Begründung:
Bauernhöfe, Bäckereien oder Dorfläden, die im Umkreis von 10 km die einzige Einkaufsmöglichkeit sind, Landärztinnen, Hebammen, Tagesmütter, paritätisch aufgestellte Handwerksbetriebe, Anwaltskanzleien, Start-ups mit großem Potenzial – bei kaum einem anderen Thema sind unsere grünen Grundsätze so unmittelbar miteinander verwoben wie beim Mutterschutz für Selbständige.
Hierbei geht es nicht nur um einen entscheidenden Aspekt, der in unserem Land nach wie vor die Berufsfreiheit von Frauen, ihre Selbstbestimmung und oft auch ihre Erwerbsmöglichkeiten einschränkt. Es geht auch darum, dass ein bedeutendes Potenzial der deutschen Wirtschaftsleistung verloren geht.
Dieser Umstand betrifft weit mehr als die individuelle Selbstverwirklichung. Frauen beschäftigen Frauen und bieten vielerorts die einzigen Arbeitsplätze, die auf die Lebensrealität zugeschnitten sind, die häufig durch familiäre und örtliche Gegebenheiten geprägt ist. Insbesondere im ländlichen Raum gründen viele Frauen genau deshalb, weil sie vor Ort keine passenden Arbeitsstellen finden. Dadurch entfalten sie auf eigene Weise das wirtschaftliche Potenzial ihrer Region.
Wie Michael Kellner in seiner Rede am 6. November 2024 zum Kurs der Bundesregierung in der Wirtschaftskrise betont hat: „Dass wir die Selbständigkeit für Frauen in diesem Land verbessern, das ist auch Wirtschaftspolitik! … Das wurde bisher versäumt... Es ist mir wichtig, Mutter und Kind zu schützen und dafür zu sorgen, dass Schwangerschaft keine existenzielle Bedrohung für die Arbeit von Selbständigen, ihre Familien sowie ihre Betriebe und gegebenenfalls für ihre Angestellten und Auszubildenden darstellt.“ Damit bringt er es auf den Punkt: Das Thema Mutterschutz für Selbstständige ist ein Querschnittsthema, das sowohl grüne Wirtschafts- als auch grüne Familienpolitik betrifft. Das die Vorgängerregierungen hierin versagt haben, liegt auf der Hand. Dadurch werden in Deutschlen die EU-Anforderungen bisher bei weitem nicht erfüllt.
Wir Grünen sind die Ersten, die Wirtschaft und Familie zusammendenken!
Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt im Wahlprogramm nicht auf den Status Quo setzen. Das im Entwurf aufgeführte Mutterschaftsgeld ist genau die Leistung, die es seit 2017 bereits gibt – und zwar in Höhe von 13 € pro Tag. Diese Summe reicht jedoch weder aus, um den Lebensunterhalt mit einem neugeborenen Kind zu sichern, noch schützt es ansatzweise die Existenzgrundlage.
Es werden diskriminierungsfreie Mutterschaftsleistungen benötigt, die auch eventuelle Ausfälle während der Schwangerschaft mit einbeziehen. Hierbei geht es nicht nur um die Gleichstellung von Selbständigen und Angestellten; es geht auch um die Sicherung der Betriebe und der dazugehörigen Arbeitsplätze. Insbesondere im ländlichen Raum spielen die Gründung bzw. die Übernahme von Betrieben durch Frauen eine entscheidende Rolle – vor allem bei der Beschäftigung anderer Frauen, die möglicherweise auf eine ortsansässige Teilzeitstelle angewiesen sind.
Deshalb schlagen wir eine Änderung des Entwurfs vor, die von von Anfang an den geltenden EU-Ansprüchen gerecht wird:
Rechtliche Grundlagen und Urteile:
1. Richtlinie 2010/41/EU: Diese EU-Richtlinie fordert, dass selbstständige Frauen und mitarbeitende Ehepartnerinnen während Schwangerschaft und Mutterschutz finanziell abgesichert werden müssen. Die Umsetzung in Deutschland ist jedoch mangelhaft, da sie eine Absicherung an die Krankentagegeldversicherung koppelt und damit hohe Vorleistungen verlangt.
2. Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2011: In der Rechtssache C-236/09 stellte der EuGH fest, dass es diskriminierend ist, Frauen allein mit den Kosten für Leistungen zu belasten, die durch Schwangerschaft und Mutterschutz entstehen. Eine geschlechterübergreifende Finanzierung ist zwingend erforderlich, um die Gleichstellung zu gewährleisten.
3. CEDAW-Entscheidung „Elisabeth de Blok et al. gegen die Niederlande“ (CEDAW/C/57/D/36/2012): Das CEDAW-Komitee hat in dieser Entscheidung festgestellt, dass die Nichtgewährung von Mutterschaftsleistungen an selbstständige Frauen eine Verletzung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) darstellt. Es wurde klargestellt, dass der Mutterschutz auch für selbstständige Frauen gewährleistet werden muss, um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter sicherzustellen.
4. Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 2003: Im Beschluss (Az. 1 BvR 302/96) stellte das BVerfG fest:- „Art. 6 Abs. 4 GG begründet keine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die Kosten des Mutterschutzes allein zu tragen.“
- Es sei unzulässig, die Kosten ausschließlich auf Betriebe mit weiblichen Beschäftigten abzuwälzen, da dies diskriminierend wäre. Stattdessen müssen die Kosten solidarisch von allen Arbeitgebern getragen werden.
Erst-recht-Schluss:
Wenn es diskriminierend ist, dass nur Betriebe mit überwiegend weiblichen Beschäftigten für Mutterschutzkosten aufkommen, kann es erst recht nicht sein, dass nur selbstständige Frauen die Risiken und die Finanzierung eines Verdienstausfalls während Schwangerschaft und Mutterschutz allein tragen müssen.
Solidarität und Gleichstellung
Wir setzen uns für eine grundlegende Reform der finanziellen Absicherung von selbstständigen Frauen während Schwangerschaft und Mutterschutz ein. Die Kosten werden von der Solidargemeinschaft getragen.
Ziele und Maßnahmen:
1. Finanzierung über Umlageverfahren: Nach dem Vorbild der bestehenden Umlage U2, die Arbeitgeber für die finanzielle Absicherung von angestellten Frauen leisten, wird eine Umlage für die Absicherung selbstständiger Frauen eingerichtet. Dabei zahlen alle Selbstständigen anteilig ein, unabhängig von Geschlecht oder Familienstand.
2. Pauschale Mutterschutzleistungen: Für selbstständige Frauen sollen pauschale Mutterschutzleistungen als Grundsicherung eingeführt werden.
- Diese Leistungen sollen unabhängig von Einkommenshöhe und Betriebskosten gewährt werden, um Frauen in der Gründungsphase oder mit geringen Betriebskosten eine unbürokratische und schnelle Unterstützung zu bieten.
- Sie helfen insbesondere Solo-Selbstständigen oder Kleinunternehmerinnen, die noch keine stabilen Einkünfte haben, aber dennoch Verdienstausfälle erleiden.
3. Flexible Einkommensersatzleistungen: Neben der pauschalen Basisabsicherung soll ein bedarfsgerechter Einkommens- und Betriebskostenausgleich gewährt werden.
- Diese Regelung orientiert sich an Betriebsausfallversicherungen und den während der Corona-Pandemie eingeführten Überbrückungs- bzw. Neustarthilfen.
- Die Leistungen sollen nicht nur den privaten Lebensunterhalt, sondern auch die laufenden Fixkosten eines Betriebs abdecken (z. B. Mieten, Gehälter von Angestellten, Kreditzahlungen).
- Dies ist besonders wichtig für etablierte Unternehmerinnen, die höhere Betriebskosten haben und auf diese Entlastung angewiesen sind.
4. Absicherung während der Schwangerschaft, insbesondere bei Risiken: Während der Schwangerschaft müssen selbstständige Frauen bei Arbeitsunfähigkeit durch eine finanzielle Absicherung geschützt werden.
- Dies gilt insbesondere bei Risiken im Sinne des Mutterschutzgesetzes, wie z. B. gesundheitlichen Gefährdungen für die Mutter oder das Kind, die aus zeitlichen, betrieblichen oder gesundheitlichen Gründen eine Arbeitsunfähigkeit bedingen. Diese Regelung knüpft an das Konzept des Beschäftigungsverbots bei Angestellten an, bei dem Frauen ebenfalls finanziell abgesichert sind. Dabei muss die Einschätzung ihrer Situation unbedingt der Selbständigen überlassen bleiben (keine Bevormundung).
- Außerdem braucht es flexible Regelungen der finanziellen Unterstützung, wenn die Mutter verschiedene Tätigkeiten weiterhin ausführen kann (keine „Alles- oder Nichts-Regelung). Hier könnte eine Sicherung des Fortbestandes des Betriebs, der die Unternehmerin ernährt, z.B. über eine Versicherungs- oder eine Zuschusslösung wie unter 3. helfen.
5. Vertretungsregelung für selbstständige Frauen (optional): Die landwirtschaftliche Krankenversicherung bietet ein positives Beispiel: Durch die Bereitstellung einer Betriebshilfe wird sichergestellt, dass der Betrieb während der Abwesenheit der Mutter weitergeführt werden kann.
- Diese Regelung sollte als Option für alle selbstständigen Branchen geprüft werden.
- Selbstständige Frauen sollen finanzielle Mittel beantragen können, um eine Vertretung zu organisieren oder eine Betriebshilfe zu stellen.
6. Umsetzung der EU-Richtlinie und Berücksichtigung internationaler Standards: Die Umsetzung der Richtlinie 2010/41/EU sowie die Berücksichtigung der Entscheidung des CEDAW-Komitees in der Sache „Elisabeth de Blok“ müssen im deutschen Recht vollständig erfolgen. Ziel ist eine vollständige Gleichstellung selbstständiger Frauen mit angestellten Frauen in Bezug auf Mutterschutz und finanzielle Absicherung.