Veranstaltung: | 51. Bundesdelegiertenkonferenz Hannover |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | Sara Nanni (KV Düsseldorf) und 91 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 34%) |
Status: | Eingereicht |
Angelegt: | 15.10.2025, 10:00 |
V-56: Für ein neues Verständnis von Wehrhaftigkeit
Antragstext
Die Sicherheitslage in Europa ist sehr ernst. Seit Beginn der russischen
Vollinvasion auf die Ukraine 2022 spüren auch wir in Deutschland, dass viele
Gewissheiten der letzten Jahrzehnte brüchig geworden sind. Vieles deutet darauf
hin, dass wir auch hier in Deutschland in einer Vorkriegszeit leben. Russland
sabotiert, spioniert und attackiert uns schon heute mit Cyberangriffen und
Desinformationskampagnen. Manche wollen diese Tatsachen verdrängen, anderen
machen sie schlicht Angst. Beides ist menschlich, doch weder Angst noch
Verdrängung sind gute Berater. Entscheidend ist, wie wir mit dieser Lage
hybrider Angriffe auf unseren Frieden und unsere Freiheit umgehen – politisch,
gesellschaftlich und persönlich.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen begegnen dieser Zeit mit Mut, Verantwortung und
Tatkraft. Wir glauben daran, dass wir damit nicht alleine sind. Die Menschen in
diesem Land wollen sich schützen und verteidigen können um zu erhalten, was uns
allen lieb und teuer ist: unsere Familien, unsere Freund:innen, unsere
Demokratie und unser Leben in Freiheit.
Wie dringend eine Vorbereitung nötig ist, zeigen die deutlichen Warnungen der
Dienste. Nur zögerlich ändert sich die Informationspolitik der Bundesregierung
bezüglich der konkreten Lage. Für uns gehört eine gut informierte Öffentlichkeit
zur Wehrhaftigkeit dazu. Doch viele Menschen nehmen eben auch eine Kluft wahr:
zwischen den dramatischen Beschreibungen der Realität durch die Dienste und die
Medien und der politischen Zögerlichkeit, die sie in der Politik feststellen.
Das führt dazu, dass sich manche innerlich abwenden, weil sie nicht wissen, wie
sie mit der neuen Lage ganz persönlich umgehen sollen. Wir wollen diesen Beginn
einer kollektiven Ohnmacht stoppen.
Es braucht ein neues Verständnis von Wehrhaftigkeit - eines, das auf
Bereitschaft, Überzeugung und Verantwortungsbewusstsein gründet.
Gesamtstaatliches Krisenmanagement und die Verteidigung unserer Freiheit sind
alles andere als reine Militärprojekte. Sie sind die Aufgabe der ganzen
Gesellschaft - für- und miteinander, zivil und militärisch.
Um gemeinsam gewappnet zu sein fordern wir ein Recht auf angemessene
Vorbereitungsangebote in allen Bereichen des gesamtstaatlichen Krisenmanagements
für alle deutschen Staatsbürger:innen und Menschen mit dauerhaftem Aufenthalt in
Deutschland, das durch den Bund, die Länder und die Kommunen umzusetzen ist.
Wir wollen, dass in einer akuten Krise - sei es durch einen militärischen
Angriff, eine Sabotageaktion oder eine Naturkatastrophe - alle Menschen in
Deutschland wissen, was sie selbst tun können, um sich und Andere zu schützen
oder zumindest die Folgen für Alle abzumildern. Wir wollen, dass alle Menschen
in Deutschland sich vor einer möglichen Krise selbst weiterbilden können, um im
Falle einer Krise noch handlungsfähiger zu sein. Wir wollen, das Organisationen,
die in der Krise, im Verteidigungsfall oder bei anderen Gefahren hauptamtlich
zuständig sind, leichter in Kontakt treten können mit denjenigen, die
ehrenamtlich in genau diesen Lagen helfen wollen und nützliche Fähigkeiten
mitbringen. Das umfasst alle Bereiche des gesamtstaatlichen Krisenmanagements,
von der Bündnisverteidigung bis zum Katastrophenschutz. Wer sich zivil oder
militärisch einbringen will und geeignet ist, soll nicht mehr vor verschlossenen
Türen stehen. Wir wollen unseren Frieden in Freiheit vorbereitet verteidigen.
Deshalb fordern wir die Einrichtung einer bundesweiten Koordinierungsstelle für
gesamtstaatliche Krisenmanagement, angesiedelt beim Kanzleramt. Sie soll dafür
sorgen, dass das Krisenmanagement der verschiedenen Ebenen konzeptionell
zusammen gedacht wird - vom zivilen Engagement vor Ort bis zum militärischen
Dienst.
Drittens soll es der Bundeswehr und den für Zivil- und Katastrophenschutz
zuständigen Organisationen der verschiedenen Ebenen ermöglicht werden, auf die
Fähigkeiten der Bürger:innen zuzugreifen und sie für Reserveübungen und
Fortbilden anzuwerben. Der Aufbau der Reserve kann so zielgerichtet mit
denjenigen erfolgen, die bereits Kompetenzen mitbringen und sie auch einbringen
wollen.
Wir sind überzeugt: der Ansatz der Bundesregierung, jetzt mit dem neuen
Wehrdienst langsam die militärische Reserve aufzubauen, ist keine ausreichende
Antwort, weil sie nur junge Menschen in den Blick nimmt und sich auf den
militärischen Teil des gesamtstaatlichen Krisenmanagements beschränkt. Darüber
hinaus fehlt es der Bundesregierung an einer Personalstrategie für
Gesamtverteidigung, die einen Personalaufwuchs bei der Bundeswehr (Soldat:innen
auf Zeit und Reservist:innen) und den Zivilschutzorganisationen (Hauptamtliche
und Ehrenamtliche) - eben auch durch das Binden von Personal und durch
Quereinsteiger:innen - erreichen will. Es braucht aber sofort Menschen aus allen
Generationen, die das, was sie schon können, im Kontext der des
gesamtstaatlichen Krisenmanagements einbringen können, wenn es drauf ankommt.
Bisher gibt es keine Handhabe für den Staat, das Potenzial an Interessierten in
einen faktischen Personalaufwuchs umzusetzen, - weder im zivilen, noch im
militärischen Bereich geschweige wie beides zusammen gedacht wird. Es wird auch
seitens der Bundesregierung nicht aktiv daran gearbeitet, dass mehr Menschen
sich durch Aus- und Weiterbildung besser für den Ernstfall vorbereiten und in
der Krise Verantwortung übernehmen können, weil sie wissen, was zu tun ist.
Dabei wäre es so wichtig, dass mehr Menschen die Gelegenheit bekommen, sich
selbst besser vorzubereiten und dadurch sich selbst und Anderen im Krisenfall
helfen zu können.
Viele Menschen in Deutschland tun zum Glück trotzdem bereits genau das: sie
lassen sich im Betrieb zum Evakuierungshelfer:innen fortbilden, absolvieren
einen Erste Hilfekurs, gehen auf Lehrgänge beim THW, bilden sich bei einer
Hilfsorganisation wie dem Roten Kreuz weiter oder nehmen sogar an Reserveübungen
der Bundeswehr teil. Je ausführlicher die Aus- oder Weiterbildung, desto
schwerer ist es allerdings, diese in den Alltag zu integrieren. Viele wollen
gerne mehr tun, stehen aber vor unüberwindbaren Vereineinbarkeitsproblemen, da
die Lehrgänge oft über viele Monate oder sogar Jahre gestreckt stattfinden und
so zur Dauerbelastung für Familie und Arbeitgeber werden.
Wir wollen deshalb, dass Reserveübungen bei der Bundeswehr und ausführliche
Fortbildungen im zivilen Bereich in Zukunft als mehrmonatige
Vollzeitfortbildungen angeboten werden. Diejenigen, die ihre Qualifikation für
einen Teil des gesamtstaatlichen Krisenmanagements (zivil oder militärisch)
durch Übungen in Vollzeit auf ein deutlich höheres Level bringen wollen, sollen
dann einen Ausgleich zum Verdienstausfall bekommen. Damit setzen wir ein
Zeichen: wer sich einbringen will, wird dabei aktiv vom Staat unterstützt. Schon
heute versuchen viele Unternehmen, entsprechendes Engagement zu unterstützen und
reflektieren ihre eigene Rolle in der Krisenvorsorge. Die Unternehmen müssen in
Zukunft dann aber auch Wege finde, mehrwöchige oder -monatige Abwesenheiten für
Vollzeitfortbildungen zu ermöglichen. Für Selbstständige müssen pragmatische
Lösungen bei der Berechnung des Verdienstausfalls gefunden werden.
Die Ukraine zeigt es: ein Land wird nur effektiv mit Menschen aller
Generationen, Geschlechter und Qualifikationen verteidigt. Dem wollen wir mit
diesem Ansatz Rechnung tragen. Mit diesen Maßnahmen, so sind wir überzeugt,
lässt sich das enorme Potenzial das unsere Gesellschaft hat, um sich zivil und
militärisch gegen ein mögliche Aggression zu verteidigen und mit Krisenlagen
umzugehen, am schnellsten und effektivsten heben.
Begründung
erfolgt mündlich