Veranstaltung: | 48. Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | ES Sichere Energieversorgung für den Winter |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 14.10.2022 |
Eingereicht: | 14.10.2022, 22:35 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Sichere Energieversorgung für den Winter
Beschlusstext
Der Angriff Russlands auf die Ukraine bedeutet unermessliches Leid für die Menschen in der
Ukraine, eine Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung und Risiken für die weltweite
Ernährungssicherheit. Er bringt aber auch große Herausforderungen für unsere
Energieversorgung mit sich.
Mit der von zahlreichen Vorgängerregierungen forcierten Abhängigkeit Deutschlands von
russischen fossilen Energieträgern, vor allem von russischem Gas, wurde Vladimir Putin ein
Instrument an die Hand gegeben, um direkten Einfluss auf unsere Versorgungssicherheit,
unseren Wohlstand und unsere Wirtschaft zu nehmen. Längst hat die russische Regierung
mithilfe willkürlicher Drosselungen oder Abschaltungen der Gaslieferungen einen
Wirtschaftskrieg mit Europa begonnen. Wir unternehmen daher in der Ampel-Koalition jede
Anstrengung, Deutschland nicht nur aus der energiepolitischen Abhängigkeit Russlands zu
befreien. Wir wollen die fossile Abhängigkeit unserer Gesellschaft überwinden und mit einer
dekarbonisierten Energieversorgung die Souveränität Deutschlands und Europas stärken. Dabei
setzen wir Grüne mit aller Kraft auf Einsparung, Energieeffizienz und den beschleunigten
Ausbau erneuerbarer Energien sowie den Bau von Stromspeichern.
Sie sind der beste Beitrag, um die dreifache Herausforderung aus Klimaschutz,
Energiesicherheit und Bezahlbarkeit zu bewältigen. Gleichzeitig muss Deutschland
gezwungenermaßen für die Übergangszeit verstärkt auf fossile Energien zurückgreifen –
Kohlekraftwerke etwa, die in den Markt zurückkehren, oder LNG-Gas, für dessen Anlandung
schwimmende und auf Wasserstoff umrüstbare feste Terminals gebaut werden.
Diese Politik tragen wir Grüne in der Koalition mit SPD und FDP, weil wir uns unserer
Verantwortung für das Land bewusst sind und uns die Aggression Putins dazu zwingt, eine
konsequente Klimapolitik mit der Notwendigkeit der Versorgungssicherheit in Einklang zu
bringen. Die Ampelkoalition arbeitet zugleich mit Hochdruck daran, Bürger*innen und
Unternehmen, welche die zusätzlichen Belastungen nicht eigenständig tragen können,
zielgerichtet vor den Verwerfungen der Energiekrise zu schützen. Mit mittlerweile drei
Entlastungspaketen, die wir als Grüne maßgeblich mitgestaltet haben, haben wir bereits viele
Menschen und Unternehmen in Zeiten dramatischer Preisanstiege unterstützt.
Vorrang für erneuerbare Energien
Parallel zu den explodierenden Gaspreisen durch den Angriff Russlands auf die Ukraine hat
der Ausfall der französischen Atomkraftwerke die Strompreise in ganz Europa zusätzlich
massiv in die Höhe getrieben. Der Versuch, Versorgungssicherheit durch Atomkraftwerke
herzustellen, scheitert in Frankreich an überalterten Kühlrohren und von der Klimakrise
ausgetrockneten Flüssen. Das treibt nicht nur Europas Strompreise, sondern gefährdet
potentiell die Stabilität in Teilen des europäischen Stromnetzes in diesem Winter, etwa in
Bayern. So standen zeitweise über die Hälfte aller französischen Atomkraftwerke still, die
Stromproduktion aus Wasserkraft war aufgrund der klimakrisenbedingten Dürre in vielen
europäischen Ländern auf einem Tiefstand und das dürrebedingte Niedrigwasser auf dem Rhein
ermöglichte nur eingeschränkt den Transport von Kohle an die entsprechenden Kraftwerke.
Hinzu kommt, dass durch den insbesondere auch von der CSU verzögerten Netzausbau Strom, vor
allem aus erneuerbaren Energien, nicht ausreichend von Nord nach Süd transportiert werden
kann. Dadurch drohen Engpässe insbesondere in Süddeutschland. Bitter rächt sich nun, dass
die bayerische Staatsregierung den Ausbau der Windkraft und der Übertragungsleitungen massiv
bekämpft hat. Damit hat die CSU nicht nur für das Land Bayern eine schwierige Situation
geschaffen, sondern für die Bundesrepublik insgesamt.
Unsere Verantwortung für die Menschen in unserem Land und für die Versorgungssicherheit
gebietet es, die Situation in diesem Winter sachlich und problemorientiert zu bewerten. Um
die Diskussion zu versachlichen, hat das Bundeswirtschaftsministerium einen zweiten
Stresstest zur Netzstabilität in Auftrag gegeben, in dem verschiedene Krisenszenarien für
den Winter 2022/23 berechnet wurden. Der Stresstest hat ergeben, dass eine krisenhafte
Situation im Stromsystem für diesen Winter zwar sehr unwahrscheinlich ist, aber nicht
vollständig ausgeschlossen werden kann. Damit besteht mit geringer Wahrscheinlichkeit die
Gefahr von regionalen Lastunterdeckungen.
Um dieser Gefahr vorzubeugen, steht ein Bündel von Maßnahmen zur Verfügung. Dazu gehört die
zusätzliche Stromproduktion durch Windenergie, Photovoltaik und Biogasanlagen, die Erhöhung
von Transportkapazitäten über die vorhandenen Stromnetze, die Nutzung von alternativen
Kraftwerksreserven und die Aktivierung von Leistungsreserven bei Kohlekraftwerken sowie die
Erweiterung des Lastmanagements in enger Absprache mit der Industrie. Wir brauchen ergänzend
und netzstabiliserend regional differenzierte Märkte. Außerdem werden besonders die Träger
öffentlicher Gebäude zum Energiesparen angehalten und alle Stromverbraucher*innen, vom
Anlagenbetreiber über Ladenbesitzer*innen bis hin zu Privatleuten, bei ihren Bemühungen
unterstützt. Maßnahmen zur Energieeffizienz und Energieeinsparung werden verstärkt. All das
ist entscheidend, um die Versorgungssicherheit in diesem Winter zu gewährleisten.
Windkraftausbau zusätzlich beschleunigen
Die bisher ergriffenen Maßnahmen beschleunigen den Ausbau der Windkraft für die Zukunft. Für
2022 und 2023 – und somit entscheidend für die kommenden Winter – leidet der Zubau noch an
den Versäumnissen der Vorgängerregierungen. Wir wollen zusätzlich den Ausbau der Windkraft
an Land kurzfristig ankurbeln, um die Energiepreise zu dämpfen und klimaschädliche
Kohlekraft zu ersetzen. Derzeit liegen Anträge zur Errichtung von 8 bis 10 Gigawatt
Windkraft in den Genehmigungsbehörden. Wir fordern Bund, Länder und Kommunen auf, diese
Anlagen angesichts des russischen Energiekriegs gegen Europa in Schnellverfahren innerhalb
der nächsten sechs Monate zu genehmigen. Dazu müssen Bund und Länder die
Genehmigungsbehörden vor Ort massiv unterstützen. Wir werden die
Beschleunigungsmöglichkeiten soweit rechtlich möglich dafür genauso ausreizen wie beim Bau
der schwimmenden LNG-Terminals, als einmalige Regelung in der Sondersituation der von
Russland herbeigeführten Energiekrise. Zudem müssen bestehende landesspezifische
Zusatzabstände für Windkraftanlagen von Wohnbebauung, die über die bundesweit gültigen
Regelungen hinausgehen, abgeschafft werden.
Das Ergebnis des Stresstestes ist eindeutig: Die Atomkraft ist nicht die Lösung für das
drohende Energieproblem in diesem Winter. Selbst im Süden könnte die Atomenergie nur einen
Bruchteil der notwendigen Maßnahmen zur Netzstabilisierung leisten. Es braucht ein ganzes
Maßnahmenbündel, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Bezogen auf die Atomkraft
hat der Stresstest die lauten Stimmen widerlegt, die im Weiterbetrieb der drei noch am Netz
befindlichen Atomkraftwerke die Lösung aller Probleme sehen. Denn insgesamt spielt die
Atomenergie selbst im Worst-Case Szenario im Vergleich zu den anderen dringenden Maßnahmen
nur eine untergeordnete Rolle, wenn es darum geht, in kritischen Situationen die
Netzsicherheit zu gewährleisten. So erweist sich der Beitrag der AKW für die
Versorgungssicherheit insgesamt als begrenzt, ihr Beitrag zum Einsparen von Gas und zur
Dämpfung der Strompreise als marginal.
Eine befristete Einsatzreserve für den Notfall
Für den äußersten Notfall, so unwahrscheinlich er auch sein mag, wollen wir dennoch
vorsorgen und auf alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für die Netzstabilisierung
zurückgreifen können. Deswegen stimmen wir zu, eine konditionierte, zeitlich begrenzte und
von der Atomaufsicht der Länder strikt überwachte und von der Bundesaufsicht begleitete AKW-
Einsatzreserve zu schaffen. Damit endet die Laufzeit der verbliebenen drei Atomkraftwerke
regulär zum 31. Dezember dieses Jahres. Die beiden AKW im Süden des Landes, Isar 2 und
Neckarwestheim 2, werden jedoch bis maximal 15. April 2023 weiter in Betriebsbereitschaft
gehalten und stehen so – ohne neue Brennelemente – zur Verfügung, um, falls nötig, einen
Beitrag zur Stabilisierung des Stromnetzes in Süddeutschland zu leisten.
Wir begrüßen die in der Vereinbarung mit der Bundesregierung erklärte Bereitschaft der
Betreiber von Isar 2 und Neckarwestheim 2 zum potentiellen Reservebetrieb, sowie die
erklärte Absicht, diese Anlagen nach dem 15. April 2023 unverzüglich zurück zu bauen.
Bündnis 90/Die Grünen werden im Bundestag keiner gesetzlichen Regelung zustimmen, mit der
neue Brennelemente, noch dafür notwendiges neues angereichertes Uran beschafft werden soll.
Sie sind für eine Einsatzreserve nicht erforderlich; neuer, gefährlicher Atommüll wird nicht
produziert. Nur für einen begrenzten Zeitraum bis zum 15. April 2023 und nur für die zwei
süddeutschen AKW ist ein eng konditionierter Einsatz zur Abwehr einer konkreten Gefahr für
die Versorgungssicherheit und ist eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen für den
Leistungsbetrieb von Atomkraftwerken vertretbar und damit zustimmungsfähig. Das AKW Emsland
wird zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet und zurückgebaut. Wir schalten lieber
gefährliche Hochrisikokraftwerke ab, als Windparks abzuregeln - weil sie durch AKW aus dem
Netz gedrängt werden - und als für nicht produzierten Strom trotzdem Geld zahlen zu müssen.
Wir lehnen Forderungen nach weiteren Laufzeitverlängerungen klar ab. Die Risiken im
Stromsystem für den kommenden Winter unterscheiden sich wesentlich vom Winter 2023/24, weil
durch die längere Vorlaufzeit bereits beschlossene Maßnahmen dann stärker wirken und noch
weitere umgesetzt werden können. So setzen wir mit Unterstützung beim Energiesparen und
Energieeffizienz auf ein wesentliches Element bei der dauerhaften und nachhaltigen
Sicherstellung der Energieversorgung. Zusätzlich erhöhen wir bis dahin die Gas-
Importkapazität über schwimmende LNG-Terminals so stark, dass keine Gasmangellage an den
Gaskraftwerken mehr zu befürchten ist. Wir steigern die Verfügbarkeit von Strom aus Biogas-
Anlagen und aus anderen Erneuerbaren. Ebenso verbessern wir die Leistungsfähigkeit der
Stromnetze, die Kraftwerkskapazitäten und flexible Lasten. Damit werden bis Herbst 2023 die
Unsicherheitsfaktoren deutlich reduziert und die Versorgung bleibt auch in Extremszenarien
gesichert. Eine Verlängerung der Einsatzreserve über Frühjahr 2023 hinaus oder eine
Wiederbelebung im Winter 2023/24 ist deshalb ausgeschlossen.
Der Einsatz der Reserve ist nicht voraussetzungslos. Sie kann im Winter 2022/23 und nur dann
eingesetzt werden, wenn die Bundesregierung transparent und unter Mitwirkung des Bundestages
feststellt, dass die Voraussetzungen eines Krisenszenarios, wie in den Bedingungen des
Stresstests beschrieben, vorliegen und auch unter Ausnutzung der anderen Maßnahmen eine
kritische Situation weiterhin droht. Die gesetzlichen Regelungen müssen sicherstellen, dass
die Sicherheit der Anlagen gewährleistet ist, Sicherheitsaspekte auch gegen äußere
Bedrohungen oberste Priorität haben und die Betreiber nicht aus ihrer Verantwortung
entlassen werden.
Der Atomausstieg bleibt
Die Einsatzreserve ist eine verantwortungsvolle, angemessene, zeitlich begrenzte und
zielgenaue Lösung, um auf ein Extremszenario vorbereitet zu sein und einer möglichen
Netzinstabilität im kommenden Winter vorzubeugen. Sie trägt aber auch dem Risiko Rechnung,
das der Einsatz von Atomkraft bedeutet.
Für uns ist klar: Der Atomausstieg bleibt. Atomkraft ist und bleibt eine
Hochrisikotechnologie. Weiterhin ist für die Entsorgung des hochradioaktiven Abfalls keine
Lösung in Sicht. Auch haben sich die Behauptungen von der Atomkraft als verlässlicher und
günstiger Energiequelle immer wieder als Märchen entpuppt – davon zeugt einmal mehr der
dramatische Ausfall der französischen AKW. Deutschland hat sich aus guten Gründen
entschlossen, aus der Atomkraft auszusteigen. Atomkraft ist die Vergangenheit, nicht die
Zukunft unserer Energieversorgung. Die Zukunft ist erneuerbar.