Antrag: | Die Würde aller Menschen ist unantastbar! |
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Antragsteller*in: | Bundesvorstand (dort beschlossen am: 29.04.2020) |
Status: | Geprüft |
Verfahrensvorschlag: | Modifizierte Übernahme |
Eingereicht: | 29.04.2020, 21:36 |
C-03-001: Die Würde aller Menschen ist unantastbar!
Verfahrensvorschlag: Antragstext
Von Zeile 1 bis 136:
Als Länderrat solidarisieren wir uns mit der folgenden Stellungnahme der BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen zu den Ethik-Empfehlungen im Rahmen von Covid-19:
Als Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen wir uns für eine inklusive Gesellschaft ein, in der die Würde eines jeden Menschen im Rahmen eines solidarischen Miteinanders geschützt wird - in und außerhalb der Pandemie. Die Menschenwürde und der Gleichheitsgrundsatz, wie sie das Grundgesetz garantieren, gelten für alle Menschen gleichermaßen. In der Corona-Krise geraten diese Werte, wenn über die Isolation von älteren Menschen gesprochen wird oder Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, zunehmend unter Druck. Das macht vielen Menschen Angst, gerade jenen, die auch an anderen Stellen schon Erfahrungen mit Diskriminierungen und Ausschlüssen machen. Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen haben den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer Grundrechte, insbesondere ihres Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie alle anderen Menschen auch. Angriffen auf diese Rechte treten wir entschieden entgegen.
Im Rahmen der Corona-Krise hat sich auch in Deutschland eine Debatte um Entscheidungsempfehlungen im Bereich der Triage, also Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patient*innen und objektiv unzureichenden Ressourcen, entwickelt. Es muss alles getan werden, um solche Triage-Situationen bei den intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten zu vermeiden. Aktuelle Empfehlungen wurden unter anderem vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) kritisiert.
Gerade da die Frage der Triage grundgesetzliche Garantien in starkem Maße berührt, finden wir es wichtig, eine politische Debatte über Triage-Richtlinien entlang unserer Grundwerte und unseres Bilds einer inklusiven Gesellschaft zu führen. Wir als Partei werden hier keine direkte Maßnahmen oder den konkreten Weg festlegen können. Der Länderrat begrüßt deshalb, dass die Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich dafür einsetzen wird, dass sich die zuständigen Ausschüsse des Bundestags mittels öffentlicher Anhörung von Expert*innen, zu denen ausdrücklich auch Vertreter*innen der Menschen mit Behinderung und älterer Menschen gehören müssen, mit dem Thema Triage-Richtlinien befassen. Dieser Prozess wird von der Partei, insbesondere der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik politisch begleitet.
Dabei gilt für uns grundsätzlich: Die Verfassung mit ihren Grundwerten der Menschenwürde, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, des Gleichheitsgebots und ihrer Diskriminierungsverbote sowie staatlichen Gewährleistungs- und Schutzpflichten gilt uneingeschränkt auch in der Pandemie. Entscheidungsempfehlungen zur Triage müssen diskriminierungsfrei und grundgesetzkonform ausgestaltet werden. Die strukturelle Benachteiligung oder den generellen Ausschluss von Personengruppen beispielsweise aufgrund von Alter oder Behinderung lehnen wir ab. Eine solche Benachteiligung liefe auch Gefahr, zur Grundlage für weitere Diskriminierungen nach der Corona-Pandemie zu werden.
"Am 23. März haben mehrere deutsche medizinische Fachgesellschaften, vereint unter dem Dach der DIVI, sogenannte „Ethik-Empfehlungen“ für den Fall veröffentlicht, dass im Rahmen der Covid-19-Pandemie nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Behandlungsplätze mit Zugang zu einem Beatmungsgerät zur Verfügung stehen. In diesen Empfehlungen wird in abgestufter Form dargestellt, nach welchen Kriterien Ärzt*innen die schwierige Auswahl (Triage) treffen könnten, wer die überlebenswichtige Behandlung bekommen soll. Wenige Tage später hat der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Erklärung die Empfehlungen der DIVI bekräftigt.
Wir alle setzen in diesen Wochen alles daran, dass unser Gesundheitssystem gar nicht erst in diese Situation kommt. Wir bleiben so weit wie möglich zu Hause, halten Abstand, achten auf unsere Hygiene und benutzen Handschuhe und Masken. Wir haben weiterhin die Hoffnung, dass es in Deutschland keine gleichermaßen dramatischen Entwicklungen wie in Italien oder Spanien geben wird.
Für uns ist nachvollziehbar, dass im Falle einer nicht vermeidbaren Auswahlentscheidung dafür Kriterien gelten müssen. Diese müssen sich aber an dem Verfassungsgrundsatz orientieren, dass man kein Leben gegen ein anderes abwägen darf. Danach darf nur berücksichtigt werden, wer zuerst in die Behandlung kommt, wer die Behandlung am dringlichsten braucht und wer zufällig als behandlungsbedürftige*r Patient*in aufgenommen wurde.
Nicht akzeptieren können wir, dass bei Menschen, bei denen individuell sowohl die Aussicht auf Überleben als auch auf Heilung besteht, die Behandlung abgebrochen wird, weil ein Mensch mit vermeintlich besseren Heilungschancen aufgenommen wird. Genauso wenig akzeptieren können wir, dass zusätzliche Auswahlkriterien angelegt werden wie beispielsweise das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten (zusätzlicher Erkrankungen) sowie die vermutete verbleibende Lebenserwartung oder -qualität.“
Wir, die BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, wenden uns deshalb mit diesem Aufruf an alle GRÜNEN Verantwortungsträger*innen in der Partei und in den Parlamenten:
Bitte lasst nicht zu, dass das in den DIVI-Empfehlungen zum Ausdruck kommende Bild von Menschen mit Behinderungen, von alten und von Menschen mit Vorerkrankungen unwidersprochen bleibt. Es darf hier kein Präzedenzfall dafür geschaffen werden, dass trotz anderslautender Beteuerungen Menschenwürde, Menschenrechte und der unbedingte Schutzanspruch menschlichen Lebens nicht mehr für alle Menschen gleichermaßen gilt.
1. Triage-Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten
Wir erkennen an, dass es für Ärzt*innen und andere Angehörige medizinischer Berufe eine enorme psychische und persönliche Herausforderung ist, bei nicht ausreichend zur Verfügung stehenden Ressourcen eine Entscheidung darüber zu treffen, wer behandelt wird und wer nicht. Wir können den Wunsch nach übergeordneten Richtlinien verstehen, die der jeweils entscheidenden Person einen Teil der Verantwortung und der damit verbundenen Last abnehmen. Dennoch können wir nicht hinnehmen, welche Auswahlkriterien in diesen Empfehlungen eingeführt werden. Sie betreffen uns, im Zweifelsfall unsere physische Existenz.
Unter den Mitgliedern der BAG Behindertenpolitik gibt es beispielsweise Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen – Vorerkrankungen, die explizit in den DIVI-Empfehlungen als Negativ-Score aufgelistet werden. Darunter zählt man Erkrankungen wie MS, spinale Muskelatrophie oder auch ALS, eine schwere Erkrankung, mit der der weltberühmte Astrophysiker Stephen Hawking 76 Jahre alt wurde. Wir, die wir mit solchen Grunderkrankungen leben, möchten euch stellvertretend für viele Menschen mit anderen Erkrankungen an unserem Beispiel illustrieren, was die DIVI-Empfehlungen für uns bedeuten.
Vielen von uns wurde zu Beginn unseres Lebens ein Versterben bereits im Kindesalter prognostiziert. Viele von uns sind aber mittlerweile in ihren Vierzigern oder älter. Wir sind Menschen, die mitten im Leben stehen, arbeiten, Familie haben, politische oder andere Ehrenämter ausüben. Unsere Lebensqualität orientiert sich aus unserer Sicht nicht an mehr oder weniger vollständiger Gesundheit oder Selbstständigkeit, sondern daran, ob wir unseren Bedarfen entsprechend mit technischen Hilfsmitteln und persönlicher Assistenz ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit der notwendigen medizinischen Versorgung im Krankheitsfall haben viele Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen eine Lebenserwartung wie andere Menschen auch, jeweils abhängig davon, wie ihr allgemeiner Gesundheitszustand und nicht zuletzt auch ihr Lebenswille ist.
Es ist für uns kaum zu ertragen, dass man uns grundsätzlich eine geringere Aussicht auf Genesung im Rahmen unserer individuellen Normalität unterstellt. Von einer Gesellschaft, die die Würde des Menschen und deren Schutz nicht an bestimmten Vorgaben festmacht, sondern am Menschsein selbst, erwarten wir den gleichen Schutz und die gleiche medizinische Versorgung, die anderen Menschen zugebilligt wird. Bei gleicher Überlebenschance und gleicher Aussicht auf Wiederherstellung des Gesundheitszustands, wie er vor einer Covid-19-Erkrankung bestand, muss grundsätzlich auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen. Allein das Vorliegen einer Behinderung oder Vorerkrankung darf kein Ausschlusskriterium für Beatmung oder intensivmedizinische Behandlung sein. Triage- Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten.
2. Ein fatales Signal an Menschen mit Behinderung…
Vielen von uns stellt sich beim Lesen der Ethik-Empfehlungen die Frage, wie es denn tatsächlich bestellt ist um unsere gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben jahre- und jahrzehntelang gekämpft gegen jede Art von Diskriminierung und Benachteiligung, für Nachteilsausgleiche und die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens, für gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für Menschenrechte wie den umfassenden Zugang zu Bildung und für die Aufhebung des Ausschlusses vom Wahlrecht. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland dachten wir, unserer gesellschaftlichen Gleichstellung so nahe zu sein wie nie zuvor. In den Jahren danach hat uns die Gesetzgebung, insbesondere die Verabschiedung des BTHG, teilweise enttäuscht. Dennoch haben viele von uns nie daran gezweifelt, dass gerade auf dem Erfahrungshintergrund der entsetzlichen Ideologie des NS-Regimes nicht mehr an unserem Lebensrecht und unserer grundsätzlichen Gleichwertigkeit gezweifelt wird.
Nun scheint dies nicht mehr zu gelten.
Manche von uns sehen in den Ethik-Empfehlungen ein Signal an uns Menschen mit Behinderungen, dass wir nur in guten Zeiten die gleichen Bürger- und Menschenrechte genießen wie andere Menschen auch. Ist es tatsächlich so, dass wir dann, wenn es hart auf hart kommt, wieder grundsätzlich um unser Leben und unsere Gesundheit bangen müssen? Kann es sein, dass wir diese Frage im Jahr 2020 erneut stellen müssen?
3. … und an die Gesellschaft
Doch es geht nicht allein um uns. Wir sehen, dass plötzlich das Bild einer Gesellschaft am Horizont erscheint, in der nicht mehr alle Menschen mit der gleichen Würde und den gleichen Menschenrechten ausgestattet sind. Unser Grundgesetz kennt eine solche Unterscheidung nicht. Auch die Gesetze in unserem Land gelten grundsätzlich für alle Menschen gleichermaßen. Wenn Leben und Gesundheit die höchsten Güter sind, die vom Staat geschützt werden müssen, ist es inakzeptabel, dass dies im Kielwasser der Ethik- Empfehlungen nicht mehr für alle Menschen gilt, zumindest nicht für die, die mit bestimmten anderen Erkrankungen oder Behinderungen leben.
Wenn vom Grundsatz her unveräußerliche Rechte manchen Personengruppen per se abgesprochen werden, so zerstört dies unser gesellschaftliches Selbstverständnis als Rechtsstaat und als solidarisches Gemeinwesen. Wir können dazu nicht schweigen. Wir GRÜNE verstehen uns als liberale, demokratische Partei, für die Menschen- und Bürgerrechte zu den Grunderrungenschaften unserer Gesellschaft gehören. Wir möchten, dass deshalb das Bekenntnis zu Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen und die klare Abgrenzung von allen Strömungen, die dem widersprechen, auch Eingang in unser neues Grundsatzprogramm finden. Die aktuelle Debatte liefert dafür ausreichend Anlass und Dringlichkeit.
Liebe Parteifreund*innen, bitte greift unseren Appell auf: Lassen wir nicht zu, dass auf dem Hintergrund einer möglicherweise anstehenden Extremsituation Weichen gestellt werden, die noch weit über die Coronakrise hinaus unser gesellschaftliches Zusammenleben, den Grundkonsens von gleichen Rechten und gleicher Würde, wie er im Grundgesetz ausformuliert ist, infrage stellt und aushebelt. Werdet bitte mit uns gemeinsam laut als mahnende Stimme und als Kämpfer*innen für den gleichen Wert und die gleiche Würde jedes Menschen, egal ob er mit einer Behinderung lebt oder ohne, ob er gesund ist oder krank, ob er jung ist oder alt. Die Triage-Regeln müssen grundsätzlich für alle gelten und sich einzig und allein an ihrer individuellen Situation orientieren. Der Ausschluss ganzer Personengruppen entspricht weder unserem Rechtsverständnis noch unserem gesellschaftlichen Grundkonsens.
In diesem Sinne bitten wir euch, alles daran zu setzen, dass die Ethik-Empfehlungen der DIVI und ihre Billigung durch den Deutschen Ethikrat in den angesprochenen kritischen Teilen zurückgenommen werden."
Antragstext
Von Zeile 1 bis 136:
Als Länderrat solidarisieren wir uns mit der folgenden Stellungnahme der BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen zu den Ethik-Empfehlungen im Rahmen von Covid-19:
Im Rahmen der Corona-Krise hat sich auch in Deutschland eine Debatte um Entscheidungsempfehlungen im Bereich der Triage, also Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patient*innen und objektiv unzureichenden Ressourcen, entwickelt. Es muss alles getan werden, um solche Triage-Situationen bei den intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten zu vermeiden. Anders als im Rettungsdienst und Katastrophenschutz gibt es für die beschriebene klinische Situation keine Triage-Richtlinien. Aktuelle Empfehlungen wurden unter anderem von dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen kritisiert.
"Am 23. März haben mehrere deutsche medizinische Fachgesellschaften, vereint unter dem Dach der DIVI, sogenannte „Ethik-Empfehlungen“ für den Fall veröffentlicht, dass im Rahmen der Covid-19-Pandemie nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Behandlungsplätze mit Zugang zu einem Beatmungsgerät zur Verfügung stehen. In diesen Empfehlungen wird in abgestufter Form dargestellt, nach welchen Kriterien Ärzt*innen die schwierige Auswahl (Triage) treffen könnten, wer die überlebenswichtige Behandlung bekommen soll. Wenige Tage später hat der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Erklärung die Empfehlungen der DIVI bekräftigt.
Wir finden es wichtig, eine politische Debatte über Triage-Richtlinien entlang unserer Grundwerte und unseres Bilds einer inklusiven Gesellschaft zu ermöglichen. Wir als Partei werden hier keine direkten Maßnahmen oder den konkreten Weg festlegen können. Der Länderrat begrüßt deshalb, dass die Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich dafür einsetzen wird, dass sich die zuständigen Ausschüsse des Bundestags mittels öffentlicher Anhörung von Expert*innen, zu denen ausdrücklich auch Vertreter*innen der Menschen mit Behinderung, älterer Menschen und Migrant*innen gehören müssen, mit dem Thema Triage-Richtlinien befassen. Dieser Prozess wird von der Partei, insbesondere unter Einbeziehung der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik, politisch begleitet.
Wir alle setzen in diesen Wochen alles daran, dass unser Gesundheitssystem gar nicht erst in diese Situation kommt. Wir bleiben so weit wie möglich zu Hause, halten Abstand, achten auf unsere Hygiene und benutzen Handschuhe und Masken. Wir haben weiterhin die Hoffnung, dass es in Deutschland keine gleichermaßen dramatischen Entwicklungen wie in Italien oder Spanien geben wird.
Dabei gilt für uns grundsätzlich: Die Verfassung mit ihren Grundwerten der Menschenwürde, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, des Gleichheitsgebots und ihrer Diskriminierungsverbote sowie staatlichen Gewährleistungs- und Schutzpflichten gilt uneingeschränkt auch in der Pandemie. Entscheidungsempfehlungen zur Triage müssen diskriminierungsfrei und grundgesetzkonform ausgestaltet werden. Die strukturelle Benachteiligung oder den generellen Ausschluss von Personengruppen beispielsweise aufgrund von Alter oder Behinderung lehnen wir ab. Eine solche Benachteiligung liefe auch Gefahr, zur Grundlage für weitere Diskriminierungen nach der Corona-Pandemie zu werden.
Für uns ist nachvollziehbar, dass im Falle einer nicht vermeidbaren Auswahlentscheidung dafür Kriterien gelten müssen. Diese müssen sich aber an dem Verfassungsgrundsatz orientieren, dass man kein Leben gegen ein anderes abwägen darf. Danach darf nur berücksichtigt werden, wer zuerst in die Behandlung kommt, wer die Behandlung am dringlichsten braucht und wer zufällig als behandlungsbedürftige*r Patient*in aufgenommen wurde.
Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen haben den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer Grundrechte, insbesondere ihres Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie alle anderen Menschen auch. Angriffen auf diese Rechte treten wir entschieden entgegen. Als Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen wir uns für eine inklusive Gesellschaft ein, in der die Würde eines jeden Menschen im Rahmen eines solidarischen Miteinanders geschützt wird - in und außerhalb der Pandemie.
Nicht akzeptieren können wir, dass bei Menschen, bei denen individuell sowohl die Aussicht auf Überleben als auch auf Heilung besteht, die Behandlung abgebrochen wird, weil ein Mensch mit vermeintlich besseren Heilungschancen aufgenommen wird. Genauso wenig akzeptieren können wir, dass zusätzliche Auswahlkriterien angelegt werden wie beispielsweise das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten (zusätzlicher Erkrankungen) sowie die vermutete verbleibende Lebenserwartung oder -qualität.“
Wir, die BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, wenden uns deshalb mit diesem Aufruf an alle GRÜNEN Verantwortungsträger*innen in der Partei und in den Parlamenten:
Bitte lasst nicht zu, dass das in den DIVI-Empfehlungen zum Ausdruck kommende Bild von Menschen mit Behinderungen, von alten und von Menschen mit Vorerkrankungen unwidersprochen bleibt. Es darf hier kein Präzedenzfall dafür geschaffen werden, dass trotz anderslautender Beteuerungen Menschenwürde, Menschenrechte und der unbedingte Schutzanspruch menschlichen Lebens nicht mehr für alle Menschen gleichermaßen gilt.
1. Triage-Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten
Wir erkennen an, dass es für Ärzt*innen und andere Angehörige medizinischer Berufe eine enorme psychische und persönliche Herausforderung ist, bei nicht ausreichend zur Verfügung stehenden Ressourcen eine Entscheidung darüber zu treffen, wer behandelt wird und wer nicht. Wir können den Wunsch nach übergeordneten Richtlinien verstehen, die der jeweils entscheidenden Person einen Teil der Verantwortung und der damit verbundenen Last abnehmen. Dennoch können wir nicht hinnehmen, welche Auswahlkriterien in diesen Empfehlungen eingeführt werden. Sie betreffen uns, im Zweifelsfall unsere physische Existenz.
Unter den Mitgliedern der BAG Behindertenpolitik gibt es beispielsweise Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen – Vorerkrankungen, die explizit in den DIVI-Empfehlungen als Negativ-Score aufgelistet werden. Darunter zählt man Erkrankungen wie MS, spinale Muskelatrophie oder auch ALS, eine schwere Erkrankung, mit der der weltberühmte Astrophysiker Stephen Hawking 76 Jahre alt wurde. Wir, die wir mit solchen Grunderkrankungen leben, möchten euch stellvertretend für viele Menschen mit anderen Erkrankungen an unserem Beispiel illustrieren, was die DIVI-Empfehlungen für uns bedeuten.
Vielen von uns wurde zu Beginn unseres Lebens ein Versterben bereits im Kindesalter prognostiziert. Viele von uns sind aber mittlerweile in ihren Vierzigern oder älter. Wir sind Menschen, die mitten im Leben stehen, arbeiten, Familie haben, politische oder andere Ehrenämter ausüben. Unsere Lebensqualität orientiert sich aus unserer Sicht nicht an mehr oder weniger vollständiger Gesundheit oder Selbstständigkeit, sondern daran, ob wir unseren Bedarfen entsprechend mit technischen Hilfsmitteln und persönlicher Assistenz ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit der notwendigen medizinischen Versorgung im Krankheitsfall haben viele Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen eine Lebenserwartung wie andere Menschen auch, jeweils abhängig davon, wie ihr allgemeiner Gesundheitszustand und nicht zuletzt auch ihr Lebenswille ist.
Es ist für uns kaum zu ertragen, dass man uns grundsätzlich eine geringere Aussicht auf Genesung im Rahmen unserer individuellen Normalität unterstellt. Von einer Gesellschaft, die die Würde des Menschen und deren Schutz nicht an bestimmten Vorgaben festmacht, sondern am Menschsein selbst, erwarten wir den gleichen Schutz und die gleiche medizinische Versorgung, die anderen Menschen zugebilligt wird. Bei gleicher Überlebenschance und gleicher Aussicht auf Wiederherstellung des Gesundheitszustands, wie er vor einer Covid-19-Erkrankung bestand, muss grundsätzlich auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen. Allein das Vorliegen einer Behinderung oder Vorerkrankung darf kein Ausschlusskriterium für Beatmung oder intensivmedizinische Behandlung sein. Triage- Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten.
2. Ein fatales Signal an Menschen mit Behinderung…
Vielen von uns stellt sich beim Lesen der Ethik-Empfehlungen die Frage, wie es denn tatsächlich bestellt ist um unsere gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben jahre- und jahrzehntelang gekämpft gegen jede Art von Diskriminierung und Benachteiligung, für Nachteilsausgleiche und die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens, für gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für Menschenrechte wie den umfassenden Zugang zu Bildung und für die Aufhebung des Ausschlusses vom Wahlrecht. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland dachten wir, unserer gesellschaftlichen Gleichstellung so nahe zu sein wie nie zuvor. In den Jahren danach hat uns die Gesetzgebung, insbesondere die Verabschiedung des BTHG, teilweise enttäuscht. Dennoch haben viele von uns nie daran gezweifelt, dass gerade auf dem Erfahrungshintergrund der entsetzlichen Ideologie des NS-Regimes nicht mehr an unserem Lebensrecht und unserer grundsätzlichen Gleichwertigkeit gezweifelt wird.
Nun scheint dies nicht mehr zu gelten.
Manche von uns sehen in den Ethik-Empfehlungen ein Signal an uns Menschen mit Behinderungen, dass wir nur in guten Zeiten die gleichen Bürger- und Menschenrechte genießen wie andere Menschen auch. Ist es tatsächlich so, dass wir dann, wenn es hart auf hart kommt, wieder grundsätzlich um unser Leben und unsere Gesundheit bangen müssen? Kann es sein, dass wir diese Frage im Jahr 2020 erneut stellen müssen?
3. … und an die Gesellschaft
Doch es geht nicht allein um uns. Wir sehen, dass plötzlich das Bild einer Gesellschaft am Horizont erscheint, in der nicht mehr alle Menschen mit der gleichen Würde und den gleichen Menschenrechten ausgestattet sind. Unser Grundgesetz kennt eine solche Unterscheidung nicht. Auch die Gesetze in unserem Land gelten grundsätzlich für alle Menschen gleichermaßen. Wenn Leben und Gesundheit die höchsten Güter sind, die vom Staat geschützt werden müssen, ist es inakzeptabel, dass dies im Kielwasser der Ethik- Empfehlungen nicht mehr für alle Menschen gilt, zumindest nicht für die, die mit bestimmten anderen Erkrankungen oder Behinderungen leben.
Wenn vom Grundsatz her unveräußerliche Rechte manchen Personengruppen per se abgesprochen werden, so zerstört dies unser gesellschaftliches Selbstverständnis als Rechtsstaat und als solidarisches Gemeinwesen. Wir können dazu nicht schweigen. Wir GRÜNE verstehen uns als liberale, demokratische Partei, für die Menschen- und Bürgerrechte zu den Grunderrungenschaften unserer Gesellschaft gehören. Wir möchten, dass deshalb das Bekenntnis zu Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen und die klare Abgrenzung von allen Strömungen, die dem widersprechen, auch Eingang in unser neues Grundsatzprogramm finden. Die aktuelle Debatte liefert dafür ausreichend Anlass und Dringlichkeit.
Liebe Parteifreund*innen, bitte greift unseren Appell auf: Lassen wir nicht zu, dass auf dem Hintergrund einer möglicherweise anstehenden Extremsituation Weichen gestellt werden, die noch weit über die Coronakrise hinaus unser gesellschaftliches Zusammenleben, den Grundkonsens von gleichen Rechten und gleicher Würde, wie er im Grundgesetz ausformuliert ist, infrage stellt und aushebelt. Werdet bitte mit uns gemeinsam laut als mahnende Stimme und als Kämpfer*innen für den gleichen Wert und die gleiche Würde jedes Menschen, egal ob er mit einer Behinderung lebt oder ohne, ob er gesund ist oder krank, ob er jung ist oder alt. Die Triage-Regeln müssen grundsätzlich für alle gelten und sich einzig und allein an ihrer individuellen Situation orientieren. Der Ausschluss ganzer Personengruppen entspricht weder unserem Rechtsverständnis noch unserem gesellschaftlichen Grundkonsens.
In diesem Sinne bitten wir euch, alles daran zu setzen, dass die Ethik-Empfehlungen der DIVI und ihre Billigung durch den Deutschen Ethikrat in den angesprochenen kritischen Teilen zurückgenommen werden."
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Als Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen wir uns für eine inklusive Gesellschaft ein, in der die Würde eines jeden Menschen im Rahmen eines solidarischen Miteinanders geschützt wird - in und außerhalb der Pandemie. Die Menschenwürde und der Gleichheitsgrundsatz, wie sie das Grundgesetz garantieren, gelten für alle Menschen gleichermaßen. In der Corona-Krise geraten diese Werte, wenn über die Isolation von älteren Menschen gesprochen wird oder Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, zunehmend unter Druck. Das macht vielen Menschen Angst, gerade jenen, die auch an anderen Stellen schon Erfahrungen mit Diskriminierungen und Ausschlüssen machen. Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen haben den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer Grundrechte, insbesondere ihres Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie alle anderen Menschen auch. Angriffen auf diese Rechte treten wir entschieden entgegen.
Im Rahmen der Corona-Krise hat sich auch in Deutschland eine Debatte um Entscheidungsempfehlungen im Bereich der Triage, also Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patient*innen und objektiv unzureichenden Ressourcen, entwickelt. Es muss alles getan werden, um solche Triage-Situationen bei den intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten zu vermeiden. Aktuelle Empfehlungen wurden unter anderem vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) kritisiert.
Gerade da die Frage der Triage grundgesetzliche Garantien in starkem Maße berührt, finden wir es wichtig, eine politische Debatte über Triage-Richtlinien entlang unserer Grundwerte und unseres Bilds einer inklusiven Gesellschaft zu führen. Wir als Partei werden hier keine direkte Maßnahmen oder den konkreten Weg festlegen können. Der Länderrat begrüßt deshalb, dass die Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich dafür einsetzen wird, dass sich die zuständigen Ausschüsse des Bundestags mittels öffentlicher Anhörung von Expert*innen, zu denen ausdrücklich auch Vertreter*innen der Menschen mit Behinderung und älterer Menschen gehören müssen, mit dem Thema Triage-Richtlinien befassen. Dieser Prozess wird von der Partei, insbesondere der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik politisch begleitet.
Dabei gilt für uns grundsätzlich: Die Verfassung mit ihren Grundwerten der Menschenwürde, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, des Gleichheitsgebots und ihrer Diskriminierungsverbote sowie staatlichen Gewährleistungs- und Schutzpflichten gilt uneingeschränkt auch in der Pandemie. Entscheidungsempfehlungen zur Triage müssen diskriminierungsfrei und grundgesetzkonform ausgestaltet werden. Die strukturelle Benachteiligung oder den generellen Ausschluss von Personengruppen beispielsweise aufgrund von Alter oder Behinderung lehnen wir ab. Eine solche Benachteiligung liefe auch Gefahr, zur Grundlage für weitere Diskriminierungen nach der Corona-Pandemie zu werden.
"Am 23. März haben mehrere deutsche medizinische Fachgesellschaften, vereint unter dem Dach der DIVI, sogenannte „Ethik-Empfehlungen“ für den Fall veröffentlicht, dass im Rahmen der Covid-19-Pandemie nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Behandlungsplätze mit Zugang zu einem Beatmungsgerät zur Verfügung stehen. In diesen Empfehlungen wird in abgestufter Form dargestellt, nach welchen Kriterien Ärzt*innen die schwierige Auswahl (Triage) treffen könnten, wer die überlebenswichtige Behandlung bekommen soll. Wenige Tage später hat der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Erklärung die Empfehlungen der DIVI bekräftigt.
Wir alle setzen in diesen Wochen alles daran, dass unser Gesundheitssystem gar nicht erst in diese Situation kommt. Wir bleiben so weit wie möglich zu Hause, halten Abstand, achten auf unsere Hygiene und benutzen Handschuhe und Masken. Wir haben weiterhin die Hoffnung, dass es in Deutschland keine gleichermaßen dramatischen Entwicklungen wie in Italien oder Spanien geben wird.
Für uns ist nachvollziehbar, dass im Falle einer nicht vermeidbaren Auswahlentscheidung dafür Kriterien gelten müssen. Diese müssen sich aber an dem Verfassungsgrundsatz orientieren, dass man kein Leben gegen ein anderes abwägen darf. Danach darf nur berücksichtigt werden, wer zuerst in die Behandlung kommt, wer die Behandlung am dringlichsten braucht und wer zufällig als behandlungsbedürftige*r Patient*in aufgenommen wurde.
Nicht akzeptieren können wir, dass bei Menschen, bei denen individuell sowohl die Aussicht auf Überleben als auch auf Heilung besteht, die Behandlung abgebrochen wird, weil ein Mensch mit vermeintlich besseren Heilungschancen aufgenommen wird. Genauso wenig akzeptieren können wir, dass zusätzliche Auswahlkriterien angelegt werden wie beispielsweise das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten (zusätzlicher Erkrankungen) sowie die vermutete verbleibende Lebenserwartung oder -qualität.“
Wir, die BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, wenden uns deshalb mit diesem Aufruf an alle GRÜNEN Verantwortungsträger*innen in der Partei und in den Parlamenten:
Bitte lasst nicht zu, dass das in den DIVI-Empfehlungen zum Ausdruck kommende Bild von Menschen mit Behinderungen, von alten und von Menschen mit Vorerkrankungen unwidersprochen bleibt. Es darf hier kein Präzedenzfall dafür geschaffen werden, dass trotz anderslautender Beteuerungen Menschenwürde, Menschenrechte und der unbedingte Schutzanspruch menschlichen Lebens nicht mehr für alle Menschen gleichermaßen gilt.
1. Triage-Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten
Wir erkennen an, dass es für Ärzt*innen und andere Angehörige medizinischer Berufe eine enorme psychische und persönliche Herausforderung ist, bei nicht ausreichend zur Verfügung stehenden Ressourcen eine Entscheidung darüber zu treffen, wer behandelt wird und wer nicht. Wir können den Wunsch nach übergeordneten Richtlinien verstehen, die der jeweils entscheidenden Person einen Teil der Verantwortung und der damit verbundenen Last abnehmen. Dennoch können wir nicht hinnehmen, welche Auswahlkriterien in diesen Empfehlungen eingeführt werden. Sie betreffen uns, im Zweifelsfall unsere physische Existenz.
Unter den Mitgliedern der BAG Behindertenpolitik gibt es beispielsweise Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen – Vorerkrankungen, die explizit in den DIVI-Empfehlungen als Negativ-Score aufgelistet werden. Darunter zählt man Erkrankungen wie MS, spinale Muskelatrophie oder auch ALS, eine schwere Erkrankung, mit der der weltberühmte Astrophysiker Stephen Hawking 76 Jahre alt wurde. Wir, die wir mit solchen Grunderkrankungen leben, möchten euch stellvertretend für viele Menschen mit anderen Erkrankungen an unserem Beispiel illustrieren, was die DIVI-Empfehlungen für uns bedeuten.
Vielen von uns wurde zu Beginn unseres Lebens ein Versterben bereits im Kindesalter prognostiziert. Viele von uns sind aber mittlerweile in ihren Vierzigern oder älter. Wir sind Menschen, die mitten im Leben stehen, arbeiten, Familie haben, politische oder andere Ehrenämter ausüben. Unsere Lebensqualität orientiert sich aus unserer Sicht nicht an mehr oder weniger vollständiger Gesundheit oder Selbstständigkeit, sondern daran, ob wir unseren Bedarfen entsprechend mit technischen Hilfsmitteln und persönlicher Assistenz ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit der notwendigen medizinischen Versorgung im Krankheitsfall haben viele Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen eine Lebenserwartung wie andere Menschen auch, jeweils abhängig davon, wie ihr allgemeiner Gesundheitszustand und nicht zuletzt auch ihr Lebenswille ist.
Es ist für uns kaum zu ertragen, dass man uns grundsätzlich eine geringere Aussicht auf Genesung im Rahmen unserer individuellen Normalität unterstellt. Von einer Gesellschaft, die die Würde des Menschen und deren Schutz nicht an bestimmten Vorgaben festmacht, sondern am Menschsein selbst, erwarten wir den gleichen Schutz und die gleiche medizinische Versorgung, die anderen Menschen zugebilligt wird. Bei gleicher Überlebenschance und gleicher Aussicht auf Wiederherstellung des Gesundheitszustands, wie er vor einer Covid-19-Erkrankung bestand, muss grundsätzlich auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen. Allein das Vorliegen einer Behinderung oder Vorerkrankung darf kein Ausschlusskriterium für Beatmung oder intensivmedizinische Behandlung sein. Triage- Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten.
2. Ein fatales Signal an Menschen mit Behinderung…
Vielen von uns stellt sich beim Lesen der Ethik-Empfehlungen die Frage, wie es denn tatsächlich bestellt ist um unsere gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben jahre- und jahrzehntelang gekämpft gegen jede Art von Diskriminierung und Benachteiligung, für Nachteilsausgleiche und die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens, für gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für Menschenrechte wie den umfassenden Zugang zu Bildung und für die Aufhebung des Ausschlusses vom Wahlrecht. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland dachten wir, unserer gesellschaftlichen Gleichstellung so nahe zu sein wie nie zuvor. In den Jahren danach hat uns die Gesetzgebung, insbesondere die Verabschiedung des BTHG, teilweise enttäuscht. Dennoch haben viele von uns nie daran gezweifelt, dass gerade auf dem Erfahrungshintergrund der entsetzlichen Ideologie des NS-Regimes nicht mehr an unserem Lebensrecht und unserer grundsätzlichen Gleichwertigkeit gezweifelt wird.
Nun scheint dies nicht mehr zu gelten.
Manche von uns sehen in den Ethik-Empfehlungen ein Signal an uns Menschen mit Behinderungen, dass wir nur in guten Zeiten die gleichen Bürger- und Menschenrechte genießen wie andere Menschen auch. Ist es tatsächlich so, dass wir dann, wenn es hart auf hart kommt, wieder grundsätzlich um unser Leben und unsere Gesundheit bangen müssen? Kann es sein, dass wir diese Frage im Jahr 2020 erneut stellen müssen?
3. … und an die Gesellschaft
Doch es geht nicht allein um uns. Wir sehen, dass plötzlich das Bild einer Gesellschaft am Horizont erscheint, in der nicht mehr alle Menschen mit der gleichen Würde und den gleichen Menschenrechten ausgestattet sind. Unser Grundgesetz kennt eine solche Unterscheidung nicht. Auch die Gesetze in unserem Land gelten grundsätzlich für alle Menschen gleichermaßen. Wenn Leben und Gesundheit die höchsten Güter sind, die vom Staat geschützt werden müssen, ist es inakzeptabel, dass dies im Kielwasser der Ethik- Empfehlungen nicht mehr für alle Menschen gilt, zumindest nicht für die, die mit bestimmten anderen Erkrankungen oder Behinderungen leben.
Wenn vom Grundsatz her unveräußerliche Rechte manchen Personengruppen per se abgesprochen werden, so zerstört dies unser gesellschaftliches Selbstverständnis als Rechtsstaat und als solidarisches Gemeinwesen. Wir können dazu nicht schweigen. Wir GRÜNE verstehen uns als liberale, demokratische Partei, für die Menschen- und Bürgerrechte zu den Grunderrungenschaften unserer Gesellschaft gehören. Wir möchten, dass deshalb das Bekenntnis zu Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen und die klare Abgrenzung von allen Strömungen, die dem widersprechen, auch Eingang in unser neues Grundsatzprogramm finden. Die aktuelle Debatte liefert dafür ausreichend Anlass und Dringlichkeit.
Liebe Parteifreund*innen, bitte greift unseren Appell auf: Lassen wir nicht zu, dass auf dem Hintergrund einer möglicherweise anstehenden Extremsituation Weichen gestellt werden, die noch weit über die Coronakrise hinaus unser gesellschaftliches Zusammenleben, den Grundkonsens von gleichen Rechten und gleicher Würde, wie er im Grundgesetz ausformuliert ist, infrage stellt und aushebelt. Werdet bitte mit uns gemeinsam laut als mahnende Stimme und als Kämpfer*innen für den gleichen Wert und die gleiche Würde jedes Menschen, egal ob er mit einer Behinderung lebt oder ohne, ob er gesund ist oder krank, ob er jung ist oder alt. Die Triage-Regeln müssen grundsätzlich für alle gelten und sich einzig und allein an ihrer individuellen Situation orientieren. Der Ausschluss ganzer Personengruppen entspricht weder unserem Rechtsverständnis noch unserem gesellschaftlichen Grundkonsens.
In diesem Sinne bitten wir euch, alles daran zu setzen, dass die Ethik-Empfehlungen der DIVI und ihre Billigung durch den Deutschen Ethikrat in den angesprochenen kritischen Teilen zurückgenommen werden."
Antragstext
Von Zeile 1 bis 136:
Als Länderrat solidarisieren wir uns mit der folgenden Stellungnahme der BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen zu den Ethik-Empfehlungen im Rahmen von Covid-19:
Im Rahmen der Corona-Krise hat sich auch in Deutschland eine Debatte um Entscheidungsempfehlungen im Bereich der Triage, also Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patient*innen und objektiv unzureichenden Ressourcen, entwickelt. Es muss alles getan werden, um solche Triage-Situationen bei den intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten zu vermeiden. Anders als im Rettungsdienst und Katastrophenschutz gibt es für die beschriebene klinische Situation keine Triage-Richtlinien. Aktuelle Empfehlungen wurden unter anderem von dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen kritisiert.
"Am 23. März haben mehrere deutsche medizinische Fachgesellschaften, vereint unter dem Dach der DIVI, sogenannte „Ethik-Empfehlungen“ für den Fall veröffentlicht, dass im Rahmen der Covid-19-Pandemie nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Behandlungsplätze mit Zugang zu einem Beatmungsgerät zur Verfügung stehen. In diesen Empfehlungen wird in abgestufter Form dargestellt, nach welchen Kriterien Ärzt*innen die schwierige Auswahl (Triage) treffen könnten, wer die überlebenswichtige Behandlung bekommen soll. Wenige Tage später hat der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Erklärung die Empfehlungen der DIVI bekräftigt.
Wir finden es wichtig, eine politische Debatte über Triage-Richtlinien entlang unserer Grundwerte und unseres Bilds einer inklusiven Gesellschaft zu ermöglichen. Wir als Partei werden hier keine direkten Maßnahmen oder den konkreten Weg festlegen können. Der Länderrat begrüßt deshalb, dass die Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich dafür einsetzen wird, dass sich die zuständigen Ausschüsse des Bundestags mittels öffentlicher Anhörung von Expert*innen, zu denen ausdrücklich auch Vertreter*innen der Menschen mit Behinderung, älterer Menschen und Migrant*innen gehören müssen, mit dem Thema Triage-Richtlinien befassen. Dieser Prozess wird von der Partei, insbesondere unter Einbeziehung der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik, politisch begleitet.
Wir alle setzen in diesen Wochen alles daran, dass unser Gesundheitssystem gar nicht erst in diese Situation kommt. Wir bleiben so weit wie möglich zu Hause, halten Abstand, achten auf unsere Hygiene und benutzen Handschuhe und Masken. Wir haben weiterhin die Hoffnung, dass es in Deutschland keine gleichermaßen dramatischen Entwicklungen wie in Italien oder Spanien geben wird.
Dabei gilt für uns grundsätzlich: Die Verfassung mit ihren Grundwerten der Menschenwürde, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, des Gleichheitsgebots und ihrer Diskriminierungsverbote sowie staatlichen Gewährleistungs- und Schutzpflichten gilt uneingeschränkt auch in der Pandemie. Entscheidungsempfehlungen zur Triage müssen diskriminierungsfrei und grundgesetzkonform ausgestaltet werden. Die strukturelle Benachteiligung oder den generellen Ausschluss von Personengruppen beispielsweise aufgrund von Alter oder Behinderung lehnen wir ab. Eine solche Benachteiligung liefe auch Gefahr, zur Grundlage für weitere Diskriminierungen nach der Corona-Pandemie zu werden.
Für uns ist nachvollziehbar, dass im Falle einer nicht vermeidbaren Auswahlentscheidung dafür Kriterien gelten müssen. Diese müssen sich aber an dem Verfassungsgrundsatz orientieren, dass man kein Leben gegen ein anderes abwägen darf. Danach darf nur berücksichtigt werden, wer zuerst in die Behandlung kommt, wer die Behandlung am dringlichsten braucht und wer zufällig als behandlungsbedürftige*r Patient*in aufgenommen wurde.
Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen haben den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer Grundrechte, insbesondere ihres Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie alle anderen Menschen auch. Angriffen auf diese Rechte treten wir entschieden entgegen. Als Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen wir uns für eine inklusive Gesellschaft ein, in der die Würde eines jeden Menschen im Rahmen eines solidarischen Miteinanders geschützt wird - in und außerhalb der Pandemie.
Nicht akzeptieren können wir, dass bei Menschen, bei denen individuell sowohl die Aussicht auf Überleben als auch auf Heilung besteht, die Behandlung abgebrochen wird, weil ein Mensch mit vermeintlich besseren Heilungschancen aufgenommen wird. Genauso wenig akzeptieren können wir, dass zusätzliche Auswahlkriterien angelegt werden wie beispielsweise das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten (zusätzlicher Erkrankungen) sowie die vermutete verbleibende Lebenserwartung oder -qualität.“
Wir, die BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, wenden uns deshalb mit diesem Aufruf an alle GRÜNEN Verantwortungsträger*innen in der Partei und in den Parlamenten:
Bitte lasst nicht zu, dass das in den DIVI-Empfehlungen zum Ausdruck kommende Bild von Menschen mit Behinderungen, von alten und von Menschen mit Vorerkrankungen unwidersprochen bleibt. Es darf hier kein Präzedenzfall dafür geschaffen werden, dass trotz anderslautender Beteuerungen Menschenwürde, Menschenrechte und der unbedingte Schutzanspruch menschlichen Lebens nicht mehr für alle Menschen gleichermaßen gilt.
1. Triage-Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten
Wir erkennen an, dass es für Ärzt*innen und andere Angehörige medizinischer Berufe eine enorme psychische und persönliche Herausforderung ist, bei nicht ausreichend zur Verfügung stehenden Ressourcen eine Entscheidung darüber zu treffen, wer behandelt wird und wer nicht. Wir können den Wunsch nach übergeordneten Richtlinien verstehen, die der jeweils entscheidenden Person einen Teil der Verantwortung und der damit verbundenen Last abnehmen. Dennoch können wir nicht hinnehmen, welche Auswahlkriterien in diesen Empfehlungen eingeführt werden. Sie betreffen uns, im Zweifelsfall unsere physische Existenz.
Unter den Mitgliedern der BAG Behindertenpolitik gibt es beispielsweise Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen – Vorerkrankungen, die explizit in den DIVI-Empfehlungen als Negativ-Score aufgelistet werden. Darunter zählt man Erkrankungen wie MS, spinale Muskelatrophie oder auch ALS, eine schwere Erkrankung, mit der der weltberühmte Astrophysiker Stephen Hawking 76 Jahre alt wurde. Wir, die wir mit solchen Grunderkrankungen leben, möchten euch stellvertretend für viele Menschen mit anderen Erkrankungen an unserem Beispiel illustrieren, was die DIVI-Empfehlungen für uns bedeuten.
Vielen von uns wurde zu Beginn unseres Lebens ein Versterben bereits im Kindesalter prognostiziert. Viele von uns sind aber mittlerweile in ihren Vierzigern oder älter. Wir sind Menschen, die mitten im Leben stehen, arbeiten, Familie haben, politische oder andere Ehrenämter ausüben. Unsere Lebensqualität orientiert sich aus unserer Sicht nicht an mehr oder weniger vollständiger Gesundheit oder Selbstständigkeit, sondern daran, ob wir unseren Bedarfen entsprechend mit technischen Hilfsmitteln und persönlicher Assistenz ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit der notwendigen medizinischen Versorgung im Krankheitsfall haben viele Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen eine Lebenserwartung wie andere Menschen auch, jeweils abhängig davon, wie ihr allgemeiner Gesundheitszustand und nicht zuletzt auch ihr Lebenswille ist.
Es ist für uns kaum zu ertragen, dass man uns grundsätzlich eine geringere Aussicht auf Genesung im Rahmen unserer individuellen Normalität unterstellt. Von einer Gesellschaft, die die Würde des Menschen und deren Schutz nicht an bestimmten Vorgaben festmacht, sondern am Menschsein selbst, erwarten wir den gleichen Schutz und die gleiche medizinische Versorgung, die anderen Menschen zugebilligt wird. Bei gleicher Überlebenschance und gleicher Aussicht auf Wiederherstellung des Gesundheitszustands, wie er vor einer Covid-19-Erkrankung bestand, muss grundsätzlich auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen. Allein das Vorliegen einer Behinderung oder Vorerkrankung darf kein Ausschlusskriterium für Beatmung oder intensivmedizinische Behandlung sein. Triage- Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten.
2. Ein fatales Signal an Menschen mit Behinderung…
Vielen von uns stellt sich beim Lesen der Ethik-Empfehlungen die Frage, wie es denn tatsächlich bestellt ist um unsere gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben jahre- und jahrzehntelang gekämpft gegen jede Art von Diskriminierung und Benachteiligung, für Nachteilsausgleiche und die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens, für gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für Menschenrechte wie den umfassenden Zugang zu Bildung und für die Aufhebung des Ausschlusses vom Wahlrecht. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland dachten wir, unserer gesellschaftlichen Gleichstellung so nahe zu sein wie nie zuvor. In den Jahren danach hat uns die Gesetzgebung, insbesondere die Verabschiedung des BTHG, teilweise enttäuscht. Dennoch haben viele von uns nie daran gezweifelt, dass gerade auf dem Erfahrungshintergrund der entsetzlichen Ideologie des NS-Regimes nicht mehr an unserem Lebensrecht und unserer grundsätzlichen Gleichwertigkeit gezweifelt wird.
Nun scheint dies nicht mehr zu gelten.
Manche von uns sehen in den Ethik-Empfehlungen ein Signal an uns Menschen mit Behinderungen, dass wir nur in guten Zeiten die gleichen Bürger- und Menschenrechte genießen wie andere Menschen auch. Ist es tatsächlich so, dass wir dann, wenn es hart auf hart kommt, wieder grundsätzlich um unser Leben und unsere Gesundheit bangen müssen? Kann es sein, dass wir diese Frage im Jahr 2020 erneut stellen müssen?
3. … und an die Gesellschaft
Doch es geht nicht allein um uns. Wir sehen, dass plötzlich das Bild einer Gesellschaft am Horizont erscheint, in der nicht mehr alle Menschen mit der gleichen Würde und den gleichen Menschenrechten ausgestattet sind. Unser Grundgesetz kennt eine solche Unterscheidung nicht. Auch die Gesetze in unserem Land gelten grundsätzlich für alle Menschen gleichermaßen. Wenn Leben und Gesundheit die höchsten Güter sind, die vom Staat geschützt werden müssen, ist es inakzeptabel, dass dies im Kielwasser der Ethik- Empfehlungen nicht mehr für alle Menschen gilt, zumindest nicht für die, die mit bestimmten anderen Erkrankungen oder Behinderungen leben.
Wenn vom Grundsatz her unveräußerliche Rechte manchen Personengruppen per se abgesprochen werden, so zerstört dies unser gesellschaftliches Selbstverständnis als Rechtsstaat und als solidarisches Gemeinwesen. Wir können dazu nicht schweigen. Wir GRÜNE verstehen uns als liberale, demokratische Partei, für die Menschen- und Bürgerrechte zu den Grunderrungenschaften unserer Gesellschaft gehören. Wir möchten, dass deshalb das Bekenntnis zu Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen und die klare Abgrenzung von allen Strömungen, die dem widersprechen, auch Eingang in unser neues Grundsatzprogramm finden. Die aktuelle Debatte liefert dafür ausreichend Anlass und Dringlichkeit.
Liebe Parteifreund*innen, bitte greift unseren Appell auf: Lassen wir nicht zu, dass auf dem Hintergrund einer möglicherweise anstehenden Extremsituation Weichen gestellt werden, die noch weit über die Coronakrise hinaus unser gesellschaftliches Zusammenleben, den Grundkonsens von gleichen Rechten und gleicher Würde, wie er im Grundgesetz ausformuliert ist, infrage stellt und aushebelt. Werdet bitte mit uns gemeinsam laut als mahnende Stimme und als Kämpfer*innen für den gleichen Wert und die gleiche Würde jedes Menschen, egal ob er mit einer Behinderung lebt oder ohne, ob er gesund ist oder krank, ob er jung ist oder alt. Die Triage-Regeln müssen grundsätzlich für alle gelten und sich einzig und allein an ihrer individuellen Situation orientieren. Der Ausschluss ganzer Personengruppen entspricht weder unserem Rechtsverständnis noch unserem gesellschaftlichen Grundkonsens.
In diesem Sinne bitten wir euch, alles daran zu setzen, dass die Ethik-Empfehlungen der DIVI und ihre Billigung durch den Deutschen Ethikrat in den angesprochenen kritischen Teilen zurückgenommen werden."
weitere Antragsteller*innen
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Als Länderrat solidarisieren wir uns mit der folgenden Stellungnahme der BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen zu den Ethik-Empfehlungen im Rahmen von Covid-19:
Im Rahmen der Corona-Krise hat sich auch in Deutschland eine Debatte um Entscheidungsempfehlungen im Bereich der Triage, also Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patient*innen und objektiv unzureichenden Ressourcen, entwickelt. Es muss alles getan werden, um solche Triage-Situationen bei den intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten zu vermeiden. Anders als im Rettungsdienst und Katastrophenschutz gibt es für die beschriebene klinische Situation keine Triage-Richtlinien. Aktuelle Empfehlungen wurden unter anderem von dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen kritisiert.
"Am 23. März haben mehrere deutsche medizinische Fachgesellschaften, vereint unter dem Dach der DIVI, sogenannte „Ethik-Empfehlungen“ für den Fall veröffentlicht, dass im Rahmen der Covid-19-Pandemie nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Behandlungsplätze mit Zugang zu einem Beatmungsgerät zur Verfügung stehen. In diesen Empfehlungen wird in abgestufter Form dargestellt, nach welchen Kriterien Ärzt*innen die schwierige Auswahl (Triage) treffen könnten, wer die überlebenswichtige Behandlung bekommen soll. Wenige Tage später hat der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Erklärung die Empfehlungen der DIVI bekräftigt.
Wir finden es wichtig, eine politische Debatte über Triage-Richtlinien entlang unserer Grundwerte und unseres Bilds einer inklusiven Gesellschaft zu ermöglichen. Wir als Partei werden hier keine direkten Maßnahmen oder den konkreten Weg festlegen können. Der Länderrat begrüßt deshalb, dass die Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich dafür einsetzen wird, dass sich die zuständigen Ausschüsse des Bundestags mittels öffentlicher Anhörung von Expert*innen, zu denen ausdrücklich auch Vertreter*innen der Menschen mit Behinderung, älterer Menschen und Migrant*innen gehören müssen, mit dem Thema Triage-Richtlinien befassen. Dieser Prozess wird von der Partei, insbesondere unter Einbeziehung der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik, politisch begleitet.
Wir alle setzen in diesen Wochen alles daran, dass unser Gesundheitssystem gar nicht erst in diese Situation kommt. Wir bleiben so weit wie möglich zu Hause, halten Abstand, achten auf unsere Hygiene und benutzen Handschuhe und Masken. Wir haben weiterhin die Hoffnung, dass es in Deutschland keine gleichermaßen dramatischen Entwicklungen wie in Italien oder Spanien geben wird.
Dabei gilt für uns grundsätzlich: Die Verfassung mit ihren Grundwerten der Menschenwürde, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, des Gleichheitsgebots und ihrer Diskriminierungsverbote sowie staatlichen Gewährleistungs- und Schutzpflichten gilt uneingeschränkt auch in der Pandemie. Entscheidungsempfehlungen zur Triage müssen diskriminierungsfrei und grundgesetzkonform ausgestaltet werden. Die strukturelle Benachteiligung oder den generellen Ausschluss von Personengruppen beispielsweise aufgrund von Alter oder Behinderung lehnen wir ab. Eine solche Benachteiligung liefe auch Gefahr, zur Grundlage für weitere Diskriminierungen nach der Corona-Pandemie zu werden.
Für uns ist nachvollziehbar, dass im Falle einer nicht vermeidbaren Auswahlentscheidung dafür Kriterien gelten müssen. Diese müssen sich aber an dem Verfassungsgrundsatz orientieren, dass man kein Leben gegen ein anderes abwägen darf. Danach darf nur berücksichtigt werden, wer zuerst in die Behandlung kommt, wer die Behandlung am dringlichsten braucht und wer zufällig als behandlungsbedürftige*r Patient*in aufgenommen wurde.
Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen haben den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer Grundrechte, insbesondere ihres Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie alle anderen Menschen auch. Angriffen auf diese Rechte treten wir entschieden entgegen. Als Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzen wir uns für eine inklusive Gesellschaft ein, in der die Würde eines jeden Menschen im Rahmen eines solidarischen Miteinanders geschützt wird - in und außerhalb der Pandemie.
Nicht akzeptieren können wir, dass bei Menschen, bei denen individuell sowohl die Aussicht auf Überleben als auch auf Heilung besteht, die Behandlung abgebrochen wird, weil ein Mensch mit vermeintlich besseren Heilungschancen aufgenommen wird. Genauso wenig akzeptieren können wir, dass zusätzliche Auswahlkriterien angelegt werden wie beispielsweise das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten (zusätzlicher Erkrankungen) sowie die vermutete verbleibende Lebenserwartung oder -qualität.“
Wir, die BAG Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, wenden uns deshalb mit diesem Aufruf an alle GRÜNEN Verantwortungsträger*innen in der Partei und in den Parlamenten:
Bitte lasst nicht zu, dass das in den DIVI-Empfehlungen zum Ausdruck kommende Bild von Menschen mit Behinderungen, von alten und von Menschen mit Vorerkrankungen unwidersprochen bleibt. Es darf hier kein Präzedenzfall dafür geschaffen werden, dass trotz anderslautender Beteuerungen Menschenwürde, Menschenrechte und der unbedingte Schutzanspruch menschlichen Lebens nicht mehr für alle Menschen gleichermaßen gilt.
1. Triage-Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten
Wir erkennen an, dass es für Ärzt*innen und andere Angehörige medizinischer Berufe eine enorme psychische und persönliche Herausforderung ist, bei nicht ausreichend zur Verfügung stehenden Ressourcen eine Entscheidung darüber zu treffen, wer behandelt wird und wer nicht. Wir können den Wunsch nach übergeordneten Richtlinien verstehen, die der jeweils entscheidenden Person einen Teil der Verantwortung und der damit verbundenen Last abnehmen. Dennoch können wir nicht hinnehmen, welche Auswahlkriterien in diesen Empfehlungen eingeführt werden. Sie betreffen uns, im Zweifelsfall unsere physische Existenz.
Unter den Mitgliedern der BAG Behindertenpolitik gibt es beispielsweise Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen – Vorerkrankungen, die explizit in den DIVI-Empfehlungen als Negativ-Score aufgelistet werden. Darunter zählt man Erkrankungen wie MS, spinale Muskelatrophie oder auch ALS, eine schwere Erkrankung, mit der der weltberühmte Astrophysiker Stephen Hawking 76 Jahre alt wurde. Wir, die wir mit solchen Grunderkrankungen leben, möchten euch stellvertretend für viele Menschen mit anderen Erkrankungen an unserem Beispiel illustrieren, was die DIVI-Empfehlungen für uns bedeuten.
Vielen von uns wurde zu Beginn unseres Lebens ein Versterben bereits im Kindesalter prognostiziert. Viele von uns sind aber mittlerweile in ihren Vierzigern oder älter. Wir sind Menschen, die mitten im Leben stehen, arbeiten, Familie haben, politische oder andere Ehrenämter ausüben. Unsere Lebensqualität orientiert sich aus unserer Sicht nicht an mehr oder weniger vollständiger Gesundheit oder Selbstständigkeit, sondern daran, ob wir unseren Bedarfen entsprechend mit technischen Hilfsmitteln und persönlicher Assistenz ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit der notwendigen medizinischen Versorgung im Krankheitsfall haben viele Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen eine Lebenserwartung wie andere Menschen auch, jeweils abhängig davon, wie ihr allgemeiner Gesundheitszustand und nicht zuletzt auch ihr Lebenswille ist.
Es ist für uns kaum zu ertragen, dass man uns grundsätzlich eine geringere Aussicht auf Genesung im Rahmen unserer individuellen Normalität unterstellt. Von einer Gesellschaft, die die Würde des Menschen und deren Schutz nicht an bestimmten Vorgaben festmacht, sondern am Menschsein selbst, erwarten wir den gleichen Schutz und die gleiche medizinische Versorgung, die anderen Menschen zugebilligt wird. Bei gleicher Überlebenschance und gleicher Aussicht auf Wiederherstellung des Gesundheitszustands, wie er vor einer Covid-19-Erkrankung bestand, muss grundsätzlich auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen. Allein das Vorliegen einer Behinderung oder Vorerkrankung darf kein Ausschlusskriterium für Beatmung oder intensivmedizinische Behandlung sein. Triage- Kriterien müssen für alle Menschen gleich gelten.
2. Ein fatales Signal an Menschen mit Behinderung…
Vielen von uns stellt sich beim Lesen der Ethik-Empfehlungen die Frage, wie es denn tatsächlich bestellt ist um unsere gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben jahre- und jahrzehntelang gekämpft gegen jede Art von Diskriminierung und Benachteiligung, für Nachteilsausgleiche und die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens, für gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für Menschenrechte wie den umfassenden Zugang zu Bildung und für die Aufhebung des Ausschlusses vom Wahlrecht. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland dachten wir, unserer gesellschaftlichen Gleichstellung so nahe zu sein wie nie zuvor. In den Jahren danach hat uns die Gesetzgebung, insbesondere die Verabschiedung des BTHG, teilweise enttäuscht. Dennoch haben viele von uns nie daran gezweifelt, dass gerade auf dem Erfahrungshintergrund der entsetzlichen Ideologie des NS-Regimes nicht mehr an unserem Lebensrecht und unserer grundsätzlichen Gleichwertigkeit gezweifelt wird.
Nun scheint dies nicht mehr zu gelten.
Manche von uns sehen in den Ethik-Empfehlungen ein Signal an uns Menschen mit Behinderungen, dass wir nur in guten Zeiten die gleichen Bürger- und Menschenrechte genießen wie andere Menschen auch. Ist es tatsächlich so, dass wir dann, wenn es hart auf hart kommt, wieder grundsätzlich um unser Leben und unsere Gesundheit bangen müssen? Kann es sein, dass wir diese Frage im Jahr 2020 erneut stellen müssen?
3. … und an die Gesellschaft
Doch es geht nicht allein um uns. Wir sehen, dass plötzlich das Bild einer Gesellschaft am Horizont erscheint, in der nicht mehr alle Menschen mit der gleichen Würde und den gleichen Menschenrechten ausgestattet sind. Unser Grundgesetz kennt eine solche Unterscheidung nicht. Auch die Gesetze in unserem Land gelten grundsätzlich für alle Menschen gleichermaßen. Wenn Leben und Gesundheit die höchsten Güter sind, die vom Staat geschützt werden müssen, ist es inakzeptabel, dass dies im Kielwasser der Ethik- Empfehlungen nicht mehr für alle Menschen gilt, zumindest nicht für die, die mit bestimmten anderen Erkrankungen oder Behinderungen leben.
Wenn vom Grundsatz her unveräußerliche Rechte manchen Personengruppen per se abgesprochen werden, so zerstört dies unser gesellschaftliches Selbstverständnis als Rechtsstaat und als solidarisches Gemeinwesen. Wir können dazu nicht schweigen. Wir GRÜNE verstehen uns als liberale, demokratische Partei, für die Menschen- und Bürgerrechte zu den Grunderrungenschaften unserer Gesellschaft gehören. Wir möchten, dass deshalb das Bekenntnis zu Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen und die klare Abgrenzung von allen Strömungen, die dem widersprechen, auch Eingang in unser neues Grundsatzprogramm finden. Die aktuelle Debatte liefert dafür ausreichend Anlass und Dringlichkeit.
Liebe Parteifreund*innen, bitte greift unseren Appell auf: Lassen wir nicht zu, dass auf dem Hintergrund einer möglicherweise anstehenden Extremsituation Weichen gestellt werden, die noch weit über die Coronakrise hinaus unser gesellschaftliches Zusammenleben, den Grundkonsens von gleichen Rechten und gleicher Würde, wie er im Grundgesetz ausformuliert ist, infrage stellt und aushebelt. Werdet bitte mit uns gemeinsam laut als mahnende Stimme und als Kämpfer*innen für den gleichen Wert und die gleiche Würde jedes Menschen, egal ob er mit einer Behinderung lebt oder ohne, ob er gesund ist oder krank, ob er jung ist oder alt. Die Triage-Regeln müssen grundsätzlich für alle gelten und sich einzig und allein an ihrer individuellen Situation orientieren. Der Ausschluss ganzer Personengruppen entspricht weder unserem Rechtsverständnis noch unserem gesellschaftlichen Grundkonsens.
In diesem Sinne bitten wir euch, alles daran zu setzen, dass die Ethik-Empfehlungen der DIVI und ihre Billigung durch den Deutschen Ethikrat in den angesprochenen kritischen Teilen zurückgenommen werden."
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