Veranstaltung: | 48. Bundesdelegiertenkonferenz |
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Tagesordnungspunkt: | Verschiedenes (nicht gerankt) |
Antragsteller*in: | Marianne Knipping (KV Kassel-Stadt) und 56 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 40%) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 02.09.2022, 20:47 |
V-29: Die documenta als Weltkunstausstellung hat eine Chance auf Zukunft - mit verantwortungsvoller Aufarbeitung der d15, Entgegnung von Antisemitismus und überarbeiteten Strukturen
Antragstext
Bereits vor dem Ende der documenta 15 zeichnete sich ab, dass die Welt-Kunstausstellung
trotz der katastrophalen und nicht zu akzeptierenden Verwendung antisemitischer Stereotypen
und eindeutig antisemitischer Bildsprache in einigen Bildwerken, dem
Total-Versagen der
auf städtischer Seite beruflich Verantwortlichen und der selbst verschuldeten und
„verdienten“ weltweiten Negativ-Presse wahrscheinlich kein finanzielles Defizit ausweisen
muss.
Das zeigt, dass das Fundament der documenta stabil genug ist, diese Krise zu überstehen.
Bündnis 90/Die Grünen lehnen auch deshalb jede Verlagerung der documenta in andere Städte
ab. Sie distanzieren sich ausdrücklich von den Forderungen, die laufende Ausstellung sofort
zu schließen und Kassel als zukünftigen documenta-Ort auszuschließen.
Es ist jedoch zu befürchten, dass das wirtschaftliche Ergebnis hocherfreut gefeiert wird, um
anschließend zur Tagesordnung überzugehen. Und das, ohne der notwendigen Aufarbeitung des
Skandals, seiner Geschichte, seiner Voraussetzungen, seiner unfassbar gescheiterten
Bearbeitung, sowie notwendiger zukünftiger Entscheidungen für Struktur, Organisation und
Kontrolle, Raum und Zeit zu geben. Wie konnte es zu der - offensichtlich unbemerkten -
Präsentation der antisemitischen Kunstwerke kommen? Wer trägt die Verantwortung für den
nicht zu akzeptierenden Umgang mit dem Skandal?
Die Entscheidung, die künstlerische Leitung in die Hände des Kuratorenteams Ruangrupa zu
legen und damit ein Konzept zu präsentieren, das sich auf eine überwiegend kollektive
Arbeitsweise von Künstler*innen-Gruppen stützt und beruft, die in ihren Arbeiten die
Informationen und politischen Auseinandersetzungen in den Vordergrund ihrer künstlerischen
Arbeit und ihren kulturellen Projekten stellen, war mutig.
Die Idee des Konzeptes war es, mit den ausgestellten Kunstwerken, Dokumentationen und
Projektberichten die Besucher*innen der d 15 mit u.a. Unterdrückung, Ungerechtigkeiten und
ökologischen Bedrohungen in den jeweiligen Ländern zu konfrontieren. Das große Interesse der
Besucher*innen an diesem Konzept zeigt, dass es an der Zeit war/ist diese gesellschaftlich
dringenden Fragen auch in der Kunst zu stellen und zu bearbeiten.
Dem gegenüber stehen Teile des Stamm-Publikums, die -zu Recht- durch den sichtbaren
Antisemitismus verletzt sind und diese documenta boykottieren sowie eine ebenso empörte
mediale Öffentlichkeit.
Bündnis 90/Die Grünen sehen eine inhaltliche Be- und Aufarbeitung nach der d15 für
unabdingbar für den zukünftigen, weiteren Erfolg der Weltkunstausstellung in Kassel und für
die Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland.
Sie werden den dazu notwendigen
Diskussions- und Aufarbeitungsprozess über inhaltliche und organisatorische Fragen zur
documenta z.B. in Anhörungen, Symposien, Gesprächsrunden, Ausstellungen aktiv in den
zuständigen Gremien der Stadt Kassel und des Landes Hessen und in Kooperation mit anderen
Aktiven wie z.B. der Heinrich-Böll-Stiftung initiieren und mitgestalten.
Folgende Eckpunkte, Fragen und Aufgaben sollen dabei gesetzt und für die Zukunft wegweisend
sein:
- Das Beteiligungsmodell Stadt/Land/Bund soll über die finanzielle Beteiligung weiter
ausgebaut werden und wieder eine gleichberechtigte Mitsprache z.B. im Aufsichtsrat
angestrebt werden.
- Die Auswahl der Mitglieder der Findungskomissionen, die ihrerseits die Kurator*innen
vorschlagen, sollte öffentlich vorgestellt und begründet werden.
- Das Gleiche sollte auch für die Vorschläge der Findungskommission gelten.
- Bei allen gründlich hinterfragten Entscheidungen, personell wie inhaltlich, sollte
gemäß dem Grundkonsens der documenta, die „künstlerische Freiheit“ als hohes Gut
gewährleistet bleiben.
- Den jeweiligen Kurator*innen kann/soll ein Beirat zur Seite gestellt werden, dessen
Aufgaben und Kompetenzen zu jeder documenta vom Aufsichtsrat neu beschrieben werden.
- Veranstaltungen und Symposien sollen ausgerichtet werden z.B. durch die documenta
GmbH in Kooperationen mit dem Doc-Institut, der Kunsthochschule, Parteien, der
Heinrich-Böll-Stiftung und anderen gesellschaftlichen Akteuren. (Stichworte hierzu:
Kunstfreiheit im Spannungsfeld von internationalen und nationalen
Zeichenkanons/Grenzen der Kunstfreiheit; political correctness auf der documenta;
Kunst/politische Kunst/politische Aktionskunst/Verantwortlichkeit in kollektiver
Autorenschaft.
- Frühe documenta-Ausstellungen standen unter maßgeblicher Einflussnahme von
ehemaligen
Aktiven und an den Verbrechen des NS-Regimes aktiv beteiligten Mitgliedern der NSDAP
wie z.B. Werner Haftmann, der u.a. für den Ausschluss von jüdischen Künstler*innen
bei der documenta gesorgt hat. Dieser Vergangenheit muss sich endlich gestellt werden.
- Bündnis 90/Die Grünen schlagen hier vor, zwei Ausstellungs-Projekte im Museum
Fridericianum in Kassel zusammenzubringen: die gemeinsam mit dem Documenta Archiv
Kassel und dem Solinger Zentrum für verfolgte Künste erstellte Ausstellung und die
Aufarbeitung und Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (Berlin) zur
documenta.
Kommentare
Reinhold Weist:
Reinhold Weist:
Sabine Herms:
Thomas Ackermann:
Stefanie Könnecke:
Reinhold Weist:
Petra-Carmen Weber:
Miro Zahra:
Martin Hoppe-Kilpper:
Jörg Witzel:
Statt dessen wird nur über ein Mural aus einem Land diskutiertet, in dem der Mossad historisch gesehen KEINE gute Rolle gespielt hat. Warum dürfen sich die Künstler aus diesem Land keine Bildsprache aneignen, die sie aus anderen Ländern übernommen haben? Nein, dürfen Sie natürlich nicht. Die deutsche Interpretation von Bildern ist die einzig zulässige Interpretation! Politik sollte sich aus der Kunst einfach raus halten. Wenn der damalige Bürgermeister alle Aktionen von Beus in Kassel hätte genehmigen müssen ...
Oliver Claves:
Vorweg: Es gibt antisemitische Bildelemente und darüber sowie über die Grenzen von Kunstfreiheit müsste gesprochen werden. Keine Frage.
Drei Argumente gegen den Antrag
1) Die Formulierung "katastrophalen und nicht zu akzeptierenden Verwendung antisemitischer Stereotypen
und eindeutig antisemitischer Bildsprache in einigen Bildwerken" ist aber zu undifferenziert und verallgemeinernd. SIe greift damit einer Aufklärung und Diskussion vor und verhindert sie. Die Kurator:innen und Künstler:innen der documenta 15 schreiben "Wir lehnen die aggressive, ungeprüfte und absichtlich demütigende Form der Kritik und Beurteilung durch den Aufsichtsrat und die Aktionäre ab. Wir lehnen eurozentrische – und in diesem Fall spezifisch deutschzentrierte – Überlegenheit als eine Form der Disziplinierung, Steuerung und Zähmung ab" (vergleiche hier https://werefuseweareangry.wordpress.com/). Jede:r sollte vorsichtig prüfen, ob dieser Antrag nicht dem Kritik der Kurator:innen und Künstler:innen Recht gibt. Zwei ernstzunehmende Artikel diskutieren kritisch die Sachlichkeit der Antisemitismusvorwürfe
https://www.zeit.de/kultur/kunst/2022-09/documenta-fifteen-antisemitismus-rassismus-zensur
https://www.hna.de/kultur/documenta/pauschale-vorwuerfe-so-nicht-haltbar-91789526.html
2) Die notwendige inhaltliche Be- und Aufarbeitung sowie Diskussion kommt mir in dem Antrag zu kurz und geht in den anderen Forderungen und Ausführungen unter. Dabei ist gerade die Diskussion der kritisierten Kunstwerke unter Einbindung der Künstler:innen und Kurator:innen wichtig zum Erkenntnisgewinn. Es wurde und wird eine gute Gelegenheit verpasst, auf der Weltbühne der documenta über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus und die Grenzen zur berechtigten Kritik sowie die Grenzen der Kunstfreiheit zu diskutieren.
3) Der Antrag erweckt leicht den Eindruck, als ginge es darum die documenta in Kassel zu halten und parteitaktische Strukturveränderungen und Stellenbesetzungen einzufordern. Ich glaube, es steht außer Frage, dass die documenta in Kassel verbleibt, daher ist die Forderung albern. Ich halte es auch nicht für klug, detaillierte Strukturveränderungen zu fordern, bevor die Aufarbeitung auch nur im Ansatz abgeschlossen ist.
Konrad Hentze:
Uwe Josuttis:
der Antrag kann und soll kein fundierter, wissenschaftlicher Aufarbeitungstext sein, sondern er ist eine politischer Erklärung, die einen fundierte Aufarbeitung einfordert. Die muss dann natürlich erfolgen und das willst Du ja auch. Es geht auch nicht darum, dass die Grünen eine abschließende Bewertung der Gesamtlage vornehmen, sondern in ihre politischen Verantwortung mit dafür sorgen, dass eine Bewertung und dann auch Konsequenzen erfolgen.
Die geforderten Strukturveränderungen und z. B. die Einrichtungen eines Beirates sollen ja gerade die Mittel sein, um die Aufarbeitung zu ermöglichen. Wie Du hier etwas "parteitaktisches" erkennen kannst, ist mir rätselhaft. Der zentrale Kern des Antrags lautet: für Kunstfreiheit - gegen Antisemitismus!
Wir beide befinden uns ja in Kassel schon im Austausch und - offen gesagt - ich verstehe immer weniger was Du willst, irgendwie kommt es mir so vor, als wolltest Du es allen recht machen. Und Deine Befürchtung, dass dieser Antrag der "Kritik" der Kuratoren (es sind eher wütende Ausfälle und Hetze gegen Israel) recht geben könnte, ist überhaupt nicht nachvollziehbar.
Es ist m. E, zwingend erforderlich, dass wir Grüne uns hier positionieren - nicht nur weil wir politisch mitten drin stehen (Kulturstaatsministerin und hess. Kunstministerin) - und konstruktive Anregungen geben, wie so ein Schlammassel zukünftig vermieden werden kann.
Zur Info für die "Externen": Die Kreismitgliederversammlung in Kassel (ca. 90 Leute) hat mit sehr großer Mehrheit bei wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen den Antrag angenommen!
Oliver Claves:
wenn es dir so vorkommt, als wollte ich es allen recht machen, dann liegst du nicht ganz falsch. Mir geht es darum, die verhärteten Fronten aufzubrechen, Missverständnisse zu beseitigen, Trennendes zu überwinden, sachlich Erkenntnisse zu gewinnen, Gemeinsamkeiten zu finden sowie Unterschiede zu erkennen und Toleranz zu üben. Dies entspricht meinem Grundverständnis politischer Diskussionen und politischen Handelns.
Der Antragstext entspricht dem nicht.
Der Antrag fordert u.a. eine fundierte Aufarbeitung, allerdings nur eines Teilaspekts der „Gesamtlage“ und unter de Vorverurteilung, dass es „katastrophale(n) und nicht zu akzeptierende(n) Verwendung antisemitischer Stereotypen und eindeutig antisemitische(r) Bildsprache in einigen Bildwerken“ gegeben hat. Es habe auch „eine ‚verdiente‘ weltweite Negativ-Presse“ gegeben. Dies ist nur eine Sicht auf die Vorgänge und es gibt gewichtige Gegenstimmen, z.B.
Marjon Ditjen zur Vorverurteilung https://www.zeit.de/kultur/2022-09/documenta-fifteen-antisemitismus-expertenkommission-kassel-10nach8
Peter-Matthias Gaede (ehemaliger Chefredakteur der GEO) zum medialen Diskurs
https://www.hna.de/kultur/documenta/hysterische-schlagzeilen-91797499.html
Eine ernsthafte Aufarbeitung der Gesamtlage muss daher auch die Perspektive der Kurator:innen und kritisierten Künstler:innen und den Umgang mit ihnen mit aufgreifen und darf keine Vorverurteilung beinhalten. Der Antragstext ist dagegen einseitig. Natürlich kann man auf Kunstwerke den 3-D-Antisemitismus-Test anwenden (der für wissenschaftliche und politische Zwecke allerdings umstritten ist) und eine Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung zumindest in Ansätzen erkennen. Allerdings kann man ihn mit denselben Fragestellungen auch als Anti-palästinensischer-Rassismus-Test verwenden und entdeckt eindeutige Doppelstandards in der Kritik an den Kurator:innen und Künstler:innen, die zwar einen Antisemitismus der documenta 15 verteufelt, aber zur Politik Israels schweigt.
Zweitens widerspreche ich mit aller Entschiedenheit deiner Einschätzung, dass die Kritik der Kurator:innen „eher wütende Ausfälle und Hetze gegen Israel“ beinhaltet. Der Text, ein offener Brief, ist sachlich formuliert und wird von der „Lumbung-Gemeinschaft“ getragen, wie die umfangreichen Unterzeichnungen bestätigen. Der Text unterstützt ausdrücklich das Existenzrecht Israels, kritisiert allerdings – in Reaktion auf die Vorwürfe und als Abgrenzung zum Antisemitismus - die Politik des Staates Israel. Und zwar mit Begriffen, wie sie auch in UN-Resolutionen oder von Amnesty International verwendet werden. Ihre „Hetze gegen Israel“ klingt in ihren Worten so:
„We stand together, unconditionally and without hesitation, with our Jewish comrades and communities that have been the most outspoken. They know, like we know, that we are all in this together. We know that no struggle can succeed alone, that when the hostility has been high—and the aggression too hard to bear—it is Jewish voices in Germany that have entered to embody and amplify the Palestinian voice. They know, like we know, that safety is something that we build together, that safety is something that cannot be granted by the state. The state is concerned with security, but security is not safety: safety can only be created in community with others.“
Dies als Hetzte zu dämonisieren ist unsachlich und irreführend. Der Antrag atmet diesen Geist.