Der vorliegende Änderungsantrag orientiert sich an der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Auslegung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (seit dem Vertrag von Lissabon: Primärrecht der Europäischen Union) im Lichte sekundärrechtlicher Regelungen zum „zuständigen Mitgliedstaat“ gemäß Dublin II-Verordnung. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass „[das] Unionsrecht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung [entgegensteht], dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet“ (https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=117187&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=932891, Leitsatz Nr. 2).
Darüber hinaus orientiert sich dieser Änderungsantrag an dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache M.S.S. v. Belgium and Greece (https://hudoc.echr.coe.int/fre?i=002-628), mit dem festgestellt wurde, dass Schutzsuchende im Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht in einen Mitgliedstaat des Europarats bzw. ein Ersteinreiseland gemäß Dublin II-Verordnung der Europäischen Union (in diesem Falle: Griechenland) abgeschoben bzw. überstellt werden dürfen, wenn die dortigen Umstände für Schutzsuchende menschenunwürdig sind.
Geflüchtete haben demnach das Recht, einen Erstaufnahmestaat mit nicht ausreichendem Schutzniveau wie Griechenland zu verlassen und in anderen EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland Schutz zu suchen, solange die Harmonisierung des materiellen Asylrechts und Asylverfahrensrechts in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch nicht auf einem in nachprüfbarer Weise hohen Schutzniveau vollzogen wurde.
Der Änderungsantrag adressiert zudem die in Artikel 10 der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (Ratsposition vom 23.06.2023) enthaltene Sanktionsdrohung gegenüber Schutzsuchenden, die sich nicht in dem ihnen zugewiesenen EU-Mitgliedstaat aufhalten (vgl. https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10443-2023-REV-1/de/pdf). Mit Querverweis auf Artikel 17a der bereits in der Wahlperiode 2014-2019 inter-institutionell geeinten und seitdem politisch „eingefrorenen“ Aufnahme-Richtlinie (Neufassung) soll mit Artikel 10 der neuen Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung kollektiv verbindlich gemacht werden, dass eine schutzsuchende Person künftig von Sozialleistungen weitestgehend ausgeschlossen werden muss, wenn sie sich nicht „in demjenigen Mitgliedstaat, in dem [sie] sich aufzuhalten hat“, aufhält.
In der Praxis dürfte die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung in Mitgliedstaaten wie Deutschland nicht die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und anderen Konservativen intendierte abschreckende Wirkung erzielen, sondern lediglich zur Verelendung der vom Sozialleistungsausschluss betroffenen Menschen führen.
Grüne Europaparlamentarier*innen wie Erik (Marquardt) treibt momentan die begründete Sorge um, „dass in der Debatte um den Pakt viele Mitgliedstaaten glauben, man müsse Geflüchtete einfach noch ein bisschen schlechter behandeln als heute, immer jeden Tag noch ein bisschen schlechter behandeln als gestern, und dann würden sie schon irgendwann aufhören zu kommen“ (https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/CRE-9-2023-10-04-INT-3-043-0000_DE.html).
Tatsächlich ist im Rahmen der aktuellen politischen Debatte zur möglichen Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (vgl. Artikel 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) die wichtigste Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, namentlich der Schutz der unantastbaren Würde des Menschen (siehe Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union), aus dem Fokus geraten. Umso wichtiger ist die Klarstellung des Bundesverfassungsgerichts, dass jeder Mensch (einschließlich aller in Deutschland aufhältigen Geflüchteten und Migrant*innen) ein Recht auf die staatliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums besitzt: „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu“ (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2012/07/ls20120718_1bvl001010.html, Leitsatz Nr. 2).
Auch die in Artikel 10 der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (als möglicher Nachfolgeregelung der seit 2013 gültigen Dublin III-Verordnung) enthaltene Forderung nach dem weitestgehenden Entzug staatlicher Sozialleistungen für Menschen, die sich nicht in dem ihnen zugewiesenen EU-Mitgliedstaat aufhalten, ist aus oben genannten Gründen von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Dieser Änderungsantrag basiert auf dem auf der Mitgliederversammlung von Bündnis 90/Die Grünen Berlin-Neukölln angenommenen Beschluss „Menschenrechte von Geflüchteten verteidigen. Gegen eine Verschärfung des europäischen Asylrechts“ des KV Neukölln vom 18.07.2023 (https://www.gruene-neukoelln.de/fileadmin/Neukoelln/Partei/2023-07-18_Antrag-Asylpolitik.pdf), S. 4.