Seit 1989/91 sind die Forschungsinstitutionen zu Osteuropa und den post-sowjetischen Raum in Deutschland und Europa systematisch abgebaut, außeruniversitäre Institute geschlossen und Lehrstühle mit entsprechendem Bezug nicht nachbesetzt.[1] Die immense Lücke an Forschung, aber auch an Lehrangeboten konnte seither nicht mehr auch nur ansatzweise geschlossen werden.[2] Insbesondere in den Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften gibt es einen erheblichen Mangel an Expertise zu Osteuropa, dem post-sowjetischen Raum und speziell der Ukraine.[3] Im Gegensatz zur Situation in Kanada und den USA gibt es in Deutschland und innerhalb der Europäischen Union keine Möglichkeit, Ukrainian Studies auf BA- oder MA-Niveau zu studieren. [4] Dies gilt umso mehr für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften (Ökonomie, Politologie, Soziologie, Jura), doch auch für die Geschichte der Ukraine gibt es deutschlandweit gerade nur eine einzige Professur.[5]
Der russische Angriffskrieg, die nahezu unvorbereitete Situation der EU in Bezug auf diesen Krieg, die zahlreichen russischen Desinformationskampagnen und der Mangel an Expertinnen und Experten, welche die Situation in Osteuropa basierend auf langjähriger Forschung zur Region fundiert erklären können, haben verdeutlicht, dass der systematische Aufbau multidisziplinärer Osteuropa- und Ukraine-Expertise für die Forschung, akademische Lehre und auch für den Wissenstransfer in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft notwendig ist.[6] Der Aufbau entsprechender Forschungs- und Lehrstrukturen an europäischen Hochschulen ist daher mit Blick auf die künftigen Entwicklungen im Osten Europas, insbesondere Frieden und Freiheit der Ukraine, aber auch demokratische Resilienz und Erweiterung der EU, zwingend notwendig.
Anmerkung: Wir haben lange um den passenden Begriff gerungen und uns auf "post-sowjetischer Raum" geeinigt, auch wenn dieser nicht vollständig in den entsprechenden Wissenschaften Anwendung findet. Den Begriff Osteuropa finden wir jedoch zu einengend, da so bspw. das Baltikum oder die zentralasiatischen Staaten nicht zwingend mitgemeint sind, jedoch auch dringend beforscht werden müssen.
[1] Heinemann-Grüder, Andreas. 2020. Zukunftsforschung Osteuropa: Orientierungswissen statt Accessoire der Politik. Osteuropa:165–178.
[2] Libman, Alexander 2020. „Krise oder Blüte? Sozialwissenschaftliche Osteuropaforschung“, in Osteuropa, 1-2, S. 179-191.
[3] Libman, Alexander, und Niklas Platzer. 2021. Geschichte, Slawistik und der Rest. Osteuropaforschung in Deutschland. Osteuropa:133–153.
[4] Worschech, Susann. 2021. “Ukrainian Studies? – Fehlanzeige: Die Ukraine Im Spiegel Der Wissenschaft in Deutschland.” Ukraine-Analysen (250): 2–6. doi:10.31205/UA.250.01 .
[5] Wöll A (2022) Wir brauchen dringend und schnell eine interdisziplinäre Ukrainistik an deutschsprachigen Universitäten. Ukraine-Analysen (269): 16–17.
[6] Worschech, Susann. 2023. “Zur Zukunft Der Ukraine-Studien.” Ukraine-Analysen (286): 12–14. https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/286/zur-zukunft-der-ukraine-studien-in-deutschland/.