Veranstaltung: | 48. Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | Verschiedenes (nicht gerankt) |
Antragsteller*in: | KV Friedrichshain-Kreuzberg (dort beschlossen am: 30.08.2022) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 31.08.2022, 18:13 |
V-11: Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken - Wahlrecht für alle!
Antragstext
Wir setzen uns in Bundestag und Bundesrat für eine Reform des Wahlrechts und der ihm
zugrundeliegenden grundgesetzlichen Normen ein, damit sich auch Menschen ohne deutsche
Staatsangehörigkeit, die sich seit mindestens fünf Jahren in Deutschland aufhalten, bei
Wahlen beteiligen können.
Begründung
In Deutschland leben derzeit etwa 10 Millionen Menschen (ca. 14% der Gesamtbevölkerung), die nicht wählen dürfen. Sie sind von Gesetzen und Regierungshandeln betroffen, dürfen aber über deren Zustandekommen und Zusammensetzung nicht mitentscheiden. Weder auf Bundes- noch auf Landes- oder kommunaler Ebene. Wir erachten dies als erhebliches Demokratiedefizit, das dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schadet und fordern daher ein Wahlrecht, das unabhängig von der Staatsbürgerschaft für Menschen gilt, die seit mindestens fünf Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
Das Wahlrecht ist in Art. 38 GG und Art. 20 GG geregelt. Art. 20 GG besagt, dass „das Volk“ die ihm zukommende Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Über Art. 28, Abs. 1 Satz 1 und 2 GG ist das Wahlrecht für Länder und Kommunen verankert. Auch hier ist es „das Volk“, das seine Staatsgewalt ausübt. “Das Volk“ ist laut Bundesverfassungsgericht, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Dies wurde zuletzt 1990 so entschieden, nachdem eine Gemeinde in Schleswig-Holstein das Wahlrecht auch für nicht-deutsche Bürger*innen ermöglichen wollte. (Vgl.: BVerfGE 83, 37 (51) https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv083037.html). Laut Bundesverfassungsgerichtsurteil von damals wäre eine Öffnung des Wahlrechts für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft selbst auf kommunaler Ebene nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Länderparlamente können demnach auch das Landes- und das Kommunalwahlrecht nicht abweichend regeln.
Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit wird ihre Zugehörigkeit zum Volk somit kategorisch abgesprochen und ihre Möglichkeit zur politischen Teilhabe und Mitsprache bei der (politischen) Gestaltung ihres Lebensraumes verwehrt.
Wir fordern eine Überarbeitung des Wahlrechts, damit es einer modernen, inklusiven und demokratischen Einwanderungsgesellschaft entspricht und nicht mehr an die Staatsbürgerschaft gekoppelt ist. Zur Orientierung dienen beispielsweise Länder wie Kolumbien und Chile, wo Einwohner*innen nach fünf Jahren wählen dürfen. In Neuseeland erhalten Menschen bereits nach 2 Jahren im Land das Wahlrecht. In 16 von 27 EU-Staaten ist das kommunale Wahlrecht für Menschen aus Drittstaaten, also Nicht-EU-Staaten, gängige Praxis, so z.B. in Dänemark, Finnland, Portugal, Spanien und Schweden. In Schottland und Wales dürfen alle legal dort lebenden Menschen an parlamentarischen Wahlen teilnehmen. In Deutschland dürfen bislang nur hier gemeldete EU-Bürger*innen bei Kommunalwahlen wählen.
Wir sind eine Partei, die für Inklusion, Antirassismus, Fortschritt und Demokratie steht. Der Ausschluss von 10 Millionen Menschen von Wahlen auf allen Ebenen und die daraus resultierende Erschwerung politischer Teilhabe und Mitsprache ist für uns inakzeptabel und widerspricht unseren Werten. Wer in Deutschland seinen Lebensmittelpunkt hat, von Gesetzen und Regierungshandeln betroffen ist, muss auch über deren Zustandekommen und Zusammensetzung gleichberechtigt mitentscheiden können – alles andere ist undemokratisch. Mit einem Wahlrecht für alle Menschen, die seit mindestens fünf Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, soll diesem viel zu lange bestehenden Demokratiedefizit ein Ende gesetzt werden.
Gleichzeitig sehen wir in der Anpassung des Wahlrechts eine große Chance dafür, dass unsere demokratische Gesellschaftsordnung die Vielfalt der Erfahrungen, Lebenswelten und Perspektiven ihrer Menschen künftig besser als heute abbildet und von diesen lernt.
Die geplanten Vereinfachungen der Ampelkoalition zur Erreichung der Staatsbürgerschaft begrüßen wir, dennoch muss das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft gelöst sein: Denn erstens gibt es legitime Gründe, die deutsche Staatsbürgerschaft nicht anzustreben und zweitens bestehen für viele Menschen rechtliche oder faktische Gründe, wonach ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft versagt wird, obwohl sie jahrzehntelang oder gar ihr Leben lang in Deutschland leben. Außerdem ist der Erhalt der Staatsbürgerschaft an eine „gelungene Integration“ gekoppelt. Den Gedanken, Menschen müssten sich ihr Wahlrecht “verdienen”, lehnen wir als mit dem Wesenskern der Demokratie unvereinbar ab. Wählen ist ein nicht verhandelbares Grundrecht.
Als „Fortschrittskoalition“ ist es Aufgabe der derzeitigen Regierung, das rückständige Wahlrecht auf die Höhe der Zeit zu bringen. Wir leben in einer modernen Einwanderungsgesellschaft und müssen unser Wahlrecht diesen Anforderungen anpassen.
Kommentare
Jörg Witzel:
Marlene Schmalzried:
Jörg Witzel:
Was bitte daran ist "dreist", "engstirnig" und "rassistisch" das ich dagegen bin, dass Menschen, die keine Lust auf unserer Verfassung haben auch kein Wahlrecht zu geben? Demokratie muss auch verteidigt werden!
Christian Göritz-Vorhof:
Der Antrag besagt:
"Reform des Wahlrechts und der ihm zugrundeliegenden grundgesetzlichen Normen ein, damit sich auch Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit,"
Begründung Absatz 2 zur Begründung steht bzgl. Grundgesetzkonsformität:
"Laut Bundesverfassungsgerichtsurteil von damals wäre eine Öffnung des Wahlrechts für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft selbst auf kommunaler Ebene nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Länderparlamente können demnach auch das Landes- und das Kommunalwahlrecht nicht abweichend regeln."
Wenn eine Öffnung des Wahlrechts für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft nicht grundgesetzkonform ist, wie sollte sich das mit der Änderung des Wahlgesetzes - eines Bundesgesetzes - ändern?
Müsste dann nicht das Grundgesetz geändert werden?
Jenny Laube:
Reiner Taege:
Theresa Ertel:
Ganz nebenbei hier mal die Erinnerung, dass in Deutschland bei der letzten Bundestagswahl 10% der Wahlberechtigten eine Partei gewählt haben, die sich definitiv nicht zu unserem Grundgesetz bekennt.
Deine Argumentation unterscheidet also zwischen Menschen, die per Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft haben und solchen, die diese nicht haben. Warum? Wieso sollen diese Menschen unterschiedlich sein?
Begüm Langefeld:
Manchen Menschen ist es nicht möglich, den Sprachtest zu und den Einbürgerungstest zu bestehen, da sie vielleicht nie lesen und schreiben gelernt haben. Wir haben über 6 Mio Analphabeten in Deutschland.
Und viele Menschen würden gerne zwei Staatsbürgerschaften besitzen, aber das geht nicht, also mit der kanadischen Staatsbürgerschaft ginge es, aber mit der türkischen geht es z.B. nicht.
Jenny Laube:
Und ich fände es tatsächlich auch schön, wenn Menschen nicht dazu gezwungen wären zwischen zwei Staatsbürgerschaften zu entscheiden. Das bildet die Komplexität unserer modernen Gesellschaft nicht angemessen ab.
Wolfgang Reich:
Jenny Laube:
ich möchte euch herzlich dazu einladen mit den Menschen ins Gespräch zu gehen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und trotzdem - auch wenn sie es könnten - die deutsche Staatsbürgerschaft nicht annehmen möchten, weil dies für viele von ihnen einen Bruch mit ihrer Vergangenheit, ihrer Familie oder einem Land bedeuten würde, in dem sie u.U. in naher oder ferner Zukunft einen Teil ihres Lebens verbringen möchten.
Es ist nicht automatisch ein Ausdruck von Demokratiefeindlichkeit, wenn jemand nicht den deutschen Pass nehmen möchte. Es ist auch nicht automatisch ein Zeichen, dass man sich mit der deutschen Verfassung nicht einverstanden erklärt. Es leben viele Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt in Deutschland, die ihre Staatsangehörigkeit aus Verbundenheit mit ihrer Familie und ihrer persönlichen Geschichte nicht aufgeben wollen oder können. Mein guter Freund aus Israel plant sein Leben in Deutschland zu verbringen, weil die Frau, die er liebt, Deutsche ist, aber er kann sich trotzdem nicht vorstellen die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen und ich kann das verstehen. Die Aufgabe einer Staatsangehörigkeit hat immer auch etwas Endgültiges.
Ich möchte euch bitten euch in die Perspektive der Menschen hineinzuversetzen, die tagtäglich ihren Beitrag zum Gelingen und Wohle dieser Gesellschaft leisten und denen trotzdem ein elementares demokratisches Recht verwehrt bleibt. Sprecht mit ihnen und ihr werdet sehen, dass viele eurer Vermutungen und Sorgen unbegründet sind.
Jörg Witzel:
Übrigens bin ich überzeugter Europäer und würde die deutsche Staatsbürgerschaft lieber heute als morgen abschaffen. Aber auch dann würde ich keine Pässe der Vereinigten Staaten von Europa verschenken wollen.
Kai Klemm-Lorenz: