Veranstaltung: | 50. Bundesdelegiertenkonferenz Wiesbaden |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Vincent Lohmann (KV Krefeld) und 56 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 39%) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 03.10.2024, 19:56 |
V-60: Für eine progressive Finanzpolitik, weg mit der Schuldenbremsen-Ideologie!
Antragstext
Wenn Rechtsextreme und Faschisten erstarken, unsere Infrastruktur zerfällt und
die Klimakatastrophe langsam unsere Lebensgrundlagen zerstört, dann muss sich
dringend etwas grundsätzlich ändern.
Deshalb fordern wir als Bündnis 90/Die Grünen für den Erhalt der Demokratie, für
effektiven Klimaschutz und für eine gerechtere Gesellschaft:
Die Abschaffung der Schuldenbremse und ein Bekenntnis zu
einer progressiven Finanzpolitik.
Die Kreditaufnahme ist auch nach der Abschaffung der Schuldenbremse durch die
europäischen Schuldenregeln (Verträge von Maastricht) beschränkt. Perspektivisch
sollten diese reformiert werden, um eine progressive, europäische Finanzpolitik
zu ermöglichen.
Um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden – sei es der Kampf gegen
den Klimawandel, der Erhalt der Demokratie oder die Sicherung sozialer
Gerechtigkeit – müssen wir die Ideologie der starren Sparpolitik und der
Schuldenbremse überwinden. Stattdessen muss der Staat die Möglichkeit dazu
haben, einen Haushalt aufzustellen, ohne dabei abhängig von Steuereinnahmen zu
sein. Die Schuldenbremse behindert jedoch genau diese Flexibilität und
verschärft dadurch viele Probleme.
Im Folgenden zeigen wir auf, warum die Schuldenbremse abgeschafft werden sollte
und wie eine progressive Finanzpolitik dazu beitragen kann, eine gerechtere und
nachhaltigere Gesellschaft zu erreichen:
1. Der Staat ist kein privater Haushalt
Die Annahme, ein Staatshaushalt hätte die gleiche Funktionsweise wie ein
privater Haushalt, ist ein Trugschluss, welchem wir uns bewusst entgegensetzen
müssen.
Denn wer Sparsamkeit des Staates verlangt, verlangt damit auch geringere
Einnahmen der privaten Haushalte und Unternehmen.
Zwischen den Ausgaben des Staates und den Einnahmen der Unternehmen und privaten
Haushalte besteht ein eindeutiger kausaler Zusammenhang.
Das führt dazu, dass unsere Wirtschaft von den Ausgaben und Investitionen des
Staates langfristig profitiert und damit auch die Attraktivität des
Produktionsstandortes Deutschland.
Die Kreditaufnahme oder auch Schulden sind deshalb nicht negativ zu bewerten,
sondern als Investition in unser Land und unsere Demokratie.
2. Der Staat als Schöpfer seiner eigenen Währung
Der deutsche Staat ist einer der Herausgeber des Euros und ist deshalb nicht auf
Einnahmen angewiesen, um Ausgaben zu tätigen. Vielmehr muss Deutschland als
Währungsherausgeber erst Geld ausgeben, um es dann wieder einnehmen zu können.
Ein Kino kann auch erst Tickets „einnehmen”, wenn es sie vorher „ausgegeben“
hat.
Die Schuldenbremse ignoriert diese Realität und zwingt den Staat dazu, wie ein
privater Haushalt zu agieren. Das Ergebnis: Marode öffentliche Infrastruktur,
geringes Wirtschaftswachstum, mangelnde Investitionen in Klimaschutz und
Zukunftstechnologien und ein viel zu schwacher Sozialstaat.
3. Steuern zum Steuern, nicht zur Finanzierung von
Staatsausgaben
Steuern haben deshalb nicht die Aufgabe, die Ausgaben des Staates zu
finanzieren. Sie dienen dazu, die Nachfrage zu steuern und soziale Ungleichheit
zu verringern. Außerdem können sie dem Staat auch dazu dienen, überschüssige
Kaufkraft abzuschöpfen, um Inflation zu verhindern.
Durch die Fesseln der Schuldenbremse werden Steuern allerdings hauptsächlich als
Mittel zur Finanzierung von Staatsausgaben gesehen. Die Abschaffung der
Schuldenbremse würde deshalb ermöglichen, den Fokus stärker auf die realen
Aufgaben der Steuerpolitik zu richten: Auf die Steuerung der
gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und die Förderung sozialer Gerechtigkeit,
anstatt auf Haushaltskonsolidierung.
4. Reale Ressourcen sind die wahre Grenzen staatlicher
Ausgaben
Die wahre Grenze staatlicher Ausgaben liegt nicht in der Höhe der
Staatsverschuldung oder Schuldenquote, sondern in der Verfügbarkeit von realen
Ressourcen wie Arbeitskräften, Rohstoffen und Produktionskapazitäten. Solange
diese Ressourcen nicht genutzt werden, kann der Staat sie durch seine Ausgaben
mobilisieren, ohne negative Konsequenzen wie Inflation befürchten zu müssen.
Die Schuldenbremse richtet sich jedoch nach abstrakten Verschuldungsgrenzen, die
nichts über die reale Kapazität der Wirtschaft aussagen. Progressive
Finanzpolitik hingegen würde es dem Staat ermöglichen, ungenutzte Ressourcen wie
Arbeitslose und ungenutzte Produktionskapazitäten zu mobilisieren und so die
Produktivität unserer Wirtschaft zu steigern.
5. Schutz vor Inflation durch gezielte finanzpolitische
Maßnahmen
Die Schuldenbremse wird fälschlicherweise häufig mit dem Argument
gerechtfertigt, sie schütze vor Inflation. Jedoch ist es bei Inflation wichtig
zu unterscheiden, ob es sich um eine angebots- oder nachfrageseitige Inflation
handelt, um passende Gegenmaßnahmen treffen zu können.
Eine angebotsseitige Inflation entsteht, wenn die Kosten der Unternehmen steigen
und sie diese Kosten in Form von höheren Preisen an die Kunden weitergeben.
Diese Form von Inflation haben wir alle erst vor Kurzem durch den Angriffskrieg
Russlands auf die Ukraine erlebt, wodurch sich die Kosten für Erdöl und Erdgas
schlagartig erhöhten. Diese Inflation wurde von der Ampelkoalition durch die
Energiepreisbremse abgefedert, da diese die Energiepreise für den Grundverbrauch
deckelte. Diese Energiepreisbremse konnte nur über Schulden finanziert werden,
die durch das Aussetzen der Schuldenbremse möglich waren. Das Einhalten der
Schuldenbremse hätte deshalb in diesem Fall zu einer deutlich stärkeren
Inflation geführt.
Allerdings hätte die Inflation noch geringer ausfallen können, wenn die
Regierung vor der Krise deutlich mehr in erneuerbare Energien investiert hätte,
da dies die Abhängigkeit von Öl und Erdgas reduziert hätte.
Weitgehende Investitionen in erneuerbare Energien waren jedoch auch wegen der
Schuldenbremse nicht möglich.
Eine nachfrageseitige Inflation entsteht dann, wenn die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage die Produktionskapazitäten übersteigt. Dies kann zum Beispiel durch
hohe Lohnsteigerungen entstehen. Dies kann eine Schuldenbremse jedoch auch nicht
verhindern.
Statt also vergeblich die Ursache der Inflation in den Staatsschulden zu suchen,
braucht es gezielte finanzpolitische Maßnahmen, welche die Ursachen der
Inflation berücksichtigen.
6. Proaktives statt reaktionäres Handeln
Momentan ist der Staat in seinem Handeln darauf beschränkt, nach Krisen durch
Aussetzen der Schuldenbremse die Folgen der Krise abzumildern. Allerdings ist in
nahezu allen Fällen die Krisenprävention deutlich günstiger als die Reaktion auf
diese.
Im Fall der Klimakatastrophe ist reaktionäres Handeln oftmals sogar gar nicht
mehr möglich, da viele Folgen der Klimakatastrophe irreversibel sind. Hier
benötigt es jetzt Milliardeninvestitionen in Klimaschutz, welche mit der
Schuldenbremse nicht zu stemmen sind.
Je früher wir in Klimaschutz investieren, desto effektiver und günstiger ist
dieser. Deshalb muss der Staat auch die Möglichkeit haben, sich präventiv gegen
Krisen zu wappnen. Wenn der Staat jedoch durch die Fesseln der Schuldenbremse
finanziell stark eingeschränkt ist, gibt es kaum Möglichkeiten für höhere
Staatsausgaben, um die Prävention für zukünftige Krisen zu finanzieren.
7. Erreichen von nachhaltigem Wirtschaftswachstum, sozialer
Gerechtigkeit und Vollbeschäftigung
Um nachhaltiges Wirtschaftswachstum, soziale Gerechtigkeit und Vollbeschäftigung
erreichen zu können, braucht es einen handlungsfähigen Staat, der nicht von den
Fesseln der Schuldenbremse eingeschränkt wird.
Wirtschaftswachstum erfordert vor allem die staatliche Steuerung der
gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und die Subventionierung von sinnvollen
Projekten. Momentan ist die Nachfrage in Deutschland stark unter ihrem
Potential, auch aufgrund der hohen Preissteigerungen der letzten Jahre. Hier
kann langfristig nur ein groß angelegtes Konjunkturpaket die Nachfrage wieder
effektiv ankurbeln.
Ebenfalls benötigt es für soziale Gerechtigkeit mehr Sozialausgaben. Diese
Ausgaben sollten hier nicht als finanzielle Last angesehen werden, sondern als
Chance für unsere Wirtschaft, die durch die zusätzliche Nachfrage wieder
angekurbelt werden kann. Denn anders als beispielsweise eine Millionenerbin,
spart der Bürgergeldempfänger nicht, sondern nutzt sein gesamtes Einkommen zum
Konsum und steigert so die Nachfrage, was im Moment sehr gut für unsere
Wirtschaft wäre.
Für Vollbeschäftigung müssen mehr Arbeitsplätze durch staatliche Maßnahmen
geschaffen werden. Denn wer auf die Selbstheilungskräfte des Marktes wartet,
wartet vergeblich. Arbeitslosigkeit ist ein Versagen der Finanzpolitik, keine
individuelle Schuld von Arbeitssuchenden. Dies zeigt sich besonders in der
aktuellen Wirtschaftslage, wo es deutlich mehr Arbeitslose als offene Stellen
gibt.
In der aktuellen Wirtschaftslage ist es ohne staatliches Eingreifen unmöglich,
dass alle jobsuchenden Personen einen Job finden können. Egal, wie sehr sie sich
anstrengen.
Ohne die Abschaffung der Schuldenbremse ist das Erreichen aller dieser Ziele
nicht möglich.
8. Klimaschutz und ökologische Transformation
Die Einhaltung der Klimaziele erfordert massive Investitionen in grüne
Technologien, erneuerbare Energien und nachhaltige Infrastruktur. Diese werden
jedoch durch die Schuldenbremse auf ein Minimum reduziert.
Ohne deutlich höhere öffentliche Investitionen wird der ökologische Umbau der
Wirtschaft verzögert, was langfristig nicht nur zu höheren Kosten, sondern auch
zu schweren Klimafolgen für uns alle führt.
Hier muss die Finanzpolitik die Bekämpfung der Klimakrise unterstützen, nicht
verhindern!
9. Funktionierende Infrastruktur statt Investitionsstau
Die strikte Begrenzung der staatlichen Ausgaben durch die Schuldenbremse hat
bereits zu einem massiven Investitionsstau bei der öffentlichen Infrastruktur,
Bildung, Gesundheit und beim Klimaschutz geführt. Als die drittgrößte
Volkswirtschaft der Welt investieren wir viel zu wenig in unsere Infrastruktur.
Dafür ist die Schuldenbremse verantwortlich.
Ohne ausreichend staatliche Investitionen verfallen öffentliche Güter, was sich
zunehmend spürbar für uns alle zeigt. Trotzdem lassen wir zu, dass die
Schuldenbremse den dringend notwendigen Wandel zu einer klimaneutralen und
sozial gerechten Gesellschaft blockiert.
10. Sparpolitik führt zur Erstarkung von Rechtsextremismus
Historisch hat sich immer wieder gezeigt, dass Sparpolitik zum Erstarken von
rechtsextremen Kräften führt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten wäre
1933 wahrscheinlich nicht so einfach möglich gewesen, wenn 1930 Reichskanzler
Brüning durch seine Sparpolitik nicht massive soziale Verwerfungen und damit
eine große Wirtschaftskrise ausgelöst hätte.
Der gleiche Zusammenhang bestand nicht nur damals, sondern besteht auch heute
immer noch.
Nach der Finanzkrise 2007 konnte dies auch in Griechenland beobachtet werden.
Aufgrund der aufgezwungenen Austeritätspolitik kam es dort zu einem starken
Zulauf zu rechtsextremen Parteien. Und aktuell führt bei uns Sparpolitik zum
Erstarken der rechtsextremen AfD.
Sparpolitik sorgt für gesellschaftliche Verwerfungen, die das Vertrauen der
Bürger*innen in staatliche Institutionen schwächen. Wenn Menschen das Gefühl
haben, dass der Staat nicht in ihre Zukunft investiert und soziale
Sicherungssysteme aushöhlt, wenden sich viele radikalen Kräften zu. Die
Schuldenbremse verstärkt das Gefühl der Abgehängten und fördert damit auch
Populismus.