Begründung der vorgeschlagenen Streichung:
- Rechtliche Bewertung
Die im Wahlprogramm vorgeschlagene Ausdehnung des Beteiligungsinstruments der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) auf Vertragsänderungen ist nach dem geltenden Vertrag über die Europäische Union (EUV) nicht möglich. Der Vorschlag setzt selbst eine Vertragsänderung voraus.
Die Bestimmungen über die EBI sind in Art. 14 (4) EUV festgelegt: „ Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen.“
Eine EBI richtet sich also a) an die Kommission und muss b) eine Thematik betreffen, für die eine Gesetzgebungskompetenz der EU durch die Verträge gegeben ist und muss sich c) auf die Umsetzung der Verträge beziehen. Eine Änderung der Verträge als Gegenstand einer EBI ist nach geltendem Vertragsrecht nicht möglich.
- Frage des Maßstabs für die Zulässigkeit einer EBI zur Vertragsänderung und Frage des Quorums
Wäre eine Vertragsänderung, die das Instrument der EBI auf Vertragsänderungen ausdehnt, wünschenswert? Was wäre der Maßstab für die Zulässigkeit einer EBI, die Vertragsänderungen vorschlägt? Für die bestehende Regelung der EBI in Art. 14 (4) EUV sind es die bestehenden Verträge, die den Maßstab für die Zulässigkeit bilden. Dies schließt das Ziel einer immer engeren Union der Völker Europas ein. Damit ist auch die europapolitische Richtung vorgegeben, nämlich die nach den Verträgen gegebenen Zuständigkeiten der EU immer stärker auszuüben.
Für eine vergleichbare Regelung z.B. in der Verfassung des Landes Berlin, die Bürgerbegehren auch für Änderungen der Landesverfassung zulässt, ist übergeordnetes Recht der Maßstab für Zu- oder Nichtzulässigkeit eines Bürgerbegehrens. Aber was sollte das Entscheidungskriterium für die Zu- oder Nichtzulässigkeit für die Änderungen der Verfasstheit der EU sein? Der Hinweis in Zeile 976 des Wahlprogramms auf eine Vereinbarkeit mit den EU-Grundrechten ist als Maßstab hierzu völlig unzureichend, denn aus der EU-Grundrechtscharakter lässt sich weder herleiten, welche Institutionen es auf EU Ebene mit welcher Zusammensetzung und mit welchen Zuständigkeiten geben soll, noch wie das Gerichtssystem mit welchen Befugnissen aufgebaut ist oder wie das Gesetzgebungsverfahren geregelt ist. Vor allem lässt sich aus der Grundrechtecharta nicht ableiten, wie die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der EU geregelt ist, d.h. in welchen Politikbereichen die EU handeln kann. Somit könnte der gesamte Stand der europäischen Integration nach dem Vorschlag im Bundeswahlprogramm durch Bürgerinitiativen infrage gestellt werden.
Dies ist umso bedenklicher als das erforderliche Quorum für eine EBI von weniger als 3 Promille der teilnahmeberechtigten Bevölkerung sehr niedrig ist. Für eine EBI, die auf eine Gesetzesinitiative innerhalb der Verträge abzielt, ist diese niedrige Schwelle begrüßenswert. Für eine Initiative, die auf eine Änderung der Verfasstheit der EU abzielt, ist ein so niedriges Quorum europapolitisch sehr problematisch und findet sich so auch in keinen nationalen oder regionalen Verfassungen in der EU. Vielmehr werden die Verfassungen als hohes Gut entsprechend anders behandelt als einfache Gesetze. So ist für ein Volksbegehren, das auf eine Änderung z.B. der Verfassung des Landes Berlin abzielt, ein Quorum von 20% der teilnahmeberechtigten Bevölkerung und nicht von weniger als 3 Promille erforderlich. Dieses niedrige Quorum würde z.B. für Berlin bedeuten, dass für ein Volksbegehren, das auf eine Verfassungsänderung abzielt, nur rund 8000 Unterstützer*innen notwendig wären und dann müssten sich Regierung und Parlament mit diesem Begehren zur Verfassungsänderung befassen. Ein damit vergleichbarer Vorschlag wurde bisher in kein grünes Wahlprogramm geschrieben.
3. Inkonsistenz im Entwurf des Bundestagswahlprogramms
Welche Zusage an die Wähler*innen wird damit gemacht, dass der Vorschlag zur Ausdehnung der EBI auf Vertragsänderungen im Wahlprogramm zur Bundestagswahl steht?
Einen Entwurf zur Änderung der Europäischen Verträge kann nach Art. 48 (2) EUV die Regierung jedes Mitgliedstaats, das Europäische Parlament oder die Kommission dem Rat vorlegen, der dann dem Europäischen Rat übermittelt und den nationalen Parlamenten zur Kenntnis gebracht wird.
Die Übernahme des Passus zur EBI aus dem Grünen Europawahlprogramm in das Bundestagswahlprogramm impliziert die politische Zusage, dass die zukünftige Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die zukünftige Bundesregierung auffordern wird, auf EU Ebene eine solche Vertragsänderung vorzuschlagen, bzw. eine Grün-geführte Bundesregierung einen solchen Vorschlag zur Änderung der Verträge auf EU Ebene einbringen wird. Ist das glaubhaft? Das Wahlprogramm beinhaltet für Deutschland keinen vergleichbaren Vorschlag, der eine der EBI vergleichbare Regelung für ein Volksbegehren vorsieht, weder für ein Volksbegehren oder eine Bürgerinitiative, die auf ein Bundesgesetz abzielt und schon gar nicht einen Vorschlag, der auf Grundgesetzänderungen als Gegenstand eines Volksbegehrens oder einer Bürgerinitiative abzielt. Und schon gar nicht mit einem Quorum von weniger als 3 Promille der teilnahmeberechtigten Bevölkerung. Wenn aber das Grüne Wahlprogramm ein vergleichbares Beteiligungsinstrument für Deutschland nicht vorschlägt und schon gar nicht für Verfassungsänderungen vorschlägt, dann ist es nicht glaubhaft, dass die Grüne Bundestagsfraktion oder eine Grün-geführte Bundesregierung auf EU-Ebene dafür eintreten wird, die EU Verträge dahingehend zu ändern, dass dem Rat und dann dem Europäischen Rat zukünftig auch durch eine Bürgerinitiative Vertragsänderungen vorgeschlagen werden können.
Fazit: Wir sollten als Grüne die Europäischen Verträge als Grundrecht der Verfasstheit der EU so ernst nehmen wie das Grundgesetz für Deutschland und den in über mehr als sechs Jahrzehnten mühsam erreichten Stand der Europäischen Integration als schützenswert erachten. Nach den bestehenden Regelungen ist eine EBI für EU- Skeptiker oder Akteure, die die EU ablehnen kein geeignetes politisches Instrument, weil eine zulässige EBI auf die Vertiefung der europäischen Integration abzielt und nicht z.B. EU Kompetenzen oder die Europäische Gerichtsbarkeit oder das Ziel einer immer tieferen Integration infrage stellen kann. Eine Ausdehnung der EBI auf Vertragsänderungen ist dagegen eine Einladung an die politischen Kräfte, die gegen die EU gerichtet sind, die EU in Gänze oder in Teilen in Frage zu stellen. Eine Vorstellung, dass eine EBI für eine Änderung der EU Verträge immer proeuropäisch ausgerichtet wäre, entspricht leider nicht der politischen Realität.
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