Aufwendungen wie z. B. Soziaversicherung bereinigte Nettobeträge) halte ich für realitätsfern. Wie du dann aber auf 2000 € kommst, erschließt sich mir nicht. Nach einer Studie des BiBB erhalten z. B. Azubis in den Berufen Bäcker‘in, Friseur‘in, Florist‘in zwischen 269 € (Ost) und 600 € (West) brutto. Es geht hier zudem um Nebenjobs wie Zeitung austragen etc. Meine Kinder hatten das Glück und mussten das so verdiente Geld nicht abführen, da sie nicht im Heim lebten. Sonst hätten sie den Job wohl auch nicht gemacht.
Auch die Vorstellung, dass junge Menschen in stationäre Jugendhilfemassnahmen gehen könnten, um den finanziellen Vorteil zu nutzen halte ich für abwegig. An die Aufnahme in eine solche werden ja hohe fachliche Anforderungen gestellt, davon abgesehen, dass dies wiederum Unterhaltsverpflichtungen der Eltern auslösen würde.
Der Verwaltungsaufwand steht schon jetzt in einem Missverhältnis zum ökonomischen Ertrag.
Und schließlich - um auf dein Argument des möglicherweise entstehenden Fachkräftemangels einzugehen - kann es nicht in der Verantwortung dieser jungen Menschen liegen, das Problem zu lösen.
Wesentliches Argument für uns ist jedoch, dass 1. Heim- und Pflegekinder in der Regel nichts für ihre Situation können, sondern durch ihre Biografie sehr belastet sind und dass 2. Careleaver bei Ende der Jugendhilfe in der Regel kein finanziell stützendes familiäres Netzwerk haben und so anderen jungen Menschen gegenüber benachteiligt sind.
Ein lieber Gruß
Martin
Valeska Grap:
Harm Ellinghusen:
vielen Dank für deine Antwort. Gerne möchte ich auch auf deine Antwort reagieren und den Diskussionsprozess fördern.
Zur Erklärung meiner Berechnung
Ich habe 1000 Euro gewählt, mein Junior hat gerade im Sommer eine Ausbildung angefangen und die Ausbildungsvergütungen lagen in einem Fenster von 750 € bis 1250 €. Er hat sich Hauptsächlich für Handwerk und Industrie interessiert. Natürlich gibt es davon immer Abweichungen nach oben und unten.
Folgende Werte stellt der Jugendhilfeträger
WG Zimmer 400 €
Kostgeld 200 €
Kosmetikartikel 50 €
Kleidung 150
Pauschalbetrag Ferienzuschuss, Lernmittel etc. 115 €
Taschengeld 114,48 €
Ausbildungsvergütung 1000 €
Gesamt: 2029,48 €
abzüglich SV, PV RV 200 €
Nettoeinkommen 1829,48 €
Der Verfügungsrahmen liegt dann aber ausschließlich bei 1229,48 € wenn das Kostgeld von Jugendhilfeträger einbehalten wird.
Bei einem Kostenbeitrag von 75 % liegt
Nettoeinkommen 1229,48 €
Der Verfügungsrahmen liegt dann aber ausschließlich bei 629,48 € wenn das Kostgeld von Jugendhilfeträger einbehalten wird.
Bei Nebenjobs wie Zeitungen austragen, Rasenmähen oder Babysitten habe ich keine bisher keine Kostenbeiträge erlebt. Solche Tätigkeiten gehören ab dem 14 Lebensjahr zum Verselbstständigungsprozess und sind somit ein Jugendhilfeziel. Ich kenne keinen Jugendhilfeträger, welcher einen Kostenbeitrag in diesen Fällen erhebt. Damit würde er das Jugendhilfeziel gefährden.
Um die Vorstellungen zu relativieren: § 42 SGB VIII regelt die Inobhutnahme und damit eine stationäre Maßnahme.
Zitatanfang: "§ 42 Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen
(1) 1Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn
1.das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
2. ... " Zitatende.
Mit der Aufnahme in einer stationären Maßnahme eines Kindes oder Jugendlichen endet automatisch die Unterhaltspflicht der Eltern.
"Wesentliches Argument für uns ist jedoch, dass 1. Heim- und Pflegekinder in der Regel nichts für ihre Situation können, sondern durch ihre Biografie sehr belastet sind und dass 2. Careleaver bei Ende der Jugendhilfe in der Regel kein finanziell stützendes familiäres Netzwerk haben und so anderen jungen Menschen gegenüber benachteiligt sind. "
Ich bin bei diesen Punkten voll bei Euch. Aber auch im 2.ten Punkt hat das SGB VIII Einlösung: Der Jugendhilfträger hat die komplette Erstausstattung der eigenen Wohnung sowie die Kaution und Provision zu übernehmen. Ich könnte dies meinem Junior nicht bieten.
Ich will im Tenor nur sagen so schlecht ist das System nicht, auch die Kostenbeitragspflicht hat einen pädagogischen Sinn. Wenn wir die Kinderarmut bekämpfen wollte gibt es sicher besser Ansätze als im SGB VIII.
Ein zerstörtes Jugendhilfesystem und hilft hier niemand weiter.
Viele grüne Grüße
Harm
Martin Drees:
das hört sich doch alles ein wenig nach Jugendhilfe-Schlaraffenland an. Leider ist es so nicht. Ich kenne kein Jugendamt, dass die komplette Wohnungsausstattung übernimmt. Die meisten Dinge sind in örtlich sehr unterschiedlichen Beihilferichtlinien geregelt und vieles hängt vom Wohnort oder dem Wohlwollen der jeweiligen Sachbearbeiter’in ab. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob und in welchem Umfang das Einkommen dem Ziel der Maßnahme dient.
Auch Dein Beispiel der Inobhutnahme führt in die falsche Richtung, denn dabei geht es ja um kurzfristige Gefahrenabwehr. Das Jugendamt hat hier „unverzüglich“ eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen und mit den Eltern nach einer Lösung zu suchen bzw. im Zweifel das Gericht anzurufen. Ein automatischer Einstieg in die Juhi ist das sicher nicht.
Im übrigen gilt auch bei der Inobhutnahme die Kostenheranziehung durch die Eltern (vgl. 91 (1) Nr. 7).
Ich stimme Dir zu, dass das System so schlecht nicht ist. Ich sehe aber durchaus Verbesserungsbedarf.
Das Argument mit der Kinderarmut ist übrigens nicht Bestandteil des Antrags.
Viele Grüße
Martin
Harm Ellinghusen:
also Willkür im Jugendamt möchte ich im Moment niemand unterstellen. Die Situation für die Sachbearbeitung ist schwierig. Es gibt keine klare politische Richtung der großen Koalition. Ich war im Oktober noch beim Bundesministerium in Berlin, dort war die klare Aussage weiter wie bisher. Die Rechtsprechung drifte im Moment in alle unterschiedlichen Richtungen. Die Arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter haben eine Empfehlung abgegeben. Das wir in einer förderalisierten System leben ist grundsätzlich ein Nachteil, weil jedes Bundesland sein eigenes System fährt, aber gerade hier sind sich alle einig, nur keinen interessiert es. Das Bundesverwaltungsgericht hat mir vor kurzem die Zusage geben, spätesten in 2020 ein Grundsatzurteil zu fällen. Dann wird wie im SGB II mit den Sanktionen die Diskussion von heute auf morgen erledigt. Wir sollten die Schuld hier nicht den Sachbearbeitern zu schieben und über Willkür reden. Die Sachbearbeiter haben die Situation im Moment nicht zu verantworten.
Die Feststellung einer Gefährdungseinschätzung oder die das anrufen des Familiengerichts sind wenn das familiäre System sich verweigert an langwieriger Prozess, welcher in der Regel mehrere Monate dauert. Insbesondere bei der aktuellen Auslastung der Amtsgerichte sind wir eher bei einem Jahr. Nach den medialaufbereiteten Fällen sind selbst die Pädagogen verunsichert und richten lieber eine stationäre Maßnahme ein, besonders im Hinblick auf die raren Inobhutnahmeplätze.
Ein Kostenheranziehung erfolgt auch bei den Inobhutnahmen, diese ist in der Regel aber auch wesentlich geringer als ein möglicher zu leistender Unterhalt.
Ich wünsche Euch eine unterhaltsame und spannende Diskussionen und viel Spass auf der BDK.
Viele grüne Grüße
Harm