Veranstaltung: | Außerordentliche Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | Beschlüsse (vorläufig) |
Antragsteller*in: | Bundesdelegiertenkonferenz (dort beschlossen am: 27.01.2018) |
Status: | Eingereicht |
Verfahrensvorschlag: | Abstimmung (Angenommen) |
Eingereicht: | 27.01.2018, 17:09 |
Antragshistorie: | Version 1 |
V-36 NEU Beschluss: Einmarsch der Türkei in Syrien ist völkerrechtswidrig – Rüstungsexporte an die Türkei umgehend stoppen
Antragstext
Am 21. Januar 2018 startete die Türkei mit der „Operation Olivenzweig“ den Einmarsch in die
nordsyrische Region Afrin, die eines der Rückzugsgebiete für Flüchtlinge und
Binnenvertriebene in Syrien ist. Unzählige Menschen sind bereits durch den Krieg Assads
gegen seine eigene Bevölkerung und die barbarischen Verbrechen vom ISIS zur Flucht in genau
dieses Gebiet gezwungen worden, sie dürfen nicht noch einmal den Horror von Krieg und
Vertreibung erleben. Der türkische Militäreinsatz richtet sich gegen die YPG den
militärischen Arm der kurdischen PYD, die die Autonomiebehörde kontrolliert. Doch sind auch
zivile Opfer zu beklagen. Nach der entscheidenden Schwächung von ISIS, bei der unter anderem
kurdische Milizen der YPG eine entscheidende Rolle gespielt haben, tritt der Krieg in Syrien
mit der Invasion in eine weitere erschütternde Gewaltphase ein. Mit dem Einmarsch in
Nordsyrien gießt Präsident Erdogan Öl in den regionalen Flächenbrand. Bündnis 90 / Die
Grünen verurteilen diese Invasion als eine Verletzung des Völkerrechts sowie als eine
unverantwortliche militärische Gewalteskalation. Das militärische Vorgehen der Türkei in
Syrien wird die Lage dort dramatisch verschlimmern und das Ausmaß der humanitären
Katastrophe weiter vergrößern. Bereits jetzt befinden sich laut UN-Angaben mehr als 5.000
Menschen auf der Flucht vor der türkischen Offensive.
Der Einmarsch der Türkei ist einerseits innenpolitisch motiviert, er soll von der schlechten
wirtschaftlichen Entwicklung und der tief gespaltenen Gesellschaft ablenken. Erdogans
Außenpolitik der vergangenen Jahre ist krachend gescheitert. Von seinem Ansatz der „null
Probleme mit den Nachbarn“ ist heute eine Situation voller Konflikte mit fast allen Nachbarn
geworden. Nach der Aufkündigung der Friedensgespräche mit der PKK und einem
unverhältnismäßigen militärischen Einsatz auch gegen die kurdische Zivilbevölkerung im
Südosten der Türkei hat Erdogan es bisher nicht geschafft, eine tragfähige politische Lösung
der sogenannten Kurdenfrage anzubieten. Gleichzeitig kritisieren wir auch die Nähe der YPG
zur PKK, deren Teilorganisationen in der vergangenen Jahren schwere Terroranschläge in der
Türkei auch gegen Zivilisten verübt haben. Dieses Anheizen der Gewaltspirale wird den
innertürkischen Konflikt nicht lösen. Wir verurteilen diese Gewalt scharf. Die Verbindungen
zwischen der YPG und der PKK rechtfertigen jedoch keinen Einmarsch in Syrien, für die Türkei
sind sie aber ein berechtigter Grund zur Sorge.
Andererseits nutzt der türkische Einmarsch vor allem den syrischen und russischen
Kriegsinteressen, denn er richtet sich gegen die innenpolitische Opposition Assads und
treibt einen Keil zwischen die Türkei und ihre NATO-Partner – allen voran die USA, die
bislang die kurdischen Einheiten auch mit Waffen unterstützt haben. Damit rückt eine
politische Lösung des Syrienkonflikts in weite Ferne.
Der türkische Einmarsch zeigt zudem auch das Scheitern der deutschen und europäischen
Türkeipolitik auf. Viel zu lange wurde kaum oder viel zu leise Kritik an den zunehmend
autokratischen und unberechenbaren Kapriolen der türkischen Innen- und Außenpolitik geübt.
Mit dem Flüchtlingsdeal hat sich die EU durch Erdogan erpressbar gemacht. Präsident Erdogan
fühlt sich offensichtlich immun genug, um sich eine ganze Reihe innen- und außenpolitischer
Eskalationen zu erlauben, ohne laute Kritik aus Berlin und Brüssel befürchten zu müssen. Die
Bilder von offenkundig deutschen Leopard-2-Panzern in Syrien sind eine drastische
Illustration der fehlgeleiten deutschen Rüstungsexportpolitik in Krisen- und Konfliktländer
der letzten Jahre. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat der Türkei gerade erst die
Modernisierung der Panzer in Aussicht gestellt. Erneut rücken Menschenrechte und Demokratie
in den Hintergrund, weil ein lukratives Angebot für Rheinmetall winkt.
Auch die vermeintliche Entspannung der deutsch-türkischen Beziehungen ist nur Fassade,
solange Deniz Yücel und andere politische Geiseln unschuldig in Haft sitzen. Deniz Yücel
verdient unseren größten Respekt dafür, dass er in seinem letzten Interview deutlich gemacht
hat, nicht durch schmutzige Deals mit der Türkei freikommen zu wollen. Es muss der deutschen
und europäischen Außenpolitik gelingen, gegenüber der Türkei aus dem Teufelskreis aus
Abhängigkeit und Eskalation auszubrechen.
Wir GRÜNE haben intensiv über den Umgang mit den entstandenen Konflikten und deren mögliche
Deeskalation diskutiert und sind nicht den leichten Weg vieler anderer gegangen, einfache
Antworten auf komplizierte Fragen zu geben. Wir haben uns für umfassende zivile und
politische Lösungen stark gemacht. Die kann es aber nur geben, wenn die internationale
Gemeinschaft ihren politischen Willen dazu deutlich erhöht.
Die Entwicklung hat der letzten Woche in erschreckender Eindeutigkeit gezeigt, dass Frieden
im Mittleren Osten ohne eine Einbeziehung kurdischer Interessen nicht machbar sein wird.
Schon jetzt versuchen Menschen in der Region - seien es Kurd*innen, Alevit*innen,
Araber*innen, Christ*innen, Jesid*innen, Assyrer*innen oder Armenier*innen - unter widrigen
Umständen eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Vertreibungen, Diskriminierungen von
Minderheiten und Menschenrechtsverletzungen, die nach wie vor stattfinden, verurteilen wir.
Wir bekennen uns zu einem friedlichen, international getragenen Umgang mit der Kurdenfrage.
Eine Lösung kann nicht in einer weiteren Eskalation des Krieges und weiterer militärischer
Aufrüstung liegen, sondern muss friedlich, unter Einbeziehung der betroffenen Staaten und
Interessengruppen sowie unter Wahrung des Völkerrechts erreicht werden.
Wir kritisieren den Aufruf des türkischen Religionsattachés an die Gläubigen der DITIB-
Gemeinden, die Sieg-Sure (Fetih) zu beten, in der es um das Ziel der Eroberung geht.
Verherrlichung von Krieg und nationalistische Stimmungsmache lehnen wir ausdrücklich ab. Wir
appellieren, die Diskussion über die aktuellen Entwicklungen in Syrien mit Argumenten und
friedlich zu führen. Angriffe auf Moscheen oder kurdische Einrichtungen in Deutschland
verurteilen wir.
Mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen fordern BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN:
- Die Bundesregierung muss sich für einen sofortigen Stopp des türkischen Angriffs in
Nordsyrien einsetzen.
- Die Bundesregierung muss umgehend die völkerrechtswidrige Intervention der Türkei
innerhalb der NATO auf den Tisch bringen und darauf drängen, dass die NATO endlich
geeignete Konsequenzen zieht - auch mit Blick auf die Awacs-Aufklärungsflüge.
- Mehr denn je müssen Deutschland und Europa klare Kante für Demokratie und
Menschenrechte in der Türkei und in der Region zeigen. Das politische Handeln muss
konsequent auf die Unterstützung der verbleibenden demokratischen Kräfte in der Türkei
ausgerichtet werden.
- Alle deutschen Rüstungsexporte in die Türkei müssen umgehend gestoppt werden, bis die
Türkei zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Das gilt auch für die von
der türkischen Regierung geforderte Aufrüstung der Leopard-II-Panzer, die offenkundig
in der gegenwärtigen türkischen Militäroffensive eingesetzt werden. Ebenso gehören
Pläne zur Beteiligung deutscher Unternehmen an Rüstungskonsortien, wie sie jüngst im
Fall des Rheinmetallvorhabens zur Unterstützung des Aufbaus einer Panzerfabrik in der
Türkei öffentlich wurden, ausnahmslos beendet. Die Gesetzeslücke, die solche Pläne
ermöglicht, muss dringend geschlossen werden.
- Es braucht eine diplomatische Offensive gegenüber der Türkei und Vertreterinnen und
Vertretern der kurdischen Bevölkerung in der Region, um Druck für eine politische
Lösung der Kurdenfrage zu erreichen. Für die Zukunft der Region kann es nur eine
friedliche und politische Lösung geben.
- Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei schirmt Europa nicht nur vor Verantwortung, sondern
Präsident Erdogan auch vor Kritik ab. Die EU hat sich dadurch gegenüber der Türkei
erpressbar gemacht. Diesen Türkei-Deal wollen wir beenden. Zugleich sollte damit die
europäische Unterstützung der über drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei nicht
abbrechen. Deren Versorgung nach humanitären Standards muss oberste Priorität haben.
Auch braucht es dringend Kontingente zur Entlastung der dortigen Strukturen.
- Die Bundesregierung muss den politischen und wirtschaftlichen Druck auf die AKP-
Regierung erhöhen, damit Deniz Yücel und alle anderen politischen Gefangenen endlich
ein rechtsstaatliches Verfahren erhalten und alle unschuldig Inhaftierten frei kommen.
- Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion kann es erst geben, wenn die Türkei
eine Kehrtwende zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vollzieht. Das gilt auch
für die Fortführung der Beitrittsgespräche, die de facto bereits auf Eis liegen.
Europäische Heranführungshilfen sollten ausschließlich an zivilgesellschaftliche, pro-
demokratische Organisationen ausgezahlt werden. Die Beitrittsgespräche jetzt aber
komplett abzubrechen, würde das falsche Signal an die proeuropäischen und
demokratischen Kräfte in der Türkei senden. Für eine demokratische und weltoffene
Türkei müssen die Türen zur EU offen bleiben.
- Wir stehen an der Seite derer die für eine friedvolle Lösung auf der Grundlage von
Völkerrecht und Menschenrechten in Deutschland gewaltfrei demonstrieren.
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