Veranstaltung: | 44. Bundesdelegiertenkonferenz Bielefeld |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Ursula Hertel-Lenz (Berlin-Steglitz/Zehlendorf KV) und 23 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 54%) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 26.09.2019, 07:18 |
Antragshistorie: | Version 1 |
V-50: „EUROPA“ UND „EUROPÄISCHE UNION“ BESSER UNTERSCHEIDEN
Antragstext
Der Begriff „Europa“ beinhaltet für uns Grüne die Vision einer friedlichen Zukunft des
Kontinents: die Verwirklichung von Menschenrechten, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit
sowie die Überwindung von Spaltungen, Konflikten und Kriegen. Zusammen mit vielen anderen
arbeiten wir daran, diese Zukunftsvorstellung zu realisieren.
Die Begriffe „Europa“ und „Europäische Union“ (EU) müssen im Grundsatzprogramm und in
zukünftigen Wahlprogrammen je nach Bezugnahme konsequent unterschieden werden, sie dürfen
nicht pauschal gleichgesetzt werden. Dies gilt ebenso für die Adjektive „europäisch“ und
„paneuropäisch“: wenn es um die EU geht, müssen jeweils differenzierende Formulierungen
verwendet werden wie z.B. „EU-Ebene“, „EU-weit“ oder „im Rahmen der EU“. Der utopische
Überschuss und der Identität stiftende Aspekt des Europa-Begriffs können z.B. durch
Bezeichnungen wie „EU-Europa“ oder „EU-europäisch“ einbezogen werden.
In Eigennamen kann das Adjektiv „europäisch“ wie üblich verwendet werden: „das Europäische
Parlament“, „die Föderale Europäische Republik“. - Nach dem Austritt Großbritanniens aus der
EU wäre die Gleichsetzung der Begriffe „Europa“ und „Europäische Union“ noch weniger
angemessen als gegenwärtig schon.
Denn Europa ist mehr als die EU mit ihren (noch) 28 Staaten. Der Europarat hat 47
Mitgliedstaaten, Weißrussland ist - wegen der Todesstrafe - seit 1993 nur Beitrittskandidat.
Zu den 20 Nicht-EU-Staaten des Europarats gehören sehr kleine Staaten wie Andorra, Monaco,
San Marino und Liechtenstein sowie mittlere Staaten wie Norwegen und die Schweiz. Einige der
20 durch die Gleichsetzung von „Europa“ und „EU“ übergangenen Staaten haben intensive
Beziehungen zur EU bzw. sind Beitrittskandidaten. Der bedeutendste Nicht-EU-Staat des
Europarats ist Russland.
Die Metapher „das europäische Haus“ darf nicht auf die Europäische Union verengt werden.
Dieses sprachliche Bild, von Gorbatschow am Ende des Kalten Krieges verwendet, um die
Überwindung des Gegensatzes von NATO und Warschauer Pakt in den Blick zu nehmen und um die
Idee einer friedlichen Zukunft Europas unter Einschluss Russlands zu formulieren, sollte
auch weiterhin die Zielsetzung einer Überwindung der Konflikte und Spaltungen im gesamten
Europa ausdrücken, auch wenn insbesondere die Gegensätze zu Russland zur Zeit unüberwindbar
erscheinen mögen.
Denn Sprache schafft Wirklichkeit. Sprache kann den Raum offen halten und neu öffnen, damit
für alle Europäer*innen die Vision einer gemeinsamen Zukunft in einem demokratischen und
friedlichen Europa Wirklichkeit werden kann.
Begründung
Begründung
Im Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm werden die Begriffe „Europa“ und „Europäische Union“ (bzw. „EU“) sowie „europäisch“ und „EU-weit“ stellenweise synonym verwendet, besonders im ersten Teil des Kapitels „Grundsätze einer gerechten und friedlichen Weltordnung“ (S. 31 – 36).
Diese - stellenweise - Gleichsetzung von „Europa“ und „EU“ bzw. „europäisch“ und „EU-weit“ im Grundsatzprogramm – oder auch in einem Wahlprogramm - ist keine Frage des Stils oder der gefälligen, weil abwechslungsreicheren Formulierungen. Mit einer Gleichsetzung wäre implizit der Anspruch verbunden, dass die EU mit ihren 28 (demnächst evtl. 27) Staaten das eigentliche Europa ist und die restlichen 20 Nicht-EU-Staaten weniger oder nichts zählen, ähnlich wie Trump in den Slogans „America First“ und „Make America great again“ den Begriff „America“ für die USA beansprucht. Korrekt müsste es jeweils heißen: „the United States of America“. Die anderen Staaten des amerikanischen Kontinents werden implizit für unbedeutend erklärt.
In den 50ern/ 60ern des vorigen Jahrhunderts sagte man in der Bundesrepublik - oft bewundernd - „in Amerika“ und meinte die USA. Dies zeigte die Bedeutung der USA in der Welt; die anderen Staaten des amerikanischen Kontinents spielten keine Rolle. - Ähnlich wie die Wörter „US-amerikanisch“ und „US-Amerikaner*in“ könnten die Formulierungen „EU-europäisch“ und „EU-Europäer*in“ zur Differenzierung beitragen.
An der Europäischen Union wird - besonders von rechts - die Kritik vorgebracht, sie sei ein „seelenloses“Bürokratiemonster und mache als angeblich „dürres“ Rechtsgebilde absurde „gängelnde“ Vorschriften. Es wäre keine geeignete Lösung, dieser Kritik begegnen zu wollen, indem korrekte Begriffe wie „Europäische Union“ oder „EU-Ebene“ stellenweise vermieden und durch anscheinend gefälligere – weniger „bürokratische“ - Bezeichnungen wie „Europa“ bzw. „europäisch“ ersetzt werden. Denn durch die fehlende Differenzierung werden Staaten Europas als weniger bedeutend übergangen oder sogar aus Europa ausgegrenzt.
Im Folgenden werden einige Zitate aus dem Zwischenbericht angeführt:
- Gleichsetzung der Begriffe „Europa“ und „Europäische Union“
Beispiel 1: Gleichsetzung Europas mit der EU und (nur) einem Teil der europäischen
Nicht-EU-Staaten
„Nie waren die Menschen in Europa so frei und sicher wie heute.“ (S. 32, Unterstreichungen U.H.)
„Europa“ kann hier nur bedeuten: die EU und Länder wie Norwegen, San Marino oder die Schweiz, aber nicht die Ukraine (> Krim), Weißrussland oder Russland.
Beispiele 2 und 3: Gleichsetzung Europa – EU
„Außerdem wollen wir die demokratische Mitbestimmung der Bürger*innen in Europa stärken, damit Instrumente wie die Europäische Bürgerinitiative mehr Durchschlagskraft entfalten können.“ (S. 32, Unterstreichung U.H.)
Die Europäische Bürgerinitiative ist bekanntermaßen ein Instrument der EU. -
Im Abschnitt: „Die Europäische Union muss weltpolitikfähig werden“ heißt es:
„… muss die EU weltpolitikfähig werden. … Dafür muss Europa zu mehr strategischer Souveränität gelangen … Das gilt besonders im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.“ (S. 34, Unterstreichung U.H.)
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bezieht sich nur auf die EU.
2. Gleichsetzung von „europäisch“ und „EU(-weit)“
Stellenweise wird das Adjektiv „europäisch“ zur Unterscheidung zwischen der EU-Ebene und der Ebene des Nationalstaats verwendet:
„Militärische Parallelstrukturen und Überkapazitäten werden durch eine Umschichtung nationaler Mittel auf die europäische Ebene abgebaut.“ (S. 35, Unterstreichung U.H.)
„… des gemeinsamen europäischen Hauptquartiers in Brüssel.“ (S. 35, Unterstreichung U.H.)
Die Verwendung von „europäisch“ im Unterschied zu „nationalstaatlich“ kann nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass es sich gewissermaßen um (politische) Umgangssprache handeln würde, ähnlich wie in dem Spruch: „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“. Denn in einem programmatischen Text muss klar zum Ausdruck kommen, dass nur von einem EU-„Hauptquartier“ die Rede ist und dass die große Aufgabe, durch neue Vertragswerke - etwa im Rahmen der OSZE - tatsächlich alle europäischen Staaten einzubinden, noch gelöst werden muss.
Auch in der Formulierung:
„… braucht es … ein einheitliches europäisches Asylsystem, das die Verantwortung innerhalb der EU … fair verteilt.“ (S. 39), ist tatsächlich ein EU-weites „Asylsystem“ gemeint.
Im Kapitel „Für eine Weltinnenpolitik mit den Vereinten Nationen“ heißt es:
„Mit einer immer stärker werdenden EU verfolgen wir das Ziel einer Weltinnenpolitik im Rahmen der Vereinten Nationen. Ein logischer Schritt wäre ein europäischer Sitz im Sicherheitsrat.“ (S. 42)
Gemeint ist vermutlich ein gemeinsamer Sitz der EU (was nach jetzigem Stand wohl bedeuten würde, dass GB und Frankreich ihre Sitze abgeben müssten). Die Formulierung „europäischer Sitz“ blendet die 20 Nicht-EU-Staaten des Europarats aus, insbesondere Russland, das ebenfalls Mitglied im Sicherheitsrat ist.
3. Verengung von „paneuropäisch“ zu „EU-weit“
Im Unterkapitel „Von der Europäischen Union zur Föderalen Europäischen Republik“ heißt es:
„… ist es notwendig, eine europäische Öffentlichkeit, einen Kommunikationsraum für alle Europäerinnen und Europäer zu schaffen. … Wir brauchen einen paneuropäischen Diskurs über europäische Themen.“ (S. 32)
Der kurze Absatz endet mit Verweis auf die Europäische Bürgerinitiative, d.h. – wie auch durch die Überschrift nahe gelegt – der Kontext ist verengt auf die EU. „Paneuropäisch“ bedeutet aber laut Duden: „gesamteuropäisch“, auf wortbedeutung.info heißt es: „ das gesamte Europa betreffend“.
4. Die EU „als Kontinent“
„Die EU sollte sehr viel stärker auf militärische Zusammenarbeit und Koordinierung setzen, um als Kontinent [!] stärker europäische strategische Interessen – gerade innerhalb der NATO – vertreten zu können …“ (S. 36, Unterstreichungen U.H.).
Hier wird sogar der geografische Begriff Europas explizit mit dem der EU gleichgesetzt.
5. Die unklare Verwendung der geografischen Bezeichnung „osteuropäisch“
Im Kapitel „Neue Bewegung für Abrüstung“ heißt es zu Beginn:
„Eine große Gefahr liegt in einer neuen Aufrüstungsspirale wie zu Zeiten des Kalten Krieges, wieder in Europa. Wir nehmen die Sicherheitsbedenken unserer osteuropäischen Nachbarn ernst.“ (S. 36)
Das „Wir“ in „unsere“ ist nicht eindeutig. Wenn „wir Deutschen“ gemeint sind, geht es um die östlichen EU-Staaten wie Polen oder Lettland. Oder sind auch östliche EU-Anrainerstaaten gemeint?
Dass Russland nicht zu „unseren osteuropäischen Nachbarn“ gezählt wird, macht der Verweis auf deren „Sicherheitsbedenken“ wegen „einer neuen Aufrüstungsspirale“ indirekt deutlich. Wozu gehört es dann? Osteuropa endet nicht an der russischen Westgrenze.
6. Die Verengung der Metapher „das europäische Haus“ auf die EU
Unter der Überschrift: „Von der Europäischen Union zur Föderalen Europäischen Republik“ (S. 31) heißt es:
„… müssen wirdie Fundamente des europäischen Hauses erneuern.“ (S. 32, Unterstreichung U.H.)
Mit dem Begriff „europäische[s] Haus“ ist offenbar die EU gemeint, denn nicht nur in der Überschrift, sondern auch im folgenden Absatz geht es um „eine stetige Vertiefung und Verbesserung der EU“ (S. 32, Hervorhebung im Original).
Am Ende des Kalten Krieges bedeutete das Bild vom „gemeinsamen Haus Europa“, dass Russland Teil Europas ist. Heute ist die Rede von einem neuen Kalten Krieg, insbesondere seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 und wegen der andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine, in die Russland aktiv involviert ist.
Dennoch – oder gerade deswegen – ist es notwendig, in der Sprache den Raum offen zu halten und neu zu öffnen für die Vision eines friedlichen Europas, das alle Europäer*innen einschließt.
weitere Antragsteller*innen
- Horst Schiermeyer (Görlitz KV)
- Bernd Frieboese (Berlin-Reinickendorf KV)
- Tobias Balke (Berlin-Charlottenburg/Wilmersdorf KV)
- Jan Kout (Berlin-Kreisfrei KV)
- Bianca Denfeld (Berlin-Kreisfrei KV)
- Fritz Lothar Winkelhoch (Oberberg KV)
- Barbara Poneleit (Forchheim KV)
- Thomas Mohr (München KV)
- Tonia Budelmann (Berlin-Pankow KV)
- Nicole Rudner (Berlin-Kreisfrei KV)
- Karl-Wilhelm Koch (Vulkaneifel KV)
- Klemens Griesehop (Berlin-Pankow KV)
- Peter Kallusek (Südliche Weinstraße KV)
- Charlotte Unnerstall (Teltow-Fläming KV)
- Ralph Urban (Herzogtum Lauenburg KV)
- Maria Regina Feckl (Erding KV)
- Monika Berkhan (Peine KV)
- Laura Reiner (Berlin-Neukölln KV)
- Angélique Menjivar de Paz (Berlin-Spandau KV)
- Angelika Wilmen (Berlin-Pankow KV)
- Juliana Wimmer (Berlin-Kreisfrei KV)
- Christian Jacobs (Berlin-Mitte KV)
- Johanna Hartz-Goiteom (Berlin-Mitte KV)
Kommentare
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