Veranstaltung: | 48. Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | I In Zeiten fossiler Inflation: sozialen Zusammenhalt sichern, Wirtschaft stärken |
Antragsteller*in: | BAG Arbeit Soziales Gesundheit (dort beschlossen am: 31.08.2022) |
Status: | Zurückgezogen |
Eingereicht: | 02.09.2022, 07:09 |
I-04: Für das Bürgergeld: Deutliche Erhöhung und neue Regelsatzberechnung jetzt!
Antragstext
Mit dem Wechsel von „Hartz IV“ zum Bürgergeld soll nicht nur eine Namensänderung erfolgen,
sondern auch ein Paradigmenwechsel stattfinden, um u.a. soziokulturelle Teilhabe zu
ermöglichen.
Im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ wurden bereits wesentliche Weichenstellungen
für die Einführung des Bürgergeldes vorgenommen, z.B.:
„Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen. Das
Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe
befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.
Wir gewähren in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges die Leistung ohne Anrechnung
des Vermögens und anerkennen die Angemessenheit der Wohnung…
Wir werden eine Reform auf den Weg bringen, … dass die Transferentzugsraten die günstigsten
Wirkungen hinsichtlich Beschäftigungseffekten und Arbeitsmarktpartizipation in
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erzielen, die Zuverdienstmöglichkeiten
verbessert und Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden. Zur
Entwicklung des Reformmodells wird eine unabhängige Kommission aus mehreren hierfür
qualifizierten unabhängigen Instituten beauftragt.“
Angesichts der multiplen krisenhaften Entwicklungen seit der Entstehung des
Koalitionsvertrags ist nun dringend eine Neubewertung einzelner Maßnahmen erforderlich, um
eine weitere Verarmung von Leistungsbeziehenden zu verhindern und das Ziel
gesellschaftlicher Teilhabe zu verwirklichen. Die dafür erforderliche Reform der
Gesetzgebung besteht – neben den aktiven Leistungen – aus vielen Elementen finanzieller,
struktureller und organisatorischer Art. Dieser Antrag fokussiert bewusst auf die
grundsätzlich reformbedürftigen finanziellen Aspekte, die in der aktuellen Krisensituation
besonders weitreichende Auswirkungen für die Menschen haben.
Die Berechnung der Regelsätze für die bisherige Grundsicherung ist grundsätzlich falsch
aufgestellt. Sie geht an der Lebenswirklichkeit der Bürger*innen vorbei. Die soziokulturelle
Teilhabe ist so nicht möglich. Bereits in den letzten Jahren waren die Anpassungen der
Regelsätze unzureichend und lagen schon vor der aktuell gestiegenen Inflation weit unter der
Preisentwicklung für Waren des täglichen Bedarfs und für Dienstleistungen. Dazu trugen das
Heraus- und Kleinrechnen von lebensnotwendigen Ausgaben aus dem für den Regelsatz relevanten
Bedarf bei. Bezieher*innen der Grundsicherung werden von der Gesellschaft abgekoppelt und
fühlen sich nicht mehr dazugehörig. Sie werden von der gesellschaftlichen Teilhabe
ausgeschlossen mit allen negativen Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft und den
demokratischen Staat.
Aktuell hat sich die bei den Koalitionsverhandlungen bestehende Ausgangslage erheblich
verändert. Die inflationäre Preisentwicklung stellt vor allem Haushalte mit geringem
Einkommen vor sehr große Herausforderungen. Durch die extremen Verteuerungen bei Heizenergie
und Strom sowie Lebensmitteln hat sich ihre Situation in den letzten Monaten weiter deutlich
verschlechtert.
Infolge der aktuellen Entwicklung ist die reale Kaufkraft der Bezieher*innen von
Grundsicherungsleistungen deutlich gesunken und die Schere zwischen Arm und Reich noch
weiter auseinander gegangen. Die gestiegenen Preise, bedingt durch Corona-Krise, Inflation,
Energiekosten und Ukraine-Krieg, sind auch durch die im Sommer erfolgte Einmalzahlung von
insgesamt 200 Euro (100 Euro für gestiegene Lebenshaltungskosten + 100 Euro für zusätzliche
Kosten, z.B. Masken) nicht annähernd ausgeglichen worden.
Es besteht daher akuter Handlungsbedarf. Wir GRÜNE fordern Bundesregierung und Bundestag
auf, umgehend wirksame Maßnahmen zur Verbesserung der Situation zu beschließen.
- Sofort (spätestens zum 01.01.2023) umgesetzt werden sollen:
a) Deutliche Erhöhung des monatlichen Regelsatzes für die Grundsicherung je Erwachsenen (und
adäquat für Kinder), um die Zahlungsfähigkeit der Leistungsbezieher*innen sicherzustellen;
b) zusätzliche Übernahme der Stromkosten außerhalb des Regelsatzes;
c) Aussetzung der Angemessenheitsprüfung für die Kosten der Unterkunft für 2 Jahre auch für
„Altfälle“, für die die Mietkosten schon jetzt nicht mehr vollständig übernommen werden;
d) kein Abzug vom Regelsatz während des laufenden Mietverhältnisses, wenn Darlehen für
Mietkautionen gewährt werden.
In Summe sollen die o.g. Maßnahmen zu einer Erhöhung von mindestens 200 Euro führen.
- Kurzfristig und mit hoher Priorität sind außerdem folgende weitere Maßnahmen
erforderlich:
a) Im Zusammenhang mit der Einführung des Bürgergelds sollen grundsätzliche Veränderungen
für die Methodik der Regelsatzberechnung auf den Weg gebracht werden. Dabei müssen
grundlegende Annahmen neu justiert werden. Dies soll zu einer realistischeren Bewertung der
notwendigen Ausgaben und zur Sicherstellung ausreichender und weitgehend automatischer
Regelsatzanpassungen führen. Dazu ist eine Überarbeitung der Methodik im neuen Regelbedarfs-
Ermittlungsgesetz (RBEG) erforderlich. Derzeit werden die Regelsätze zu Lasten der
Leistungsbeziehenden bei Gütern des täglichen Bedarfs zu gering berechnet, und vielerlei
Bedarfe des soziokulturellen Existenzminimums werden nicht angemessen einbezogen.
b) Im Zusammenhang mit der Einführung des Bürgergelds sollen grundsätzliche Veränderungen
für die Methodik der Auszahlungen des Regelsatzes in Richtung einer an die Steuer-ID
geknüpften Auszahlung (durch die Finanzämter) auf den Weg gebracht werden.
c) Bereits eingetretene oder absehbare Veränderungen in der Preisentwicklung müssen künftig
frühzeitig und weitgehend automatisch zu Anpassungen der Regelsätze führen. Derzeit erfolgt
dies erst mit bis zu einem Jahr Verzögerung. Die vorausschauende Anpassung ist auch aus
verfassungsrechtlicher Sicht erforderlich.
d) Kommunen sollen gesetzlich die Möglichkeit erhalten, regionale Besonderheiten durch
kommunale Zuschläge zu den Regelsätzen aufzufangen. Diese kommunalen Zuschläge dürfen nicht
auf den Bedarf angerechnet werden.
e) Um der Dringlichkeit der dargestellten Probleme gerecht zu werden, muss unverzüglich eine
Expert*innenkommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für die genannten methodischen
Veränderungen eingesetzt werden. Sie soll dabei auch die Vorschläge der Sozialverbände und
Gewerkschaften einbeziehen.
Begründung
Unserem Ziel einer vielfältigen und inklusiven Gesellschaft kommen wir nur dann näher, wenn die Teilhabe aller Menschen ermöglicht wird. Die Systematik der Grundsicherung u.a. mit unzureichenden Regelsätzen war dazu schon vor den aktuellen Krisen nicht geeignet. Der Reformbedarf wurde im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ grundsätzlich anerkannt; durch die teils explosionsartigen Teuerungen der letzten und absehbar der kommenden Monate gerade bei den Waren und Dienstleistungen, die den größten Teil der Ausgaben von Grundleistungsbezieher*innen ausmachen, entsteht aber ein sehr elementarer, dringender Anpassungs- und Reformbedarf.
Unser Antrag beschränkt sich bewusst auf die dringendsten finanziellen Aspekte der notwendigen umfänglicheren Reform in einem Gesamtpaket, weil jetzt Menschen in Deutschland von absoluter Armut betroffen sind. Und dies in einem Ausmaß, das bisher unvorstellbar war und eine Gefahr für gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Strukturen darstellt.
Deshalb müssen nun dringend systemische Veränderungen vorgenommen werden. Die Forderungen enthalten sowohl sofortige Erhöhungen von Leistungen als auch strukturelle Veränderungen in der Berechnung der Regelsätze und ihrer künftigen Anpassung. Zumindest diese Verbesserungen müssen umgehend - und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt der Wahlperiode - auf den Weg gebracht werden.
Anmerkungen:
- Zur Änderung der Methodik
Regelbedarfsbemessung – Eine Alternative zum gesetzlichen Verfahren;
https://www.diakonie-wissen.de/documents/242233/12199797/DK_Regelbedarfe_210604_Web.pdf/330ccc64-92a7-46d3-ac31-acf0b5e7a665?version=1.0
- Zur vorausschauenden Anpassung der Regelsätze:
Anne Lenze, „Verfassungsrechtliches Kurzgutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1.2022“;
https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armut_abschaffen/doc/Kurzgutachten-_Lenze_09.2021.pdf
- Zur Angemessenheit der KdU auch für Altfälle:
Nach Angabe der Bundesregierung waren bereits im Jahr 2021 für 15,4% aller Bedarfsgemeinschaften die tatsächlichen Unterkunftskosten höher als die anerkannten. Die Differenz pro Monat betrug durchschnittlich 90,79 Euro p.M. (BT-Drs 20/3018, Tab.°1);
https://dserver.bundestag.de/btd/20/030/2003018.pdf
weitere Antragsteller*innen
Änderungsanträge
- I-04-073 (BAG Behindertenpolitik (dort beschlossen am: 20.09.2022), Zurückgezogen)
Kommentare
Valentin Drechsler:
Niko Stumpfögger:
Lothar Treder-Schmidt:
Wie finanzieren wir das alles als Gesellschaft und wie vermitteln wir das denen, die täglich knuffen.... und mit 1200-1600 netto nach Hause gehen und überlegen, wohin ihre Steuern fließen....
Die Standardantwort, dann müssen wir eben die Löhne entsprechend erhöhen, scheint mir bei einem exportabhängigem Land wie Deutschland auch nur sehr begrenzt tragfähig ...
Marcus Stichmann:
Verbessert werden muss dringend natürlich trotzdem noch Einiges in Sachen abgestufter Einkomnensanrechnung.
Und Schwarzarbeit ist eher in anderen Bereichen ein großes Problem….