Vier Millionen Menschen, fast 10% der Erwerbstätigen, waren 2019 als Selbstständige tätig, davon allein 2,2 Millionen als Solo-Selbstständige (z.B. Honorarlehrkräfte, ÜbersetzerInnen, KünstlerInnen und Kulturschaffende).
Seit über 100 Jahren trägt die gesetzliche Rentenversicherung als verpflichtende Eigenvorsorge dazu bei, Menschen im Alter vor Altersarmut zu schützen. Die Veränderungen hin zu einer „Arbeitswelt 4.0“ führen dazu, dass immer weniger Erwerbsverläufe der lange vorherrschenden Erwerbsbiografie des typischen Rentners mit langen Phasen abhängiger, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bei einem oder wenigen Unternehmen entsprechen. Zunehmend wechseln sich abhängige Beschäftigung und Selbständigkeit ab oder treten sogar parallel auf. In der Plattformökonomie entstehen neue Formen hybrider Selbstständigkeit, i.d.R. ohne Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen.
Solange für Einkommen aus selbstständiger Arbeit keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung gegeben ist, entstehen so lückenhafte Versicherungsbiografien und in der Folge ein erhöhtes Risiko der Altersarmut sowie die Gefahr, dass sich Menschen bewusst der Beitragspflicht entziehen und das System der solidarischen Altersvorsorge damit schwächen (moral hazard). Selbständige sind überdurchschnittlich stark von Altersarmut bedroht, vor allem bei fehlender Pflichtversicherung in einem berufsständischen Versorgungswerk und/oder nicht möglicher bzw. unterlassener freiwilliger privater Altersvorsorge zur Ergänzung eventuell bestehender Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies betrifft häufig „kleine“ Selbstständige und Beschäftigte mit Pendelbiografien. Nur rund 30% der Soloselbstständigen sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Zwölf Prozent der Selbstständigen, die nicht in die Gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, hatten 2013 weder eine private Vorsorgeversicherung noch ein nennenswertes Haushaltsvermögen.
Die Europäische Säule sozialer Rechte sieht vor, dass Selbstständige das Recht auf angemessenen Sozialschutz und auf ein Ruhegehalt haben sollen, das ein angemessenes Einkommen sicherstellt. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weist Deutschland eine besonders große Lücke in der staatlich verpflichtenden Altersvorsorge für Selbstständige auf.
Wir fordern daher:
- Entsprechend dem 2017 vorgelegten Abschlussbericht der Grünen Rentenkommission sollen mittelfristig alle Bürgerinnen und Bürger in einem gemeinsamen Alterssicherungssystem versichert sein und also auch Beamtinnen und Beamte, Selbständige und Abgeordnete auf alle Einkommensarten unabhängig vom Erwerbsstatus in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen.
- In einem ersten Schritt zu einer Bürger*innenversicherung sollen Selbstständige, die über keine obligatorische Absicherung z.B. in berufsständischen Versorgungswerken verfügen, in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert werden, auch um sicherzustellen, dass Beitrags- und Leistungsgestaltung (z.B. bei Erwerbsminderung oder Rehabilitation) für Selbständige den Regelungen für abhängig Beschäftigte möglichst ähnlich sind und das Element des Solidarausgleichs berücksichtigt ist.
- Die Bezugsgröße für die Beitragsbemessung ist so zu gestalten, dass sich Einkommensschwankungen möglichst wenig auf die kontinuierliche Zahlung der Beiträge auswirken. So sind z.B. in Österreich heute schon Selbständige gesetzlich rentenversichert, wobei sich die laufenden Beitragszahlungen am Einkommenssteuerbescheid des drittvorangegangenen Jahres orientieren, außer in der Gründungsphase von Unternehmen, in der sich die Beiträge der Gründer auf Basis der Mindestbeitragsbemessungsgrundlage errechnen.
- Auftraggeber sind an der Beitragsfinanzierung zu beteiligen, z.B. durch den Aufschlag von Prozentsätzen für Rentenversicherungsbeiträge auf Rechnungsbeträge und die direkte Zahlung dieser Auftraggeberbeiträge an die Rentenversicherung.
Quellen:
Brettschneider, A.; Klammer, U.: Lebenswege in die Altersarmut. Berlin, 2016; Fachinger, U.; Bührmann, A. D.; Welskop-Deffaa, E. M.: Hybride Erwerbsformen. Wiesbaden, 2018.
BMAS 2017: Forschungsbericht 487, Für ein modernes Rentenrecht: Die Einbeziehung von Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung (GRV), Juli 2017.
Brenke, K.: Die allermeisten Selbständigen betreiben Altersvorsorge oder haben Vermögen. In: DIW-Bericht 45/2016, S. 1071–1077.
Welskop-Deffaa, E. M.: Digitalisierung und Reformbedarf in der sozialen Sicherung. In: Deutscher Caritasverband e.V.(Hg.), neue caritas 11/2018 (2018), Lambertus Verlag, Freiburg, S. 34-36.
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