Veranstaltung: | 1. Ordentlicher Länderrat 2020 |
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Tagesordnungspunkt: | C Corona und die Folgen |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | 1. Digitaler Länderrat |
Beschlossen am: | 01.05.2020 |
Eingereicht: | 03.06.2020, 12:24 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Rechtsstaatlichkeit in Zeiten der Pandemie
Beschlusstext
Wir sind in einer ernsten Situation der Pandemiebekämpfung, in der schnelles und
entschiedenes Handeln wichtig ist. Der Gesundheitsschutz der Bevölkerung hat
oberste Priorität.
Dennoch – und das ist in diesen Zeiten vielleicht noch wichtiger als sonst –
gelten rechtsstaatliche Grundsätze, gelten Grund- und Menschenrechte. Sie
schützen in Anerkennung der Menschenwürde und des Selbstbestimmungsrechtes vor
staatlicher Willkür, unrechtmäßigen Eingriffen und Diskriminierung. Sie stehen
gerade in Krisensituation nicht zur Disposition und müssen nicht hinter der
Infektionsbekämpfung zurückstehen, sondern sind wichtiger Maßstab für
wertebasiertes Handeln eines demokratischen Rechtsstaates gerade für
Ausnahmekonstellationen. Oder wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert:
Persönlichkeitsrechte sind elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs-
und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlich demokratischen
Gemeinwesens.
Zu diesem Maßstab gehören insbesondere:
- Das Rechtsstaatsprinzip selbst, also die Bindung von Staat und Verwaltung
an Recht und Gesetz und die Erforderlichkeit von Gesetzen als Grundlage
für Eingriffe in Grundrechte. Diese Ermächtigungsgrundlagen sind von
Parlamenten in einem auf Grundrechtsschutz ausgerichteten Verfahren zu
schaffen.
- Das Prinzip der Gewaltenteilung: die Trennung in der Aufgabenwahrnehmung
von gesetzgebender Gewalt (Parlament), vollziehender Gewalt (Regierung,
Behörden) und rechtsprechender Gewalt (Gerichte).
- Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Maßnahmen müssen einen legitimen
Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein. Erforderlich
ist eine Maßnahme nur dann, wenn kein milderes, weniger
eingriffsintensives Mittel mit gleicher Wirksamkeit zur Verfügung steht.
Für die öffentliche Verwaltung gilt das Übermaßverbot, um diese
Verhältnismäßigkeit zu wahren.
- Der Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 GG.
- Kein Handeln ohne Gesetz, dieses muss ausreichend bestimmt sein, so dass
die Rechtsfolgen für Jede*n ersichtlich sind.
- Rechtsweggarantie: staatliches Handeln ist uneingeschränkt gerichtlich
überprüfbar.
Diesen Maßstab gilt es, durchzusetzen und zum Handlungsprinzip zu machen. Es
gilt, Ideen und Verfahren zu entwickeln, wie dies umgesetzt werden kann, und
"rote Linien" zu definieren, die auch in diesen Zeiten nicht überschritten
werden dürfen. Das Erfordernis schnellen Handelns darf nicht über diese Maßstäbe
der Rechtsstaatlichkeit und über ein sorgfältiges Abwägen gestellt werden.
Prinzip der Gewaltenteilung durchsetzen, Vorbehalt des Gesetzes als zentraler
Grundsatz eines Rechtsstaats
Passend zu den umfangreicheren (Eingriffs-) Befugnissen der Exekutive muss es
ausreichende Kontrollverfahren für das exekutive Handeln durch die Parlamente
geben. Ausschließlich Gesetze können Grundlage für Eingriffe in Grundrechte
sein. Gesetze, die durch ein demokratisch legitimiertes und nach öffentlicher
Diskussion entscheidendes Parlament beschlossen wurden. Transparente politische
Entscheidungsprozesse schützen auch jetzt am besten vor einseitiger
Einflussnahme, können wichtige Leitgedanken wie den Schutz von Minderheiten und
vulnerabler Gruppen durchsetzen und das Vertrauen in staatliche Institutionen
und Entscheidungen stärken. Gesetze, die Ermächtigungsgrundlagen für
Rechtsverordnungen oder Allgemeinverfügungen der vollziehenden Gewalt sind,
müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so genau wie möglich bestimmen.
Je stärker der Grundrechtseingriff, umso bestimmter muss er durch das Gesetz
sein, um die Gewaltenteilung zu gewährleisten.
Verordnungsermächtigungen müssen gemäß Art 80 GG nach Inhalt, Zweck und Ausmaß
der erteilten Ermächtigung bestimmt sein. Diesen Anforderungen entspricht der §
5 Abs.2 InfekSG nicht. Hier müssen sowohl die Zustimmung von Bundestag und
Bundesrat vorgesehen werden bzw. im Eilfall die unverzügliche Nachholung der
Zustimmung der Parlamente.
Die Vorschriften im Infektionsschutzgesetz, auf die die Rechtsverordnungen
gestützt werden, sind zu konkretisieren, um einen klareren gesetzlichen Rahmen
zu geben.
Strenge Befristung und Evaluation von Maßnahmen
Der Ausnahmezustand darf nicht zur Norm erhoben werden. Deshalb benötigen alle
Maßnahmen einen "Zeitstempel" – sie sind möglichst knapp zu befristen und in
regelmäßigen Abständen auf ihre Wirkung und Wirksamkeit hin zu prüfen. Ein
Grundrechtseingriff vertieft und verstärkt sich, je länger er andauert. Daher
müssen sich die Anforderungen an die Begründungstiefe, ggf. auch an
erforderliche Mehrheiten erhöhen, je länger die Einschränkung dauert.
Klare Rechtsgrundlagen, so bestimmt wie möglich
Ein uneinheitliches Infektionsgeschehen kann regional unterschiedliche
Beschränkungen notwendig machen. Umso wichtiger ist es, auf allen Ebenen der
Normenhierachie die Bestimmtheit als Grundrechtsschutz fest im Blick zu haben:
Maßnahmen und Konsequenzen müssen so bestimmt wie möglich sein, unbestimmte
Rechtsbegriffe sind zu vermeiden, um den Auslegungsspielraum so gering wie
möglich halten. Das unterstützt letztlich auch die ausführenden Ordnungsbehörden
in ihrer Arbeit.
Auch bei der Normgebung selbst kann aktiver Grundrechtsschutz betrieben werden.
Verbote mit Ausnahmen, wie z.B. die Anwesenheit im öffentlichen Raum nur bei
"triftigem Grund", sind eingriffsintensiv und können den/die Bürger*in in die
Situation bringen, auch normgerechtes Verhalten rechtfertigen bzw. erklären zu
müssen. Anders herum wird ein Schuh draus: Es sollten konkrete Verhaltensweisen
untersagt und dies aus der Norm ersichtlich sein. So könnten Grundrechte wieder
als Abwehrrechte gegenüber dem Staat wirken, der erklären müsste, warum aus
seiner Sicht ein Verstoß vorliegt.
Versammlungsfreiheit umsetzen
Auch ein uneingeschränktes Demonstrationsverbot ist unter diesen Gerichtspunkten
nicht akzeptabel, zumal ein effektiver Eilrechtsschutz derzeit nur eingeschränkt
gegeben sein dürfte. Damit würde das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aber
zeitweise außer Kraft gesetzt werden. Wenn Abstandsregelungen usw. eingehalten
werden, müssen auch derzeit Versammlungen möglich sein. Alle Versammlungen sind
grundsätzlich erlaubt und können nach einer Einzelfallentscheidung mit Auflagen
versehen werden oder verboten werden, soweit der Infektionsschutz es zwingend
erfordert. Die Teilnahme an Versammlungen ist und kann nicht strafbar sein.
Es gilt: Je länger die Einschränkungen dauern, umso intensiver muss nach
grundrechtskonformen Lösungen gesucht werden und muss eine sorgfältige
Güterabwägung stattfinden.
Effektiver Rechtsschutz und funktionsfähige Justiz
Der demokratische Rechtsstaat und insbesondere die Justiz hat sich in der Krise
bewährt. Überall dort, wo die Exekutive die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt
hat konnte eine justizielle Überprüfung für ein Korrektiv sorgen, wie bspw. beim
Versammlungsrecht. Wir erwarten, dass die Justiz entsprechend weiter für die
Herausforderungen ausgestattet und gestärkt wird, um auch im Epidemiefall ihrer
Aufgabe nachkommen zu können. Effektiver Rechtsschutz und die rechtsstaatlichen
Verfahrensgrundsätze müssen für alle Rechtsbereiche jederzeit gegeben und die
Justiz funktionsfähig sein. Dazu ist es erforderlich, die Digitalisierung der
Justiz unter Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit und ohne Abstriche beim
Datenschutz voranzutreiben.
Anpassungen im Strafvollzug
Auch die besondere Situation im Strafvollzug, in dem durch den Freiheitsentzug
in besonderer Weise in die Grundrechte der Gefangenen eingegriffen wird, braucht
auf die Rahmenbedingungen angepasste Verfahren und Prozesse. Keinesfalls dürfen
dies jedoch noch einschränkendere Ausnahmezustände sein. Den ersten wichtigen
Schritt haben die meisten Bundesländer bereits vollzogen: Eine großzügige
Handhabung der Möglichkeiten, Vollstreckungen aufzuschieben, auszusetzen oder zu
unterbrechen, vor allem für Ersatzfreiheitsstrafen und kurzzeitige
Freiheitsstrafen ist sinnvoll, ebenso die Entlassung aus dem Jugendarrest. Für
den verbleibenden Strafvollzug gilt: Allein der Gesundheitsschutz darf
ausschlaggebend für eine Erhöhung der Verschlusszeiten sein. Ziel sollte
vielmehr ein weitestgehend "normaler" Vollzug mit Bewegungs-, Beschäftigungs-
und Weiterbildungsmöglichkeiten unter Einhaltung der Abstands- und
Hygieneregelungen sein. Besuche, Außen- und soziale Kontakte sind für
Gefangene elementar, jedoch derzeit nachvollziehbarer Weise eingeschränkt. Die
Gefangenen werden gerade weitgehend isoliert. Die Gesellschaft macht zur
Kompensation gerade große Fortschritte in der Nutzung neuer Medien. Das muss
auch den Gefangenen ermöglicht werden, denn ihr Leben soll nach § 3 StVollzG dem
Leben in Freiheit so weit wie möglich angeglichen werden. Darum muss auch den
Insass*innen jetzt dringend ermöglicht werden, Videotelefonie und das Internet
zu nutzen. Die technischen und personellen Voraussetzungen sind zu schaffen und
dauerhaft zu gewährleisten. Höhere Kosten für mehr dieser Kontakte und
Telefonate in der Coronakrise müssen ausgeglichen werden.
Durch die corona-bedingte Einschränkung von Lockerungsmaßnahmen darf die
Möglichkeit der frühzeitigen Entlassung nach § 57 StGB nicht eingeschränkt
werden.
Um trotz der Herausforderungen der Pandemie einen humanen Strafvollzug gewähren
zu können, müssen die Gefangenenzahlen reduziert werden. Das ist ein guter
Anlass, Amnestien, vergleichbar mit der Weihnachtsamnestie zu prüfen.
Die Stärke des Föderalismus
Jetzt könnte sich die Stärke des Föderalismus zeigen, indem die Länder um die
besten Lösungen für die Krise ringen. Dabei ist auch ein möglichst abgestimmtes
und solidarisches Vorgehen der Länder und Kommunen erstrebenswert, welches
regionale Besonderheiten zulässt. Eine solche Situation ist allerdings nicht die
Zeit für die persönliche Profilierung einzelner Landes- und Kommunalfürsten.
Unterschiedliche Regelungen können ihre Grundlage nur im unterschiedlichen
Infektionsgeschehen haben. Dies führt sonst zu fehlender Akzeptanz, Konflikten
an Landesgrenzen und ungesunden Überbietungswettbewerben.