Am 13. 11. 2001 koppelte der damalige Bundeskanzler Schröder mit der Abstimmung über den OEF-Einsatz der Bundeswehr (Regierungsantrag vom 7. 11. siehe http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/072/1407296.pdf ) die Vertrauensfrage ( http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/074/1407440.pdf ). Die rot-grüne Koalition hätte gemäß Artikel 68 GG gleich geendet, wenn nicht eine absolute Mehrheit der Bundestagsabgeordneten (mindestens 334) mit "Ja" gestimmt hätten (was natürlich nur von den SPD- und Grünen-MdBs zu erwarten war). - Wer die Entscheidungsabläufe in der damaligen rot-grünen Koalition im Einzelnen nachlesen möchte, der/dem sei http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=11&aid=1075 empfohlen. - Von den grünen MdBs hatten vorher, am 11.11.2001 acht - Annelie Buntenbach, Steffi Lemke, Christian Simmert, Monika Knoche, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele und Sylvia Voß ihr "Nein" zu diesem Kampfeinsatz ausführlich begründet, siehe http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Afghanistan/gruene.html . In der Zwangslage, in die Schröder sie dadurch gebracht hatte, stimmten - neben mehreren anderen Grünen, die sonst auch nicht diesen Bundeswehreinsatz mandatiert hätten - auch Steffi Lemke, Monika Knoche, Irmingard Schewe-Gerigk und Sylvia Voß dafür. Nur so wurde (mit 336 Stimmen knapp) die absolute Mehrheit erreicht ( http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/14/14202.pdf ).
Diese durch Drohung erzwungene Zustimmung des Bundestages war ein unwürdigiger Vorgang, der dessen Ansehen und der Glaubwürdigkeit grüner Bundestagsabgeordneten und der sie tragenden Partei erheblich schadete.
Das soll sich nicht wiederholen. Wir brauchen eine materielle Garantie für die Gewissensfreiheit aller und besonders unserer Abgeordneten auch unter Koalitionsbedingungen. Daher soll der nächste von Grünen abgeschlossene Koalitionsvertrag eine derartige Unterdrucksetzung unserer MdBs und die der Koalitionspartner*innen ausschliessen.
Auf der anderen Seite soll die nächste grün-haltige Bundesregierung ausdrücklich die Möglichkeit nutzen können, für einen Antrag auf bewaffneten Bundeswehreinsatz im Ausland auch ausserhalb der Koalitionsgrenzen um Mehrheiten zu werben. Denn sonst hätte auch eine kleine Minderheit der Koalitionsabgeordneten ein De-Facto-Vetorecht (zur Illustration: im 14. Bundestag begann Rot-Grün mit 345 von 669 Sitzen und hörte mit 339 von 665 Sitzen auf; im 15. Bundestag begann Rot-Grün mit 306 von 603 Sitzen und hörte mit 304 von 601 Sitzen auf. Eine Weigerung von jeweils zehn bis sechs bzw. vier bis drei MdBs hätte die jeweilige Koalitionsmehrheit zunichte gemacht. - Auch für zukünftige grün-haltige Koalitionen auf Bundesebene sind eher knappe Mehrheiten zu erwarten als breite). Eine faktische Vetomacht für so wenige Abgeordnete wäre unangemessen, ungerecht und könnte ausgesprochen destruktive Folgen haben.
Die legitimierende Wirkung eines Bundestagsmandates kann sich dann und nur dann entfalten, wenn es frei von Zwang und Nötigung; durch Einsicht und Verantwortungsbewusstsein der beschliessenden Abgeordneten entstanden ist. Denn nur dann gibt es bereits im Bundestag eine wirklich freie und daher ergebnisoffene Meinungs- und Willensbildung. Die Anforderungen an mögliche Regierungsanträge werden deutlich höher sein. Mögliche Bundeswehreinsätze, ihre Rahmenbedingungen und ihre möglichen Folgen werden gründlicher durchdacht werden. Für Fortsetzungs-Mandate werden die tatsächlichen (Teil-)Ergebnisse ihrer Vorgänger-Mandate besser erforscht und dokumentiert werden. Denn nur so haben Regierungsanträge gute Aussichten auf breite Mehrheiten.
Das rechtfertigt es, für Abstimmungen zu Bundestagsmandaten den alten Fetisch "Eigene Mehrheit" beiseite zu legen. Ein gelegentliches "Regieren mit wechselnden Mehrheiten" ist auch in den Augen "stabilitätsverliebter" Bundesbürger*innen kein Horrorszenario mehr, sie haben der Kanzlerin Merkel nicht ernsthaft verübelt, dass sie z.B. für ein Griechenland-Rettungspaket bei der Opposition "Stimmenanleihen" machen musste ( http://www.waz.de/politik/kanzlermehrheit-verfehlt-merkels-macht-broeckelt-id6407687.html ).
Kommentare
Simon Lissner:
Thomas Dyhr:
wenn ein Koalitionsvertrag gebrochen wird, ist die Koalition i.d.R. zu Ende. Wenn der Regierungschef unbedingt den Kriegseinsatz will und kriegt keine Mehrheit, ist die Koalition auch zu Ende.
Im Übrigen sind die Abgeordneten auch rein rechtlich nur ihrem Gewissen unterworfen. Es muss von unserem Abgeordneten erwartet werden können, dass sie sich bei solch weitreichenden Fragen wie Krieg und Frieden auf ihr Gewissen stützen und sich nicht hinter Koalitionsverträgen verstecken, sonst sind schlicht die falschen Persönlichkeiten gewählt worden. Das ist dann aber auch wieder keine Frage eines Koalitionsvertrages, sondern der Persönlichkeit.
Mir erschließt sich der Sinn einer solchen Klausel nicht und ich kann deswegen leider auch diesen Änderungsantrag nicht unterstützen.
Marc Andreßen:
Tobias Balke:
nur für Abstimmungen über Bundeswehrmandate soll die Koppelung mit einer Vertrauensfrage ausgeschlossen werden, nicht für Sachfragen generell. Eben deswegen weist die Antragsbegründung ausdrücklich auf den erpresserischen Missbrauch hin, den Schröder im November 2001 verübte, eben durch das Koppeln von Vertrauensfrage und Mandatsabstimmung (ungekoppelt wäre ihm für beide Fragen Mehrheiten sicher gewesen, wenn auch jeweils etwas anders zusammengesetzte). Das Abbrechen der ersten rot-grüne Koalition auf Bundesebene wäre ein wirklich schweres Übel gewesen. Die Drohung damit war massiv, denn sie nahm die vielen Millionen Menschen als Geisel, die für lebenswichtige Schritte (u.a. für den Atomausstieg) auf die Fortsetzung dieser Koalition einfach angewiesen waren.
Keine "Gewissensstärke" einzelner MdBs kann eine Wiederholung verhindern, aber ein Koalitionsvertrag durchaus. Wenn darin nämlich (sinngemäß) steht: "Die Vertrauensfrage darf nicht mit einer Abstimmung über ein Bundeswehrmandat gekoppelt werden", dann wäre ein Verstoß dagegen offensichtlich eine schwerwiegende Vertragsverletzung und die politische Schuld für einen daraus folgenden Koalitionsbruch läge eindeutig bei der vertragsbrechenden Partei. Jede*r Kanzler*in wird - sogar dann, wenn sie/er die Koalitionspartner*innen wechseln will - den offenen Wortbruch scheuen. Die erheblichen Mitglieder- und Stimmenverluste der FDP 1982/83 werden sie/ihn abschrecken.
Daher macht diese Bestimmung den Weg frei, um in der kommenden Legislaturperiode alle Abgeordneten - Grüne und andere - nicht nur formal, sondern tatsächlich frei nach ihrem Gewissen über Bundeswehreinsätze entscheiden zu lassen. Das schützt ihre Gewissensfreiheit, ihr Ansehen und das Ansehen des Bundestages. Ausserdem sorgt diese Regelung dafür, dass mögliche Bundeswehreinsätze, ihre Rahmenbedingungen und ihre möglichen Folgen gründlicher durchdacht werden. Die Anforderungen an Regierungsanträge werden deutlich höher sein, weil es dann im Bundestag eine wirklich freie und daher ergebnisoffene Meinungs- und Willensbildung gibt. Nur sorgfältig und weitblickend geplante Bundeswehrmandate haben gute Aussichten auf breite Mehrheiten
Weil das eine - sehr wichtige! - Ausnahme von der sonst in Koalitionsverträgen vereinbarten Regel ist, dass die Abgeordneten der koalierenden Parteien einheitlich abstimmen, muss sie ausdrücklich im nächsten Koalitionsvertrag stehen und zur Vorbereitung im Wahlprogramm ausdrücklich gefordert werden.