Zum Mandatierungsrecht der VN-Generalversammlung enthält der Antrag des Bundesvorstand auf den Zeilen 154-156 in klaren Worten bereits das unbedingt Notwendige. Der Bundesvorstand übernimmt an dieser Stelle „1:1“ die Formulierungen des (absichtlich knapp gehaltenen) Grundsatzprogramms von 2020 ( https://cms.gruene.de/uploads/documents/20200125_Grundsatzprogramm.pdf, Absätze 374 und 394). Daraus können Grüne jederzeit die erforderlichen Konsequenzen ableiten und entwickeln – wenn sie hinreichend in das Thema eingearbeitet sind. Aber ein Wahlprogramm sollte ausserdem auch der grosse Mehrzahl der „anders-spezialisierten“ Mitglieder und den programmatisch interessierten Wahlberechtigten schnelle Orientierung bieten. Dafür sind – über die Kurzform aus dem Grundsatzprogramm hinaus – bei vielen Themen Anschaulichkeit und Vorsorge gegen mögliche Missverständnisse sehr sinnvoll und politisch geboten. So auch hier.
Die beiden hier beantragten Ergänzungen sind wörtlich aus unserem Europawahlprogramm von 2019 ( https://cms.gruene.de/uploads/documents/B90GRUENE_Europawahlprogramm_2019_barrie-refrei.pdf , dort S. 126f. ) übernommen. Dort stehen sie, damit alle Lesenden gleich wissen:
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diese Auslegung der VN-Charta gehört praktisch seit Beginn der Vereinten Nationen zu den Rechtsstandpunkten der Generalversammlung. Im Präzedenzfall von 1950 hat sie Völkerrecht gegen den erklärten Willen einer Vetomacht gesetzt und damit den – gegen den massiven Militäreinsatz einer weiteren (späteren) Vetomacht erreichten - politischen (Teil-)Erfolg des Koreakrieges dauerhaft legitimiert;
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zu den im VII. Kapitel der VN-Charta als friedensdurchsetzend (bei unmittelbar drohenden oder bereits begonnenen Kriegen) klassifizierten Massnahmen gehören keineswegs nur die vor allem in den Artikeln 42 – 47 geregelten militärischen Massnahmen, sondern genauso die vor allem im Artikel 41 geregelten diplomatischen, kommunikativen und ökonomischen Druckmittel.
Es soll also niemand glauben, Grüne würden hier etwas völlig Neues, noch nie Erprobtes verlangen oder Grüne würden militärische Schritte schon befürworten, bevor alle nichtmilitärischen Möglichkeiten ausgeschöpft oder als offensichtlich wirkungslos verworfen wurden.
Kurz als Rückblick:
Im Schutzverantwortungs-Beschluss „Für eine Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte“, zu dem sich 2012 die BDK Hannover nach langer, engagiert geführter Debatte durchgerungen hat, haben wir diese Forderung verankert - ( https://wolke.netzbegruenung.de/apps/files/?dir=/1_Bundesverband/Inhalte%20%26%2-0Positionen/Beschlüsse%20Gremien/Bundesdelegiertenkonferenzen/2012-11-Hannover&fileid=28918531#pdfviewer, dort S. 7 ). Darauf aufbauend haben wir sie in unsere Bundestagswahlprogramme von 2013 ( https://wolke.netzbegruenung.de/apps/files/?dir=/1_Bundesverband/Inhalte%20%26%2-0Positionen/Beschlüsse%20Gremien/Bundesdelegiertenkonferenzen/2013-04-Berlin&fileid=28918267#pdfviewer , dort S. 307 ) und 2017 ( https://cms.gruene.de/uploads/documents/BUENDNIS_90_DIE_GRUENEN_Bundestagswahlpr-ogramm_2017.pdf , dort S. 86) aufgenommen und dann in unser Europawahlprogramm von 2019 (s.o.) und unser Grundsatzprogramm von 2020 (s.o.).
Wir sollten diese hervorragend wichtige programmatische Entscheidung auch in unserem Bundestagswahlprogramm in vollem Umfang und unmissverständlich bekräftigen, denn:
Die Vereinten Nationen haben gemäß Artikel 1.1. ihrer Charta den Auftrag, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmassnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken ..“ (vgl. https://www.un.org/en/sections/un-charter/chapter-i/index.html ). Zur wirksamen Wahrung des Weltfriedens müssen die Vereinten Nationen sich auch über die Machtinteressen einer Vetomacht oder mehrerer Vetomächte hinwegsetzen können. Um das zu können, brauchen sie die Fähigkeit, Veto-Blockaden ihres Sicherheitsrats zu überwinden. Dies geht, indem eine qualifizierte Mehrheit (also eine Zwei-Drittel-Mehrheit) ihrer Generalversammlung einspringt und selbst friedenserzwingende Massnahmen nach Kapitel VII der VN-Charta beschliesst. Das Recht dazu hat sich die Generalversammlung 1950 erstmals selbst zugesprochen. Wenn sie dieses Recht praktisch anwendet, dann geht die grosse Mehrheit der in der Generalversammlung vertretenden Mitgliedsstaaten in einen ernsthaften politischen Konflikt. Ständige Mitglieder des Sicherheitsrats werden behaupten, diese Durchkreuzung ihrer Vetomacht sei eine unzulässige Über- bzw. Fehlinterpretation der VN-Charta. Wir sollten uns der Risiken bewusst sein, die mit einem solchen Vorgehen verbunden sind, aber genauso der noch viel höheren Risiken bei einer abwartend-resignierenden Haltung. Der Machtanspruch der Vetomächte darauf, dass nur mit ihrer Zustimmung oder Duldung schwerste Menschenrechtsverletzungen, also breit angelegte, systematische Vertreibungs- oder Kriegsverbrechen und Völkermord verhindert oder gestoppt werden dürfen, kann jederzeit wieder zu ganz unerträglichen Situationen führen.
Grüne sollten dabei bleiben, auch in solchen Situationen auf keinen Fall "Koalitionen der Willigen" ohne VN-Mandat zuzustimmen. Der Anschein, auf solche Weise einfacher oder schneller die erforderliche "Feuerkraft" zur Einzelfallhilfe zusammen zu bekommen, täuscht. Erfahrungsgemäß können die Folgen für die betroffenen Länder verheerend sein und der Bruch der VN-Charta weltweit die friedenssichernde Geltung des Völkerrechts und der Vereinten Nationen massiv beschädigen. Eben deswegen ist der Ausweg, friedenserzwingende Massnahmen durch die Generalversammlung zu mandatieren, ein lebenswichtiger, entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer gut funktionierenden Weltfriedensordnung.
Das Recht der Generalversammlung, friedenserzwingende Massnahmen mit qualifizierter Mehrheit zu mandatieren, macht die Vereinten Nationen in jeder Konfliktlage tatsächlich entscheidungsfähig.
Erst nachdem die grosse Mehrheit der VN-Mitgliedsstaaten auf dieses Recht gestützt mehrere Konflikte mit Vetomächten durchgestanden, die Stärke des Rechts gegen das "Recht des Stärkeren" durchgesetzt und Frieden erfolgreich erzwungen haben, gibt es vernünftige Gründe für die Hoffnung auf eine Welt ohne Atomwaffen. Denn erst dann werden alle Atommächte den Vereinten Nationen zutrauen, ihre eigenen nationalen, als vitalen betrachteten Interessen, auch in einem ernsthaften Konflikt mit den grössten anderen Mächten zuverlässig und dauerhaft zu schützen. Erst dann werden sie die Risiken eines Verzichts auf ihre Atomwaffen für geringer erachten als die Risiken eines Behaltens.
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