Eine starke repräsentative Demokratie braucht eine starke Zivilgesellschaft in der sich Menschen mit ihren Interessen artikulieren und auch über Wahlen hinaus eine Wirkungsmacht erzeugen können, soweit sie andere mit ihren Argumenten überzeugen. Volksbegehren bilden einen rechtlichen Rahmen, in dem konkrete, eingrenzbare Themen öffentlich so diskutiert und eine Wirkungsmacht erzeugen kann. Wer sich einbringen, artikulieren und beteiligen kann und dabei nicht nur das eigene Milieu in Stammtischmanier, sondern die breite Öffentlichkeit überzeugen muss, bleibt Demokrat*in und wendet sich nicht ab. Fehlende Möglichkeiten, gehört zu werden und für gesellschaftliche Mehrheiten in einzelnen Sachfragen mit der Aussicht auf Erfolg werben zu können, fördert Populismus und das Erstarken von Parteien an den Rändern, die die repräsentative Demokratie gerne nutzen, sie jedoch nicht stärken, sondern schwächen wollen.
Bürger*innen-Räte sind eine Errungenschaft für die Weiterentwicklung und Stärkung der repräsentativen Demokratie. Gleichwohl ersetzen sie die Möglichkeit direkter Beteiligungen an Entscheidungen nicht. Im Entwurf des Grundsatzprogramms kommen Volksentscheide bisher nicht vor. Bleibt es dabei, wäre dies ein Paradigmenwechsel unseres Politikverständnisses im Verhältnis von Bürger*innen, Parteien und Staat und der Verzicht auf ein Handlungsfeld, das Bürger*innen Vertrauen entgegen bringt, Demokratie belebt und gesellschaftliche Transformationsprozesse tragfähiger macht.
Die Bürger*innen-Räte in Irland, beauftragt vom Parlament, haben die Gesellschaft politisch durchdrungen, weil die Bürger*innen das Recht und die Chance hatten, neben dem Parlament auch selbst per Referendum über die Empfehlungen des Bürger*innen-Rates zu entscheiden. Auch sollten Bürger*innen ein Initiativrecht haben für eine direktdemokratische Entscheidung über die Ergebnisse eines Bürgerrats, wenn Parlament und Regierung einem Rat nicht folgen.
Allein die Option eines Volksbegehrens vorzusehen und sie nicht auszuschließen, wird das Verantwortungsbewusstsein von Parlamenten und Regierungen im Umgang mit Bürgerräten stärken. Von 2010 bis Juni 2020 wurden auf Länderebene bundesweit 135 Volksinitiativen gestartet. 10 wurden aus rechtlichen Gründen für unzulässig erklärt, drei waren erfolgreich durch Volksentscheid, 20 waren erfolgreich ohne Volksentscheid durch Parlamentsbeschluss, in weiteren 15 Fällen wurde ohne Volksentscheid ein Teilerfolg erzielt durch Verhandlungen zwischen Parlament und Initiator*innen. Zwei erreichten eine Mehrheit, jedoch nicht das erforderliche Beteiligungsquorum, 25 haben ihre Initiative vorzeitig zurückgezogen, weil die erhoffte Unterstützung ausblieb, 31 sind gescheitert, weil die Anzahl der Unterschriften nicht fristgerecht erreicht wurde und 29 sind noch offen. (Quelle: Datenbank Volksbegehren, Mehr Demokratie e.V.)
In Deutschland haben von 1946 bis 2018 auf Länderebene insgesamt 351 Volksbegehren stattgefunden, in nur 24 Fällen kam es zu einem Volksentscheid, in vielen Fällen jedoch schon im Vorfeld zu guten Kompromissen im Parlament. (Quelle: Datenbank Volksbegehren, Mehr Demokratie e.V.)
Volksentscheide in der Schweiz: Die Rechtskonservative SVP (Schweizerische Volkspartei) hatte 2014 einen Volksentscheid „gegen Masseneinwanderung“ knapp gewonnen. Von 2015 bis 2020 hat sie alle acht verloren! So auch die letzte am 27. Sept. 2020 „Für eine massvolle Zuwanderung“ (Begrenzungsinitiative). 60 % der Stimmberechtigten beteiligten sich, 62% stimmten dagegen. (Quelle: https://www.swissinfo.ch/ger/resultate-bgi-abstimmung/46055748)
Bündnis 90/Die Grünen – eine Bündnispartei
Wir wollen mit diesem Grundsatzprogramm unseren Charakter als Bündnispartei stärker in den Fokus rücken. Würden wir uns auf Bündnisse mit anderen Parteien, Institutionen und Initiativen beschränken und direkte Entscheidungsoptionen nicht zulassen, bekäme unser Bündnis mit den Bürger*innen einen empfindlichen, nachhaltigen Riss! Das dreistufige Verfahren der direkten Demokratie (Initiative, Begehren, Entscheid) ist in den vergangenen 30 Jahren in allen 16 Landesverfassungen mit federführender Unterstützung der BündnisGrünen verankert worden. Diese Erfahrungsräume stärken die repräsentative Demokratie und schwächen sie nicht.
Zu einigen Gegenargumenten
Brexit: Der Brexit hat seinen Ursprung in einem parteitaktischen Manöver der Konservativen in Großbritannien. Der Missbrauch eines Referendums für parteipolitische Zwecke. Der Abstimmungstext war allgemein und unbestimmt, die Konsequenzen wurden nicht benannt, die Regierung ließ die Bevölkerung bewusst im Unklaren, eine sachliche Information fand nicht statt. Dieses Vorgehen - nicht möglich im Rahmen des von den BündnisGrünen zusammen mit Mehr Demokratie entwickelten dreistufigen Verfahren – hat Populisten Tor und Tür geöffnet und die gesamte Debatte vergiftet. Der Brexit eignet sich nicht als Argument gegen Verfahren direkter Demokratie, sondern zeigt die Bedeutung demokratischer, fairer und sachorientierter Regeln gegen Lügner und Demagogen.
Populisten: Populistenwollen keine Stärkung der repräsentativen Demokratie. Sie verfolgen eine Strategie der Entmündigung von Bürger*innen durch Lügen und Unwahrheiten. Sie kämpfen für die Durchsetzung ihrer Vorstellungen und Interessen, die sich vor allem gegen alles Fremde richtet, im Rahmen der repräsentativen Demokratie. In den Köpfen aller Regierungen - im Bund, in den Ländern, in Europa – sitzen heute die AfD und ihre Schwesterparteien leider mit am Tisch. Sie erreichen ihre Wirkungsmacht durch Stimmungs- und Angstmache, durch die Mobilisierung niedrigster Instinkte, durch Lügen und verdummende Vereinfachungen, durch rassistische und antifeministische, durch rechtsradikale Exzesse und nationalsozialistische Parolen. Sie haben einen erschreckenden Erfolg damit bei uns und in Europa. Welche Politik und welche Strategien setzen wir dagegen?
Fridays for Future (FFF): Sie ist die erfolgversprechendste außerparlamentarische Bewegung der letzten Jahrzehnte, sie hat ein klares Ziel, mobilisiert Junge und zunehmend auch Ältere, richtet sich nicht an einzelne Interessengruppen, setzt auf Dialog statt Ausgrenzung. Und meint auch uns BündnisGrüne: Wie konnten Parteien, Parlamente und Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten existentielle Fragen unserer Zukunft unbeantwortet lassen? Welche demokratischen Verfahren bietet die repräsentative Demokratie z.B. dem Bündnis FFF über Meinungs- und Demonstrationsfreiheit hinaus. Welche rechtlichen Grundlagen bietet das Parlament einer sozialen Bewegung wie FFF, die im Bündnis mit Bürger*innen auf Veränderung drängt, auf mündige Bürger*innen setzt, Verantwortungsbewusstsein mobilisiert, Demokratie stärken will - und Populisten als die lautesten Gegner hat?
Kommentare