Veranstaltung: | 44. Bundesdelegiertenkonferenz Bielefeld |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 15.11.2019 |
Eingereicht: | 08.01.2020, 14:30 |
Der Brexit zeigt: Der Kampf für Europäische Einigkeit ist wichtiger denn je
Beschlusstext
Wir GRÜNE sind eine europäische Partei und die Partei des europäischen Zusammenhalts. Umso
schmerzhafter war für uns die Entscheidung einer Mehrheit der britischen Wähler*innen in
2016, die Europäische Union verlassen zu wollen.
Die EU hat sehr geschlossen eine gemeinsame Position formuliert und seitdem zwei
Austrittsabkommen mit den britischen Regierungen verhandelt. Dabei lag und liegt nach wie
vor das Modell Norwegen auf dem Tisch.
Einerseits ging es in dem Austrittsvertrag darum, die Rechte der nicht-britischen EU-
Bürger*innen im Vereinigten Königreich und der britischen Bürger*innen in der EU zu sichern,
die offenen britischen Zahlungen für den EU Haushalt zu klären, und eine Übergangsphase zu
finden, während derer beide Seiten sich auf eine zukünftige Partnerschaft einigen.
Andererseits war und bleibt die zentrale Aufgabe, den Frieden auf der irischen Insel und
gleichzeitig den Binnenmarkt zu sichern. Denn jedes Abkommen, das eine harte Grenze - also
Grenzkontrollen auf der irischen Insel - herbeigeführt hätte, würde den fragilen Frieden in
Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen gefährden.
Gleichzeitig war klar, dass Lösungen für die irische Frage mit großen Risiken für den
Binnenmarkt verbunden sind. Keine europäischen Gesetze und Standards für Nordirland,
trotzdem totaler Zugang zum Binnenmarkt - dies wären beste Voraussetzungen für das Sozial-,
Umwelt- und Steuerdumping, das Brexiteers wie Boris Johnson regelmäßig ankündigen.
Wir haben die Verhandlungslinie der EU immer unterstützt, aber nach wie vor gilt: Eine
verantwortungsvolle britische Regierung hätte Lösungen für diese zentralen Probleme
erarbeitet, bevor sie überhaupt ein Referendum durchgeführt hätte. Stattdessen haben Anti-
Europäer*innen und die Leave-Kampagne ein Klima aus Hass und Misstrauen erzeugt, das die
britische Gesellschaft gespalten hat. Mit dieser Kampagne aus Lügen, Halbwahrheiten und
Fehlinformationen wurde das Referendum gewonnen, die gespaltene Gesellschaft und das Klima
aus Hass und Misstrauen bleiben bis heute. Wir fordern die britische Regierung auf, endlich
Brücken zu bauen, keine Lügen mehr über die EU und den Austritt zu verbreiten,
Hassverbrechen zu verurteilen und weiter gegen Rassismus, sei es durch Politiker*innen, der
Presse oder einzelner Bürger*innen, vorzugehen.
Nachdem das britische Unterhaus den Zeitplan für die Ratifizierung des aktuellen
Austrittsvertrags abgelehnt und die Beantragung der Verlängerung bis Ende Januar 2020 gegen
Johnson durchgesetzt hatte, hat der Rat nun ein drittes Mal beschlossen, das Austrittsdatum
zu verschieben. Wir begrüßen diese Entscheidung, da sie den Willen des Parlaments
wiederspiegelt. Durch die jetzt vorgesehenen Neuwahlen am 12. Dezember kann wieder Bewegung
in die vertrackte Situation kommen.
Mit dem zweiten Austrittsvertrag ist die EU Boris Johnson weit entgegengekommen und große
Risiken eingegangen.
Das nun verhandelte Austrittsabkommen sieht nämlich keinen Backstop mehr vor - also eine
Absicherungspolicy, falls für die Frage der zukünftigen Zoll- und Binnenmarktbestimmungen,
die eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindern sollen, keine Lösung gefunden würde.
Stattdessen wurde für Nordirland nun eine permanente Lösung gefunden, die vorsieht, dass
Nordirland rechtlich Teil des UK- Zollgebietes ist, de facto aber Teil der EU-Zollunion ist.
Diese Aufteilung in de jure und de facto Regelungen ist ein großes Zugeständnis der EU an
Großbritannien und birgt große Risiken für die Zollunion und den Binnenmarkt.
Dies gilt mit Blick auf die Zollunion in zweifacher Hinsicht. Erstens besteht beim Import
die Gefahr einer Unterwanderung von EU-Zöllen. Die Unterscheidung in Güter für Nordirland
und für den Rest der EU kann zu großer Bürokratie führen oder zu Lasten der EU umgesetzt
werden. Dies muss verhindert werden und bei den Kontrollen sichergestellt werden, dass
regelmäßige, unangekündigte EU-Kontrollen stattfinden können. Dafür müssen alle
Überwachungsinstrumente - zum Beispiel bei der Kontrolle der Zollbestimmungen - genutzt
werden und bei Fehlverhalten eindeutige Konsequenzen gezogen werden. Zweitens wurde der
Export nicht eindeutig geklärt. Es besteht deswegen die Gefahr, dass für den Export von
Waren die Verlagerung des Firmensitzes nach Nordirland lukrativ sein kann, um zum Beispiel
US-amerikanische Strafzölle auf Stahl und Aluminium zu umgehen. Hier muss eine Regelung
gefunden werden, die Nordirland für den Export rechtlich und de facto als Teil der EU-
Zollunion sieht.
Mit Blick auf das so genannte Level Playing Field, also ein fairer Wettbewerb, der Umwelt-
und Sozialstandards respektiert und nicht in eine Dumping-Spirale mündet, findet sich eine
Verpflichtung nur in der rechtlich nicht bindenden politischen Erklärung.
Falls dieser Vertrag jemals im britischen Unterhaus ratifiziert wird, müssen sowohl die
Kommission als auch die Bundesregierung erstens bei dessen Umsetzung darauf hinwirken, dass
Nordirland nicht zu einer Sonderwirtschaftszone und zusammen mit Großbritannien nicht
Steueroase wird, in der europäische Zoll- und teilweise Binnenmarktregeln umgangen und
unterminiert werden können. Zweitens müssen dann für die Verhandlungen über die zukünftigen
Beziehungen mit Großbritannien als erstes die Sozial- und Arbeitnehmerrechte wieder auf die
Tagesordnung. Beim Level Playing Field, also dem fairen Wettbewerb, darf es keine Abstriche
geben. Umwelt- und Sozialstandards und Arbeitnehmerrechte und Verbraucherschutz für EU
Bürger*innen müssen dynamisch angepasst werden.
Die größten negativen Konsequenzen sowohl für das Vereinigte Königreich, den Frieden in
Nordirland, als auch die EU hätte ein No-Deal-Brexit.
Falls - wie Mays Deal - auch dieser Austrittsvertrag nie ratifiziert wird, muss klar sein:
Weitere Zugeständnisse in Richtung Schwächung des Binnenmarktes darf die EU in weiteren
Verhandlungen nicht machen.
Wir glauben weiter: Wer in dieser schwierigen Situation eine Lösung für den Brexit finden
will, sollte die Frage an die britische Bevölkerung zurückgeben. Wir akzeptieren kein
weiteres populistisches Gegeneinanderausspielen von Bevölkerung gegen Parlament, wie Johnson
es in den letzten Wochen massiv betrieben hat. Die liberale Demokratie müssen wir gemeinsam
verteidigen.
Nach dem Referendum ist im Vereinigten Königreich die größte pro-europäische
Bürger*innenbewegung des ganzen Kontinents entstanden. Viele Millionen Menschen sind auf die
Straße gegangen, um für Bürger*innenrechte zu demonstrieren und darum, bei der Brexit-
Entscheidung das letzte Wort in einem Referendum zu haben.
Wir stehen fest an der Seite dieser Bürger*innenbewegung. Wir werden auch weiter diejenigen
unterstützen, die für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union
kämpfen.
Sollte es doch zu einem Brexit kommen, dann werden wir vom ersten Tag danach diejenigen
unterstützen, die sich im Vereinigten Königreich für einen Wiedereintritt in die EU
engagieren. Wir werden die britischen Bürger*innen nicht aufgeben und weiter für sie und
ihre Rechte auch nach dem Brexit kämpfen.
Begründung der Dringlichkeit
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