Die gewaltsame Vertreibung der einheimischen Bevölkerung Palästinas reiht sich ein in Jahrhunderte kolonialer Unterdrückung durch westliche Mächte. Landraub, Besatzung, illegale Besiedelung und zuletzt die Abriegelung und massive Bombardierung des dicht besiedelten Gazastreifens haben zu katastrophalen Zuständen geführt.
Während sich die Lage für die Betroffenen dramatisch zugespitzt hat, setzte die Bundesregierung Zahlungen an das UN-Palästinenserhilfswerk monatelang aus. Deutsche Rüstungsunternehmen liefern mit Genehmigung durch die Regierung Munition für Bombardements in Gaza und Schüsse im Westjordanland.
Weltweit sorgen die massiven Völkerrechtsverletzungen für Empörung und breite Solidaritätsbewegungen für das bedrängte palästinensische Volk.
Inzwischen sind Israel und Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt, wegen des Vorwurfs des Völkermordes beziehungsweise der Begünstigung zum Völkermord.
Zu benennen was ist, damit kommen die Verfechter der „Staatsräson“ in Deutschland aber nicht klar und reagieren ebenso offen wie hilflos mit Repression. Wer im Zusammenhang mit Gaza von einem Genozid spricht, wie Greta Thunberg neulich in Mannheim, muss mit Antisemitismusvorwürfen rechnen.
Jetzt zeigt sich deutlich, wie haarsträubend die deutsche Zurückhaltung bei Kritik an Israel ist und war. Erst recht, wenn sie mit dem Holocaust begründet wird. „Nie wieder“ muss doch für alle gelten!
Vollends absurd wird die Verdrehung, wenn mit dem Schlagwort „Nie wieder ist jetzt!“ keine Lehre aus der Vergangenheit gezogen, sondern eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird. Und wenn damit auch noch massive Völkerrechtsverstöße zu Lasten des bedrohten Existenz- und Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser*innen rechtfertigt werden.
Den Titel „Nie wieder ist jetzt!“ hatten die antragstellenden Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und Union auch für ihre umstrittene Resolution zur Unterdrückung von Israel-Kritik unter dem Vorwurf des „Antisemitismus“ gewählt.
Schon seit Jahren arbeitet die deutsche Regierung daran, entsprechenden Vorwürfen Konsequenzen folgen zu lassen.
Zentral dafür ist eine Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die 2016 auf sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“ fokussierte. Die deutsche Regierung übernahm den Text für ihre Zwecke auch noch selektiv und veränderte damit den Sinn.
Mit weitreichenden Folgen. Die Stigmatisierung von Kritik lenkt ab von den eigentlichen Gefahren, die durch Judenhass und Hassreden von rechts drohen. Sie führt außerdem zu einer verzerrten und polarisierten Debatte und zur Verletzung demokratischer Grundrechte.
Dagegen schlossen sich Wissenschaftler zusammen und setzten 2021 mit der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) eine eigene Definition dagegen.
Rund zweihundert Holocaust-Forschende unterstützten die JDA in einem offenen Brief.
Jüdinnen und Juden kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen und sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agenten Israels zu behandeln, ist antisemitisch, heißt es dort beispielsweise.
Nicht antisemitisch ist dagegen faktenbasierte Kritik an Israel als Staat oder der Hinweis auf systematische, rassistische Diskriminierung im Umgang mit den Palästinenser*innen.
Auf der Grundlage der Antisemitismus-Definition der JDA und mit etwas gutem Willen sollte es möglich sein, zwischen sachlich begründeter Kritik an israelischem Regierungshandeln und judenfeindlichem Agieren zu unterscheiden.
Denn die Debatte um eine gerechte und gewaltfreie Lösung des Israel-Palästina-Konflikts muss offen geführt werden. Das würde dann auch wirklich gegen Antisemitismus helfen.
Hintergrund
Welche Motive sind hinter der „deutschen Staatsräson“ anzunehmen?
Wie Deutschland gehört auch Israel zum westlichen Bündnis, das von den Vereinigten Staaten dominiert wird.
Aufgrund der Lage und der Vorkommen fossiler Ressourcen sehen die USA den „Nahen Osten“ als ihre Interessenssphäre an. Sie nutzen Israel für fortwährende Destabilisierung und Beherrschung der Region. Selbst schwere Kriegsverbrechen der israelischen Armee veranlassen die USA nicht zu wirksamen Maßnahmen, diese zu unterbinden.
Adenauer hatte den Deutschen die Entschädigungszahlungen für Israel in Höhe von rund drei Milliarden Mark als moralische Verpflichtung verkauft. Dass die USA die BRD im Jahr 1952 zu dieser „Wiedergutmachung“ drängten, wurde erst in den 80er Jahren öffentlich.
Dabei wurde der Faschismus reduziert auf den Holocaust – andere Aspekte wie die Zerschlagung der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen, 27 Millionen Tote in der Sowjetunion oder die Beteiligung der deutschen Schwerindustrie waren im Zuge der Westbindung kein Thema.
Die Unterstützung Israels half dem ersten Kanzler der BRD auch, Akzeptanz für die umstrittene Wiederbewaffnung Deutschlands zu schaffen.
Heute ist es auch Israels boomende Rüstungsbranche, die für Deutschland eine wichtige Rolle spielt.
Auf Demos der Palästina-Solidarität kann man den Slogan: „Juden, Christen und Muslime gegen eure Kriegsmaschine“ hören. Doch Sand im Getriebe der bedingungslosen Rüstungskooperation ist unerwünscht. Der Antisemitismusvorwurf richtet sich gezielt gegen fortschrittliche und engagierte Stimmen, die oft auch jüdisch sind. Gegen friedlich protestierende Student*innen wird Polizeigewalt eingesetzt, Fördermittel für kulturelle Einrichtungen werden gestrichen und Veranstaltungen abgesagt.
Dabei ist der Begriff „Israelbezogener Antisemitismus“ keineswegs klar. Die Unabhängige Expertenkommission Antisemitismus (UEA) der Bundesregierung ordnet ihn einer Grauzone zu. Damit wäre er Sache des zivilgesellschaftlichen Meinungsstreits, aus dem sich der Staat gemäß Demokratiegebot herauszuhalten hat, argumentieren Juristen im ‚Verfassungsblog‘. Wie zahlreiche weitere bürgerschaftliche Initiativen und Organisationen sehen sie die Stoßrichtung der „Antisemitismusbekämpfung“ kritisch und fürchten um demokratische Errungenschaften wie die Freiheit der Berufsausübung, der Wissenschaft, der Kunst, der Kultur, der Information, der Meinungsäußerung und um das Versammlungsrecht.
Die Unklarheit wird noch dadurch vergrößert, dass Bundesregierung und Bundestag die IHRA-Arbeitsdefinition im Jahr 2017 unvollständig übernommen und damit den Sinn verändert haben. Sie haben eines der Beispiele mit aufgenommen, das Kritik an Israel betrifft, dabei aber den einschränkenden zweiten Satz weggelassen.
Aufgenommen wurde der Satz: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als Jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“ Weggelassen wurde die folgende Einschränkung: „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden."
Diese „deutsche Variante der IHRA-Definition“ und der daraus abgeleitete Antisemitismusvorwurf dient seit Jahren der Unterdrückung und Einschüchterung. Ampelparteien und Union ließen sich auch von zahlreicher Kritik aus der Zivilgesellschaft nicht abhalten, die Antisemitismus Resolution noch vor der Auflösung des Bundestages zu verabschieden.
Jüngst äußerte sich die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) kritisch über das Vorhaben, ebenfalls auf Basis der IHRA-Arbeitsdefinition eine weitere Bundestagsresolution gegen Antisemitismus speziell für die Anwendung an Hochschulen und Schulen zu verabschieden.
Dass sich der Nahost-Konflikt nicht mit Waffengewalt lösen lässt, davon sind auch Organisationen wie die von Israelis und Palästinensern gegründete Graswurzelbewegung Combatants for Peace überzeugt. Viele der Gründungsmitglieder sind Ex-Soldaten aus der IDF oder ehemalige palästinensische Paramilitärs. Sie weigern sich, Feinde zu sein und setzen sich in Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten in Form von gewaltlosem Widerstand für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts ein.
Siedlerkolonialismus – »Eiserne Mauer«
https://www.jungewelt.de/artikel/489347.siedlerkolonialismus-eiserne-mauer.html
Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus
https://www.jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/JDA-German.pdf
Studie zu Waffenexporten – Deutsche Panzerfäuste in Gaza
https://taz.de/Studie-zu-Waffenexporten/!6002667/
Israels Kriege bringen die eigene Rüstungsindustrie voran
Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung
Resolution des Bundestags zum Antisemitismus: Ein Instrument der Zensur
Wiedergutmachung für Israel – Was Adenauer verschwieg
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/adenauers-wiedergutmachung-fuer-israel-a-888997.html
Wiedergutmachung in explosiver Währung – Die Geschichte der westdeutschen Militärhilfe für Israel