Veranstaltung: | 48. Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | I In Zeiten fossiler Inflation: sozialen Zusammenhalt sichern, Wirtschaft stärken |
Antragsteller*in: | Lene Greve (KV Hamburg-Altona) und 54 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 42%) |
Status: | Eingereicht |
Verfahrensvorschlag: | Abstimmung (Abgelehnt) |
Eingereicht: | 02.09.2022, 14:38 |
I-09: Solidarisch gegen Rechts: Soziale Proteste befördern, nicht stigmatisieren!
Antragstext
Basisdemokratisch, ökologisch, gewaltfrei – und sozial: Mit unseren Grundsätzen treten wir
für eine Gesellschaft ein, in der alle Menschen frei und gleich an Recht und Würde sind.
Soziale Nöte schließen benachteiligte Gruppen jedoch von der politischen Beteiligung aus,
was die jüngste Wahlbeteiligung in NRW und der Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung zum Ausdruck bringen. Diese Ungleichheit abzubauen ist aktuell eine unserer
dringendsten Aufgaben: Die lebendige Zivilgesellschaft kann nur unter Beteiligung aller eine
solidarische Beantwortung der aktuellen Krise gegen eine weitere Verschärfung der
Ungleichheit oder rechtsextreme Scheinalternativen hervorbringen. Darum lassen wir nicht zu,
dass die FDP die Ampel-Koalition mit einer unsolidarischen Politik der Konzernbegünstigung
und sozialen Kälte nach rechts drängt. Gemäß unserem aktuellen Wahlprogramm streben wir
stattdessen nach der Ersetzung von Hartz IV durch eine menschenwürdige Grundsicherung zur
Ermöglichung von angstfreier Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie nach einem Green New
Deal für erforderliche Investitionen in die Zukunft statt weiterer Stagnation durch
„Schuldenbremsen“-Dogmatik.
Dabei stützen wir uns darauf, dass für eine soziale Wende bereits viele in Bewegung sind: In
Netzwerken wie attac streiten Aktivist:innen darum, dass in einer Welt mit genug Ressourcen,
alle mehrfach zu ernähren, niemand Hungers stirbt – denn die Würde des Menschen ist
unantastbar. Angestellte und Patient:innen streiken mit der Krankenhausbewegung für ein
Gesundheitssystem, dass nach Jahren des Kaputtsparens wieder seinen Namen verdient – denn
jede:r hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Der Volksentscheid „Deutsche
Wohnen enteignen“ fordert angesichts überteuerter Mieten und hoher Obdachlosenzahlen bei
gleichzeitigem Leerstand ein Ende der Profite mit Wohnraum – denn Eigentum verpflichtet und
soll dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Medico international kämpft für die primär von
Deutschland aus forcierte Aufrechterhaltung von Impfpatenten, die insbesondere im globalen
Süden Menschenleben retten kann – denn niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner
Abstammung, seiner Rasse [sic!], seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines
Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt
werden.
Die umfassende Realisierung dieser im Grundgesetz gefassten antifaschistischen Konsequenzen
steht heute – entgegen der Wiederholung historischer Fehler aus den Wirtschaftskrisen der
1920er – so dringend wie nie auf der Tagesordnung. Angesichts der drastischen sozialen
Zuspitzung rufen Bündnis 90/Die Grünen alle ihre Gliederungen auf, im Bündnis mit
Gewerkschaften, Sozial-, Klima- und Friedensbewegung Proteste für soziale Forderungen wie
die Fortsetzung des 9-€-Tickets, eine Übergewinnsteuer, die Verstaatlichung von
Energiekonzernen, höhere Spitzensteuersätze sowie die Aufhebung der „Schuldenbremse“
organisatorisch und politisch zu unterstützen. Nur eine sozialpolitische Offensive ist
wirksam gegen Rechts!
Begründung
„Wer sagt: hier herrscht Freiheit, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.“ (Erich Fried)
Aufklärung und Anti-Austerity gegen Rechts
Energie-, Rüstungs- und Automobilkonzerne haben derzeit im Verhältnis zu Interessenverbänden von Menschen mit Behinderung, Studierenden, Rentner:innen, Gewerkschaften und Klimabewegung offenkundig zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik.[1] Die Begünstigung von (Fossil-)Energiekonzernen und exorbitante Rüstungsausgaben sowie niedrige Investitionen in Soziales, Kultur, Bildung und Gesundheit schaden allen durch eine Verlängerung der Rezession und zugespitzte Ungleichheit. Der Mangel, den die Mehrheit auch der deutschen Bevölkerung dadurch in neuer Drastik zu spüren bekommt[2], lässt sich keinesfalls durch „nationale Kraftanstrengungen“ beheben, sondern nur durch eine Umverteilung von oben nach unten. Dem entgegen weckt die Rede von der „nationalen Kraftanstrengung“ ungute Erinnerungen an die deutschen Hamsterkäufe von Masken, während Italien schwer von der Corona-Pandemie getroffen war oder an den in den südlichen EU-Ländern im Zuge der Euro-Krise durchgesetzten Zwang zum „schlanken Staat“ (Austeritätspolitik) zur Begünstigung deutscher Banken und Konzerne.[3]
Sind wir nachlässig beim Kampf für soziale Gleichheit, bereiten wir selbst der Mystifizierung sozialer Notlagen den Weg und damit rechten Sündenbock-Erzählungen – die Schuld an der Krise trügen wahlweise „die Ausländer“, der Entwicklungs-Etat, Arbeitslose oder eine „jüdische Weltverschwörung“. Das Negativpotential unsozialer Politik zeigt auch eine 2021 veröffentlichte Studie von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern, in der ein deutlicher Zusammenhang zwischen harter Austeritätspolitik unter Reichskanzler Brüning und den Wahlergebnissen der NSDAP seit 1930 nachgewiesen wird.[4] Wie Gleichheit und Entfaltung aller dagegen möglich sind, können wir aus der gegenläufigen US-Amerikanischen Beantwortung der Wirtschaftskrisen der 1920er-Jahre unter Franklin D. Roosevelt durch massive Investitionen in gute Arbeitsplätze, soziale Absicherung und Bildung in Einheit mit der Stärkung von Gewerkschaftsrechten seit den 1930ern lernen. Eine rationale Krisendeutung und damit die Hoffnung auf Besserung sind bedeutsam gegen Rechts. [5]
Die Verfassung schützen – auch vor dem Verfassungsschutz
Restriktive Lösungen gegen Rechts sind dagegen ein Irrweg. Aus gutem Grund wurde und wird die Abschaffung des Verfassungsschutzes in seiner derzeitigen Form vielfach von Grünen gefordert: Eine Institution mit ausgeprägten NS-Kontinuitäten, die auf dem rechten Auge mehr als blind ist und durch Intransparenz über ihre Grundrechtseingriffe auffällt, steht dem Geist von Preußen näher als einer aufgeklärten Demokratie.[6] Wachsamkeit ist geboten, wenn eine solche Institution das neue Problemfeld „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ entdeckt haben will. Im aktuellen Verfassungsschutzbericht von 2021 wird darunter vage vor der Vereinnahmung sozialer Proteste durch Staatskritiker:innen gewarnt sowie vor Versuchen, „staatliche Stellen und politisch Verantwortliche herabzusetzen“. Es steht außer Frage, dass Herabsetzung kein Mittel der Politik sein darf – die Herabsetzung und Entwürdigung politischer Gegner ist eine rechte Praxis. Doch die neue Kategorie verwischt durch denkbar schwammige Problembeschreibungen und die Abwesenheit eines analytischen Mehrwerts die gravierenden Unterschiede zwischen legitimer Kritik an Defiziten staatlicher Stellen einerseits und rechten Ideologien andererseits – seien es Neonazis, die den Gleichheitsanspruch der Verfassung ablehnen oder sogenannte Reichsbürger:innen und Selbstverwalter:innen, die sich in ein Deutsches Reich zurückfantasieren. Die Dichotomie „für den Staat“ oder „gegen den Staat“ ist ein Scheinkonflikt – sie lenkt davon ab, dass Konflikte weniger darum zu führen sind, ob regiert wird, sondern mehr darum, wie.
Spielbein und Standbein sortieren
Es gibt Gründe, das gegenwärtige Regierungshandeln zu kritisieren. Ebenso wie 77% der Bevölkerung spricht sich zum Beispiel der Hamburger Landesverband der Grünen (hier werden neben den Energiekonzernen auch die Rüstungsunternehmen genannt) für eine Übergewinnsteuer für kriegsgewinnende Branchen aus.[7] Diese Forderungen stehen (noch) im Widerspruch zur Realität staatlichen Handelns, in der die Bundesregierung bislang keine Schritte zu einer solchen Übergewinnsteuer unternommen hat. Der Kampf für ihre Realisierung, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse aller und für Gerechtigkeit gelingt um so besser, wenn staatliche Institutionen mit der Zivilgesellschaft und nicht gegen sie arbeiten.
Für die Grüne Partei besteht in diesem Sinne auch in Regierungsverantwortung keine Notwendigkeit, sich mit demjenigen staatlichen Handeln vollständig zu identifizieren, das über die letzten Jahrzehnte neoliberaler Sparpolitik die aktuelle sozialen Krise hervorgebracht hat und es fortzuführen. Die 2011 in Kraft getretene schädliche „Schuldenbremse“ beispielsweise, die eine massive Umverteilung von unten nach oben bedeutet, wurde unter der schwarz-roten Koalition durchgesetzt. Auch eine Korrektur der tatsächlich von Grünen in Regierungsverantwortung mitgetragenen Entscheidung zur Einführung von Hartz IV ist keine Schande, sondern spricht im Gegenteil für unsere Lern- und Entwicklungsfähigkeit. Eine Politik in Einheit mit den zivilgesellschaftlichen Bewegungen hat als Gegenmodell zur Hinterzimmer-Politik den Aufstieg der Grünen erst möglich gemacht – heute kommt es darauf an, diese Orientierung wiederzubeleben. Regierungsverantwortung darf dagegen kein Hemmschuh sein!
Verweise:
[1] Exemplarisch: „Mobilitätswende ausgebremst. Das EU-Mercosur-Abkommen und die Autoindustrie“, Studie von Attac Deutschland, Attac Österreich, Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace e. V., Misereor e. V., Netzwerk Gerechter Welthandel, Powershift e. V.: https://www.greenpeace.de/publikationen/Mobilit%C3%A4tswende%20ausgebremst_Juni%202022_0.pdf- und „Die Anstalt – Der Faktencheck. Die Hintergründe zur Sendung vom 27. März 2018“, ZDF: https://www.zdf.de/assets/faktencheck-27-maerz-100~original?cb=1538501578431 sowie die Ergebnisse zur Wahlbeteiligung im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Indikatoren/Gesellschaft/Wahlbeteiligung/wahlbeteiligung.html
[2] „Sparkassen-Präsident: Viele kommen an ihre finanziellen Grenzen“, BR: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/sparkassen-praesident-viele-kommen-an-ihre-finanziellen-grenzen,TF7IAt5
[3] „Die keynesianische Interpretation der Eurokrise“, Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/schuldenkrise/239936/die-keynesianische-interpretation-der-eurokrise/
[4] Galofré-Vilà, G., Meissner, C., McKee, M., & Stuckler, D. (2021). Austerity and the Rise of the Nazi Party. The Journal of Economic History, 81(1), 81-113: https://doi.org/10.1017/S0022050720000601
[5] „Green New Deal. Vom New Deal der 1930er-Jahre lernen“, Dlf: https://www.deutschlandfunkkultur.de/green-new-deal-vom-new-deal-der-1930er-jahre-lernen-100.html
[6] Zur grünen Kritik am Verfassungsschutz siehe Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesamt_f%C3%BCr_Verfassungsschutz#B%C3%BCndnis_90/Die_Gr%C3-%BCnen, ein historischer Abriss und eine Grundsatzkritik findet sich bei der Humanistischen Union: https://www.humanistische-union.de/publikationen/vorgaenge/224/publikation/das-problem-verfassungsschutz/
[7] Leitantrag der Hamburger LMV vom 25.6.2022: https://beschluss.gruene-hamburg.de/2022/06/25/mit-klarer-haltung-und-konsequentem-handeln-gegen-putins-angriffskrieg/; Tagesschau-Deutschlandtrend-Umfrage zur Übergewinnsteuer vom 4.8.2022: https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/crchart-8121~_v-videowebl.jpg (nach Parteianhänger:innen: https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/crchart-8123~_v-videowebl.jpg)
Kommentare
Tim Lautner:
prinzipiell unterstütze ich diesen Antrag. Für mich liest es sich aber wie der Wunsch nach einer besseren Welt.
Ich würde mich freuen, wenn Punkte einzeln behandelt werden würden und KONKRET jeweils eine Forderung expliziert wird. LG
Olaf Blohm:
Svenja Horn:
Angela Bösselmann: