Die Corona-Krise wurde zum Systemtest:
Wenn 2/3 aller Studierenden neben ihrem Vollzeitstudium arbeiten müssen, um ihre Existenz zu sichern, greift die systemische Studienfinanzierung nicht!
Das Deutsche Studienfinanzierungssystem ist gescheitert: Gerade in der Corona-Krise kamen die systemischen Defizite der Studienfinanzierung in Deutschland zum Vorschein.
BAföG deckt in den meisten Studienstädten nicht die Lebenshaltungskosten und erreicht Rund 80% der Studierenden nicht [1]. Es ist in letzter Konsequenz nicht mehr als eine Ausgestaltung des Unterhaltsrechts und (bis auf wenige Ausnahmen [2]) nur für diejenigen zugänglich, die einen Unterhaltsanspruch haben und deren Eltern sie nicht unterstützen können.
In der letzten Reform des BAföG vom Sommer 2019 wurden die Freibetragsgrenzen für den Verdienst der Eltern angehoben. Dennoch entwickeln sich die BAföG-Bezugzahlen weiter rückläufig. Seit 2012 finanzieren von Jahr zu Jahr mehr Studierende ihr Studium ohne staatliche Unterstützung [3] und greifen auf familiäre Unterstützung und Erwerbstätigkeit neben dem Studium zur Studienfinanzierung zurück. Die Krise hat gezeigt, dass diese Unterstützung nicht für alle Familien realisierbar ist und das System nicht mit der nötigen Flexibilität ausgestattet ist, um auf Krisen wie diese zu reagieren - dass zudem die Jobs in der Gastronomie wegfallen, reißt weitere Löcher in die ohnehin schon knappen studentischen Geldbeutel - laut Statistiken gehen auch viele Studierende, die BAföG beziehen, einer Nebentätigkeit nach, da die BAföG-Sätze die Lebenshaltungskosten in vielen Hochschulstädten nur unzureichend abdecken, was bereits seit Jahren von verschiedenen Stakeholdern kritisiert wird [4,5]
Bearbeitungszeiträume, bürokratische Hürden und die Aussicht auf Verschuldung durch den Bezug von BAföG sind weitere Hürden, die den Trend der rückläufigen Bezugszahlen weiter befeuern.
Dazu kommen noch all diejenigen, welche nicht BAföG- bezugsberechtigt sind, weil sie die Regelstudienzeit überschritten, [6] nicht rechtzeitig genug den notwendigen Leistungsnachweis erbracht haben, in Teilzeit studieren oder einfach später mit dem Studium begonnen haben als die Förderkriterien es abbilden. Dies sind nur einige der Fälle, in denen das deutsche System eine eigenständige Finanzierung des Studiums explizit vorsieht. Auch internationale Studierende haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Studienfinanzierung und bestreiten ihr Studium entweder mithilfe ihrer Familien oder durch Nebenjobs.
Für all diese Studierenden besteht während der Pandemie die konkrete Situation, dass Nebenjob - und damit ein Teil oder die komplette Studienfinanzierung ohne Lohnfortzahlung gestrichen wurde, insbesondere im Gastronomiebereich, bei Honorarjobs, Nachhilfe oder sogenannten 450€-Jobs (beispielsweise im Einzelhandel, Dienstleistungsgewerbe, Messebetrieb, Fitnessstudio, als Studentische Aushilfen oder Hilfskräfte).
Zwei Drittel aller Studierenden arbeiten neben dem Studium. [7] Zwei Drittel von 2,9 Millionen Studierenden finanzieren ihre Lebenshaltungskosten teilweise oder komplett durch Nebenjobs. Nicht alle können kurzfristig aufgefangen werden. Der Systemtest in der Krise produziert hunderttausende Studierende, welche vor existenzbedrohenden individuellen Krisen stehen, ihre Wohnungen aufgeben oder gleich ihr Studium abbrechen.
Das mag nicht zuletzt am verkrusteten Bild studentischer Lebensrealitäten liegen:
Studierende sind nicht alle Anfang 20, haben zu viel Zeit, werden von den Eltern finanziert und arbeiten neben dem Studium, um ein bisschen ‘in den zukünftigen Beruf zu schnuppern’ oder das ‘Budget aufzupolieren’.
Studierende sind eine heterogene Gruppe aus allen gesellschaftlichen Schichten, aus allen Altersklassen, aus vielen verschiedenen Ländern. Studierende arbeiten neben dem Studium, weil sie meist keine andere Wahl haben. Sie arbeiten neben dem Studium, obwohl ein Großteil der Studiengänge bereits eine 40-Stunden-Woche voraussetzt. Studierende haben nicht zu viel Zeit, sondern zu wenig Geld. Sie brauchen gesellschaftliche Unterstützung!
Das Studienfinanzierungssystem des “BAföG” ist ausgerichtet auf sog. ‘Normalstudierende’: Mit Anfang 20 ziehen siein die Studienstädte, studieren einen ideal umgesetzten Studiengang, absolvieren ihr Studium problemlos in Regelstudienzeit und verfolgen neben dem Studium keine weiteren Anliegen, außer ein paar zusätzlichen Praktika um die ‘Karrierechancen zu verbessern’. Durch die Gesellschaft und die Politik wird seit Jahren systematisch übersehen, dass die wenigsten Studierenden dieser Norm entsprechen.
Wer ihr nicht entspricht, fällt durch das Raster. Nie wurde dies so deutlich wie durch den plötzlichen Wegbruch der alternativen Finanzierung für viele Studierende während des Beginns der Coronakrise. Nie wurde das Systemversagen der Studienfinanzierung so schlagartig ersichtlich. Wenn im Krisenfall innerhalb weniger Tage für zehntausende Studierende die Finanzierung ihres eigenen Lebens gefährdet ist, stimmt etwas im System der Studienfinanzierung in Deutschland nicht.
Es ist Zeit, dieses System umzugestalten. Es ist Zeit für ein System, welches nicht darauf baut, dass Studierende sich schon irgendwie selbst finanzieren, für ein System, das allen Studierenden eine gesicherte Studienfinanzierung unabhängig ihrer Herkunft bietet. Es ist Zeit für wahre Chancengleichheit.
In den nächsten Jahrzehnten stehen massive Umbrüche in der Arbeitswelt an und viele Menschen werden Möglichkeiten brauchen, eine finanziell abgesicherte Weiterbildung beginnen zu können, welche vielfach an Hochschulen stattfinden wird.
Das Studienfinanzierungssystem muss dahingehend angepasst werden und auf die neue Realität von Studierenden ausgerichtet werden.
Denn vor der nun als Heilmittel propagierten digitalen Neugestaltung der Studienabläufe muss geklärt sein, dass Studierende sich ihre Miete, ihre Versicherungen, Nahrung und Studienmaterialien finanzieren können!
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[1] 21. Sozialerhebung Deutsches Studentenwerk (sic!) von 2016:http://www.sozialerhebung.de/sozialerhebung/download/geschichte/Geschichte_Sozialerhebung_1-21.pdf
[2] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/08/PD19_291_214.html
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/161050/umfrage/entwicklung-der-anzahl-der-bafoeg-empfaenger/
[4] https://www.studentenwerke.de/de/content/baf%C3%B6g-muss-wieder-die-staatliche
[5] https://www.fzs.de/2020/03/06/900-millionen-bafoeg-mittel-nicht-ausgegeben/
[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/226104/umfrage/hochschulabschluesse-innerhalb-der-regelstudienzeit/
[7] https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/se21_zusammenfassung_hauptbericht.pdf S.19
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