Veranstaltung: | 45. Bundesdelegiertenkonferenz Karlsruhe |
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Tagesordnungspunkt: | GSP-D Demokratie stärken |
Status: | Beschluss (vorläufig) |
Beschluss durch: | BDK |
Beschlossen am: | 21.11.2020 |
Eingereicht: | 22.11.2020, 12:06 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Kapitel 5: Demokratie stärken
Beschlusstext
Kapitel 5: Demokratie stärken
Rechte und Zugänge
(226) Demokratie ermöglicht ein Leben in Würde und Freiheit. Vielfältige Demokratie
bedeutet, dass wir als Gesellschaft unsere Lebensumstände mit gleichen
Beteiligungsmöglichkeiten gemeinsam gestalten. Souverän eines demokratischen Rechtsstaates
sind die Staatsbürger*innen, der Verantwortungsbereich der Demokratie ist die gesamte
Bevölkerung. Demokratie ist nicht auf einen formalen Prozess reduzierbar, sondern
Leitprinzip für ein Miteinander in gleicher politischer Freiheit.
(227) Freiheitsrechte und Minderheitenschutz werden im demokratischen Rechtsstaat durch eine
unabhängige Justiz und die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz garantiert. Der freie
und gleiche Zugang zum Recht muss daher für alle gewährleistet sein.
(228) Staatliche Daseinsvorsorge, die Beseitigung von Armut und Diskriminierung, der Zugang
zu Bildung und öffentlicher Meinungs- und Willensbildung sowie ein ausreichendes Maß an Zeit
für politische Beteiligung gehören zu einer freiheitlichen und vielfältigen Demokratie.
(229) Die Folgen demokratischer Entscheidungen reichen oft über den regionalen oder
nationalen Rahmen hinaus. Daher müssen die europäischen und globalen Auswirkungen in
Entscheidungsprozessen immer berücksichtigt werden. Globalisierung erfordert transnationale
demokratische Handlungsfähigkeit. Nur mit fairem Interessensausgleich und demokratischer
globaler Kooperation können wir richtige und wirksame Antworten auf globale
Herausforderungen geben. Um demokratische Handlungsfähigkeit in einer globalisierten Welt zu
stärken, soll sich die EU perspektivisch weiterentwickeln zu einer Föderalen Europäischen
Republik, die Europa nach innen eint, aber gleichzeitig nach außen ein integrativer Teil der
Weltgemeinschaft ist.
(230) Demokratie ohne Meinungsfreiheit ist undenkbar. In der Demokratie kann jeder Mensch
seine Meinung frei äußern und jede*r muss Widerspruch zur eigenen Meinung aushalten. Aber
Hass und Hetze zerstören den freien Austausch von Meinungen. Jeder Mensch hat das Recht auf
eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Das bewusste Verbreiten von
Falschinformationen ist kein Grundrecht.
(231) Demokratie ist angewiesen auf Demokrat*innen. Die Freiräume einer starken und
lebendigen Zivilgesellschaft sind zu schützen, auch kritischen Stimmen muss politisches
Gehör gelten. Demokratie beginnt vor Ort. Ohne bürgerschaftliches Engagement und vielfältige
Ehrenämter würde unser Gemeinwesen nicht funktionieren. Demokratie lebt von Menschen, die
sich für andere engagieren und unser Gemeinwesen mitgestalten – in Bürgerinitiativen und
Parteien, in Vereinen, Feuerwehren und Kirchen und anderen Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften, in NGOs, Gewerkschaften und Unternehmen, bei Demonstrationen,
im Sportverein und in Bewegungen und in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft. Solches
Engagement ist der Kitt, der unsere pluralistische Gesellschaft zusammenhält. Deshalb muss
Gemeinnützigkeit umfassend rechtlich abgesichert werden – auch dahingehend, dass sich
gemeinnützige Organisationen politisch einbringen und engagieren können. Eine öffentliche
Infrastruktur für Ehrenamt und Engagement muss sicherstellen, dass bürokratische
Anforderungen und mangelnde Ressourcen Engagierte nicht davon abhalten, sich einzubringen
und die Liste gemeinütziger Tätigkeiten erweitert wird.
(232) Friedlicher zivilgesellschaftlicher Protest ist eine wichtige Ressource in einer
lebendigen Demokratie, dafür kann auch gewaltfreier ziviler Ungehorsam ein legitimes Mittel
sein.
(233) Gute politische Bildung, auch jenseits der Schule, ist Grundlage für eine
funktionierende Demokratie. Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, politische Bildung
und partizipative Bildungsinstitutionen zur Stärkung demokratischer Kompetenzen sind
Grundlage wesentlich für den Fortbestand der demokratischen Gesellschaft. Auch Kinder und
Jugendliche können demokratische Prozesse und Grundrechte hier erlernen.
(234) Die beste Verteidigung der parlamentarischen Demokratie ist ihre Weiterentwicklung. Es
gilt, der Verknöcherung demokratischer Institutionen und Verfahren entgegenzuwirken, um die
Demokratie lebendig zu halten. Einem Vertrauensverlust und der Dominanz einseitiger
Interessenslagen in demokratischen Prozessen kann durch Offenheit für neue
Beteiligungsmöglichkeiten begegnet werden.
(235) Um sich demokratisch engagieren und sich souverän und selbstbestimmt entscheiden zu
können, braucht es die Möglichkeit zur unabhängigen Information. Transparenzgesetze für den
Zugang zu öffentlichen Informationen beugen Korruption vor und sorgen für mehr Möglichkeiten
der demokratischen Kontrolle. Digitale Plattformen, die nicht von kommerziellen Interessen
gesteuert sind, unabhängiger Journalismus in freien Medien entlang des Pressekodex, ein
unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk, die Wahrung der Persönlichkeitsrechte gegen
Verleumdung und üble Nachrede sowie solide Medienbildung von Kindesbeinen an sind Impfschutz
gegen demokratiefeindliche Kampagnen und Falschinformationen.
(236) Voraussetzungen für Demokratie sind ein gewaltfreier Diskurs und die Akzeptanz der
Menschenwürde sowie der unverletzlichen und unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte. Eine
Gesinnung, die der oder dem Einzelnen ihre bzw. seine individuellen Bedürfnisse und
Interessen abspricht und die definieren will, wer dazugehört und wer nicht, ist
undemokratisch. Rassismus und Ausgrenzung widersprechen der Idee von politischer Gleichheit.
Zivilcourage und rechtsstaatliche Maßnahmen gegen Hass und Entmenschlichung sind zentral für
die Wehrhaftigkeit der vielfältigen Demokratie. Diskursräume müssen transparent,
grundrechtskonform und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gestaltet werden. Dies gilt gerade
auch für die Funktionsweise digitaler Plattformen.
(237) Die Interessen von Menschen, die sozial an den Rand gedrängt sind, die kaum Zugang zu
guter Bildung haben oder die unter den Anstrengungen von prekärer Arbeit leben, sind häufig
unterrepräsentiert.
Ihre stärkere Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen ist wichtig für Zusammenhalt
und Legitimation der repräsentativen Demokratie. Eine Garantie auf ein Existenzminimum,
ausreichend Zeit für politische Beteiligung sowie die Möglichkeit zur sozialen und
kulturellen Teilhabe aller sind notwendige Bedingungen für Demokratie.
(238) Unser Wirtschaftssystem unterliegt Werten und Regeln. Wirtschaftliche
Staatsbürger*innen-Rechte sind Teil der individuellen demokratischen Rechte. Die sozial-
ökologische Marktwirtschaft ist über betriebliche Mitbestimmung, Aktionär*innen-Beteiligung
sowie gewerkschaftliche Vertretung organisiert. All das braucht starke Gewerkschaften. Im
Sinne einer Wirtschaft, die dem Gemeinwohl dient, soll selbstverständlich sein, dass alle
Stakeholder und Betroffenen ein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen erhalten.
Mitbestimmung in den Betrieben und Unternehmen wollen wir stärken und ausbauen. Es muss
europäische Standards für die Mitbestimmung geben. Tariftreue muss Voraussetzung für die
Vergabe öffentlicher Aufträge sein. Auch die stärkere Beteiligung der Bevölkerung am
Produktivvermögen, zum Beispiel in Form von Mitarbeiter*innenbeteiligungen, kann mehr
Mitgestaltung in wirtschaftlichen Fragen bewirken.
(239) Verdeckte, einseitige Einflussnahme wirtschaftlich machtvoller Interessen gefährdet
die Demokratie. Für klare Schranken sorgen Transparenz und Kontrolle. Das wird durch die
Offenlegung von beispielsweise personellen Verflechtungen oder Nebentätigkeiten politischer
Entscheidungsträger*innen, Karenzzeiten für Regierungsmitglieder, ein verpflichtendes
Lobbyregister, eine unabhängige europäische Kontrollbehörde und die entschiedene Verfolgung
von Korruption erreicht. So kann Lobbyismus von finanzstarken Akteur*innen, der anderen
Interessen politische Spielräume nimmt und für unfaire Aushandlungsprozesse sorgt,
kontrollier- und sanktionierbar werden.
(240) Die Ausbildung einer transnationalen und europäischen Öffentlichkeit ist eine wichtige
Voraussetzung für eine funktionierende Zusammenarbeit und die Demokratisierung der EU.
Repräsentanz und Beteiligung
(241) Über Repräsentation und demokratisch geregelte Verfahren können sich Meinungen,
Interessen und Vorstellungen zu Entscheidungen und Mehrheiten angemessen und gerecht
bündeln. Das ist Grundlage demokratischer Machtausübung. Die parlamentarische Demokratie
schafft so legitime Herrschaft der Menschen über sich selbst.
(242) Grundprinzip der Demokratie ist, dass diejenigen, die Entscheidungen für andere
treffen, von diesen legitimiert, also gewählt werden müssen. Repräsentationsdefizite machen
die parlamentarische Demokratie angreifbar. Ein demokratisches Miteinander muss die
Voraussetzungen für sein Fortbestehen immer wieder neu schaffen und Ausschlüssen und
Repräsentationsdefiziten in den eigenen Strukturen entgegenwirken. Eine vielfältige
Gesellschaft muss sich in ihren demokratischen Institutionen und Einrichtungen abbilden.
Wer hier dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt hat, muss die Möglichkeit haben, an Wahlen,
Abstimmungen und allen anderen demokratischen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen.
(243) Frauenrechte und die Rechte marginalisierter Gruppen sind der Gradmesser der
Demokratie. Frauen und marginalisierte Gruppen sollen an allen demokratischen Prozessen
gleichberechtigt beteiligt sein. Voraussetzung hierfür sind gerechte gesellschaftliche
Strukturen und Maßnahmen der Antidiskriminierung. Damit Frauen paritätisch in den
Parlamenten und gesellschaftlichen Führungsposititonen vertreten sein können, braucht es
klare gesetzliche Regelungen sowie Lebesbedingungen, die es ermöglichen, Erwerbsarbeit sowie
Familien- , Geselschaftliche und poltische Arbeit zu vereinbaren. Niemand sollte aus
organisatorischen Gründen auf ein politisches Mandat verzichten muessen.
(244) Unsere Demokratie hat ein erhebliches Repräsentationsdefizit, wenn Millionen
Jugendliche und Kinder ausgeblendet werden. Die Jugend ist politisch. Gleiches gilt für die
vielen Menschen, die nicht wählen dürfen, obwohl sie hier leben und Teil unserer
Gesellschaft sind. Entsprechend wollen wir Wahlhürden schrittweise abbauen, das Wahlalter
deutlich absenken und weitere Beteiligungsmöglichkeiten auf allen Ebenen ausbauen.
(245) Parlamente sind zentrale Orte der politischen Debatte und das Rückgrat unserer
vielfältigen Demokratie. Abgeordnete brauchen Unabhängigkeit und starke Kontrollrechte
gegenüber der Regierung. Parlamentarismus braucht das Ringen um beste Lösungen zwischen
Regierung und Opposition. Gleichzeitig trägt inhaltliche Zusammenarbeit abseits von starren
Fraktionsgrenzen wie im Europaparlament und in anderen europäischen Parlamenten zum Finden
dieser Lösungen bei. Für das Vertrauen in demokratische Verfahren ist es zentral, die
Nachvollziehbarkeit von Regeln, Prozessen und Ergebnissen gewährleisten zu können - zum
Beispiel mit einem legislativen Fußabdruck.
(246) Ziel einer lebendigen Demokratie ist es, möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu
geben, ihre konkrete Lebensrealität und ihre Zukunft aktiv mitzugestalten. Alle öffentlich
tagenden politischen Gremien sollten über das Internet sicherstellen, dass die
Sitzungsunterlagen rechtzeitig, vollständig und barrierefrei zur öffentlichen Einsicht
bereitgestellt werden. Demokratie braucht Parteien. Sie sind ein wichtiger Ort, wo Menschen
ihre politischen Haltungen, Interessen und Ziele organisieren und diese in die öffentliche
und parlamentarische Auseinandersetzung tragen können. Parteien wirken bei der
Meinungsbildung mit, bündeln Interessen und Werthaltungen und treten in einen demokratischen
Wettstreit zur Besetzung von Parlaments- und Staatsämtern.
(247) Parteien brauchen eine auskömmliche Finanzierung. Parteispenden von
Unternehmen können immer auch der Versuch von Einflussnahme und Lobbyismus sein. Spenden an
Parteien sind mit einer jährlichen Obergrenze zu versehen, um die Unabhängigkeit von
ökonomisch mächtigen Interessen zu garantieren. Für maximale Transparenz braucht es deutlich
niedrigere Grenzen für Veröffentlichungen. Zusätzlich zur erhöhten Transparenz bei
Parteispenden braucht es für Parteiensponsoring noch strengere Regeln.
(248) Direkte Beteiligungsmöglichkeiten bereichern die repräsentative Demokratie. Mit
Bürger*innen-Räten soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei ausgewählten Themen die
Alltagsexpertise von Bürger*innen noch direkter in die Gesetzgebung einfließen zu lassen.
Zufällig ausgewählte Bürger*innen beraten in einem festgelegten Zeitraum über eine konkrete
Fragestellung und erarbeiten Handlungsempfehlungen und Impulse für die öffentliche
Auseinandersetzung und die parlamentarische Entscheidung. Es gilt sicherzustellen, dass die
Teilnehmenden sich frei, gleich und fair eine Meinung bilden können und dass ihnen
ausreichend Raum für eine intensive Auseinandersetzung mit der Fragestellung gegeben wird.
Bürger*innen-Räten kommt eine rein beratende Funktion für die öffentliche Debatte und
Gesetzgebung zu. Regierung und Parlament müssen sich mit den Ergebnissen auseinandersetzen,
ihnen aber nicht folgen. Bürger*innen-Räte können auf Initiative der Regierung, des
Parlaments oder als Bürgerbegehren zu einer konkreten Fragestellung eingesetzt werden. Das
soll auch auf Bundesebene möglich sein.
Föderale Europäische Republik
(249) Die Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam meistern. Daher brauchen
wir eine gestärkte politische Europäische Union. Es gilt, die EU im Zuge weiterer
Integrationsschritte gemeinsam mit den europäischen Bürger*innen zu stärken und
perspektivisch zur Föderalen Europäischen Republik mit einer europäischen Verfassung
weiterzuentwickeln.
(250) Die Föderale Europäische Republik schafft einen Rahmen, in dem sich nicht einzelne
mächtige Interessen oder Regierungen durchsetzen, sondern das Allgemeinwohl. In ihr werden
gleiche Rechte für alle Bürgerinnen über die EU-Grundrechtecharta verbindlich garantiert,
und zwar unabhängig davon, in welchem Land der Republik jemand lebt. An die Verwirklichung
dieser Rechte wird das Prinzip der Subsidiarität gebunden, wonach Aufgaben und
Zuständigkeiten auf der jeweils untersten Ebene – Kommune, Land, Bund, EU –, auf der Ziele
und Maßnahmen ausreichend erreicht werden können, behandelt werden. So wird die Souveränität
der Bürgerinnen gestärkt. Mittel aus dem EU-Haushalt sollen auch verstärkt kommunalen und
lokalen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen direkt bereitgestellt werden.
(251) Der zentrale Ort für alle Entscheidungen der Europäischen Union ist das Parlament. Die
Abgeordneten sollen nach europäischen Regeln auch über europäische Listen gewählt werden. Es
ist in einem Zweikammersystem zusammen mit dem Rat ein gleichberechtigter Teil der
gesetzgebenden Gewalt. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen soll auf alle Gebiete
ausgeweitet werden, so dass die EU gemeinschaftlich handlungsfähig ist und einzelne Staaten
eine gemeinsame Politik nicht blockieren können. Der Rat übernimmt durch deutlich mehr
Transparenz seine Verantwortung als zweite Kammer gegenüber allen EU-Bürger*innen. Das
Europäische Parlament wird ermächtigt, selbst Gesetze auf den Weg zu bringen, alle
Politikbereiche der Union und das Budget zu kontrollieren. Die EU-Kommission soll in der
Föderalen Europäischen Republik Teil eines parlamentarischen Regierungssystems sein und von
der Kommissionspräsident*in vorgeschlagen und vom Parlament gewählt werden. Der Haushalt
speist sich auch aus eigenen Mitteln und wird vom Europäischen Parlament beschlossen. Er
verfügt über eigene Steuereinnahmen und ist groß genug, um makroökonomisch zu stabilisieren
und in schweren Krisen Zuschüsse in die nationalen Haushalte zu leisten.
Bundesstaat
(252) Demokratische Politik funktioniert von unten nach oben. Dörfer und Städte, in denen
wir leben, geben Halt in einer komplexen Welt, daher sind Kommunen zu stärken. Die Regionen
brauchen auf Ebene der Europäischen Union mehr Einfluss und Gewicht. Demokratische
Entscheidungen müssen so nah wie möglich an den Bürger*innen getroffen werden und immer
dort, wo sie am besten zu verwirklichen sind – in den Gemeinden und Städten, auf
Landesebene, in den Nationalstaaten oder auf Ebene der EU.
(253) Kooperationen zwischen den Ländern und zwischen den Kommunen sollen gestärkt werden.
Sinnvoll sind sie da, wo sie zu Effizienz- und ökologischen Gewinnen und gleichwertiger
Versorgung führen, etwa bei der nachhaltigen Stadt- und Dorfentwicklung, regionaler
Daseinsvorsorge, Klimaschutz und Bewältigung der Klimafolgen, bei Digitalisierung und
Mobilität.
(254) Städte und Gemeinden sind die Orte, an denen sich unser Zusammenleben abspielt, an
denen Demokratie anschaulich und lebendig wird. Kommunen brauchen daher eine
aufgabengerechte Finanzausstattung für gesetzliche Aufgaben und die sogenannten freiwilligen
Leistungen. „Wer bestellt, bezahlt“ – dieses Konnexitätsprinzip gilt. Wenn Kommunen Aufgaben
übertragen werden, brauchen sie dafür auch zusätzliche Mittel. Außerdem brauchen viele
Kommunen eine Altschuldenhilfe sowie ein Investitionsprogramm Daseinsvorsorge, um vor Ort
Gestaltungsspielräume zu erhalten.
Freiheit und Sicherheit
(255) Erst wenn sich Menschen sicher fühlen, leben sie frei, selbstbestimmt und in Würde.
Sicherheit muss für alle gleich garantiert sein, egal, wo jemand wohnt, was jemand glaubt,
wen jemand liebt, wie jemand aussieht oder woher jemand und die eigenen Vorfahren kommen.
Erst unsere Grundrechte und ihre Durchsetzung können allen Menschen Sicherheit geben. In
einer unfreien Gesellschaft ist niemand sicher. Freiheit und Sicherheit bedingen sich. Damit
das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen mit der objektiven Sicherheitslage
übereinstimmt, braucht es Information, Teilhabe, Schutz vor Armut und unaufgeregte Debatten.
(256) Der Rechtsstaat ist der Garant für die Gewährleistung von Bürger*innen- und
Menschenrechten sowie der vielfältigen Demokratie. Ein funktionierender Rechtsstaat
bedeutet: Alle Menschen sind gleich vor dem Gesetz und haben dieselben Rechte und Pflichten.
Der Rechtsstaat schützt die Rechte der oder des Einzelnen, auch und gerade gegenüber
staatlichen Eingriffen und sonstigem exekutivem Handeln. Damit dieser Rechtsstaat
funktioniert, braucht es eine unabhängige und gut ausgestattete Justiz, die in der Lage ist,
Recht zu sprechen, exekutive, behördliche oder legislative Maßnahmen effektiv zu prüfen und
gegebenenfalls wirksam zu korrigieren. Es braucht eine Anwaltschaft, die als Organ der
Rechtspflege respektiert, deren Vertrauensverhältnis zu ihren Mandanten gewahrt und deren
freie Berufsausübung gewährleistet wird. Vertrauen in den Rechtsstaat setzt wirksame
Rechtsdurchsetzung für alle voraus.
(257 neu) Der Staat ist dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verfassungsrechtlich
verpflichtet. Die Verpflichtung auf eine starke Nachhaltigkeit muss durch die unmittelbare
Bindung des Staates an die international vereinbarten Klimaschutz- und Biodiversitätsziele
und -verträge ergänzt werden. Da Verbrechen gegen die Umwelt nicht vor Ländergrenzen Halt
machen, ist es im globalen Interesse, dass die internationale Staatengemeinschaft eine
Gerichtsbarkeit schafft, die diese Verbrechen unabhängig und grenzüberschreitend verfolgt.
(257) Gleichheit vor dem Recht verlangt auch, dass sich wirtschaftliche und
gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht im Rechtssystem fortsetzen. Der Rechtsstaat
ermöglicht kollektiven Rechtsschutz, schützt Whistleblowing, Verbraucher*innen,
Produzent*innen und kleinere Unternehmen effektiv gegen wirtschaftliche Übermacht.
(258) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte haben mit dem Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland sowie der Europäischen Grundrechtecharta ein starkes Fundament.
Doch auch ein Fundament muss gepflegt und modernisiert werden. Der Schutz der Grundrechte
soll weiter ausgebaut werden, auch im digitalen Raum. Auch im Netz muss das Recht effektiv
durchgesetzt werden. Die Verfassung definiert unser Gemeinwesen als wehrhafte Demokratie.
Demokratie ist unsere Stärke und ihr konsequenter Schutz ist handlungsleitend.
(259) Damit Rechtsstaatlichkeit in den europäischen Demokratien nicht noch weiter unter
Druck gerät, muss der Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta auf nationales Recht
ausgeweitet werden. So erhalten alle EU-Bürger*innen die gleichen einklagbaren Grundrechte.
In Mitgliedstaaten, in denen die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Medien nicht
ausreichend gewährleistet sind, sollen entsprechende Mittel stattdessen gekürzt oder von der
Europäischen Kommission direkt vergeben werden.
(260) Die öffentliche Sicherheit und den Schutz vor Gewalt zu gewährleisten, gehört zu den
wichtigsten Aufgaben des Staates. Jede*r hat das Recht auf ein Leben frei von Gewalt. Das
Gewaltmonopol liegt beim Staat. Dies ernst zu nehmen bedeutet ein Ende des privaten Besitzes
von tödlichen Schusswaffen, mit Ausnahme von Jäger*innen. Illegaler Waffenbesitz muss
geahndet werden.
(261) Rassismus ist in unserer Gesellschaft eine unleugbare Realität und in allen Strukturen
mehr oder minder präsent. Rassismus – und jede andere Form der gruppenbezogenen
Menschenfeindlichkeit – führt dazu, dass viele Menschen in Deutschland nicht sicher sind.
Damit bedroht er auch die Grundwerte der Demokratie. Dieser Menschenverachtung muss überall
entgegengetreten werden, ob in Parlamenten, im Netz, auf der Straße oder im Alltag, auch mit
den Mitteln des Strafrechts. Diskriminierende Strukturen müssen abgebaut werden, auch im
Verhältnis zwischen dem Staat und den Bürger*innen. Es bedarf einer nachhaltigen Bildungs-
und Präventionsarbeit, welche die Ursachen von Menschen- und Demokratiefeindlichkeit
erforscht und beseitigen hilft. Diskriminierung verletzt, und zwar unabhängig davon, ob sie
beabsichtigt ist oder nicht. Antirassismus benötigt die Perspektive und Expertise von
Menschen mit Rassismuserfahrung.
(262) Rechtsextremismus ist die größte Gefahr für die liberale Demokratie und die Sicherheit
in Deutschland. Dem muss mit einer antirassistischen und antifaschistischen Haltung klar
entgegen getreten werden. Rassismus, der von rechtsextremistischen Netzwerken und
Verfassungsfeinden in den und außerhalb der Parlamente geschürt wird, ist der geistige
Nährboden für terroristische Anschläge. Die Bekämpfung rechtsextremistischer Strukturen –
auch innerhalb der Sicherheitsbehörden - muss Priorität für alle Sicherheitsorgane haben.
(263neu) Die Mordserie des rechtsterroristischen NSU ist nicht aufgeklärt, die Verletzungen
der Angehörigen sind nicht verheilt. Es braucht daher eine unabhängige, zentrale Sicherung
und Aufarbeitung aller vorhandenen Unterlagen rassistischer, antisemitischer und
terroristischer Taten – von RAF, über NSU, Oktoberfestattentat und dem Anschlag vom Berliner
Breitscheidplatz. Hierdurch können Kontinuitäten und Netzwerkstrukturen sichtbar gemacht und
der Zusammenhalt in unserer vielfältigen Gesellschaft gestärkt werden.
(263) Islamismus und jede andere Form von religiösem Extremismus stellen sich gegen
Demokratie, Menschenrechte und Freiheit. Der Staat muss in der Lage sein, jede Form von
Terror und Fundamentalismus abzuwehren. Dazu gehören neben sicherheitspolitischen Maßnahmen
auch Prävention und Deradikalisierungsprogramme in aktiver Zusammenarbeit mit Schulen,
Jugendeinrichtungen und Religionsgemeinschaften.
(264)Der Schutz unserer Verfassung und der Grund- und Menschenrechte ist unser aller
Auftrag. Angriffe auf diese Grundwerte sind Angriffe auf unsere Verfassung und unsere
Demokratie. Diese zu schützen ist gemeinsame Aufgabe von Staat und Zivilgesellschaft. Dabei
braucht es klar definierte und abgegrenzte Kompetenzen. Um die Demokratie effektiv schützen
zu können, braucht es einen institutionellen Neuanfang der Verfassungsschutzbehörden:
einerseits nachrichtendienstliche Mittel, soweit sie zur Gefahrenerkennung und
Spionageabwehr unerlässlich sind; hiervon getrennt die Beobachtung von demokratie- und
menschenfeindlichen Bestrebungen mit wissenschaftlichen Methoden und ausschließlich anhand
von öffentlichen Quellen. Es braucht eine starke Kontrolle von Sicherheitsbehörden und
Geheimdiensten durch Parlamente, Gerichte und unabhängige Aufsichtsbehörden.
(265) Sichere öffentliche Räume ermöglichen Freiheit und Begegnung und sind damit Grundlage
für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Polizei schützt die Sicherheit und die
Grundrechte der Menschen. Wie jede öffentliche Institution ist sie dafür auf das Vertrauen
von allen Teilen der Gesellschaft angewiesen. Sie braucht eine diskriminierungssensible Aus-
und Weiterbildung, eine gute Ausstattung und ausreichend Personal – in der Stadt und auf dem
Land - sowie unabhängige Polizeibeauftragte. Als sichtbarer Arm des staatlichen
Gewaltmonopols ist die Polizei in besonderem Maße den Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie verpflichtet. Bei Fehlverhalten müssen Fehler, strafbares Verhalten und
strukturelle Mängel ohne falsche Rücksichten aufgeklärt und geahndet werden. Polizeiliches
Handeln ist kein Ersatz für gesellschaftliche Problemlösungen.
(266) Es braucht eine faktenbasierte Kriminal- und Sicherheitspolitik, die über Polizei und
Justiz hinausgeht, die Wert auf Prävention und Hilfsangebote legt, die soziale Infrastruktur
sowie Stadt- und Raumplanung einbezieht und gegenseitige Rücksichtnahme fördert. Der
notwendige Umbau der Sicherheitsarchitektur gewährleistet bessere Koordination und klare
Verantwortlichkeiten. Staatliche Eingriffsmaßnahmen müssen zielgerichtet und verhältnismäßig
sein. Privacy by design, Transparenz und effektiver Rechtsschutz sichern die Rechte der
Bürger*innen. Anlasslose Massendatenspeicherungen wie auch unzulässige Eingriffe in die
Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen untergraben umfassend Grundrechte und sind
der falsche politische Weg.
(267) Durch den grenzüberschreitenden Ausbau der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz durch
gemeinsame europäische Polizeiteams, ein Europäisches Kriminalamt, die justizielle
Zusammenarbeit durch Eurojust und die europäische Staatsanwaltschaft wird in der
Sicherheitspolitik zunehmend europäisch koordiniert und kooperiert.Auch bei der Bekämpfung
von Korruption kann durch europäische Zusammenarbeit viel erreicht werden. Bei der Reform
der föderalen Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden werden einheitliche Standards
geschaffen, so dass verstärkt gemeinsam ermittelt werden kann. Wegen der zunehmenden
Vernetzung von europäischen Datenbanken sind hohe Datenschutzstandards und eine Verbesserung
des grenzüberschreitenden Rechtsschutzes unabdingbar. Die gemeinsame Zusammenarbeit braucht
eine unabhängige Justiz und faire Gerichtsverfahren in allen EU-Mitgliedsstaaten.
(268) Strafrecht als schärfster Eingriff des Staates in die Freiheitsrechte darf nur
äußerstes Mittel sein, denn es ist nicht das Allheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher
Probleme aller Art. Damit die Justiz gut funktionieren kann, muss sie in der Lage sein, sich
auf das Wesentliche zu konzentrieren. Deswegen ist das Strafrecht zu entrümpeln, indem
Bagatellstraftaten wie Schwarzfahren entkriminalisiert werden.
(NEU) Strafen wirken vor allem dann präventiv, wenn sie zügig vollzogen werden. Die Justiz
ist entsprechend auszustatten. Asylrechtliche Maßnahmen sind keine Alternative zu
strafrechtlicher Verurteilungen und deren Vollzug.
(NEU) Ein humaner Strafvollzug ist Prüfstein für ein demokratisches Gemeinwesen, das
Freiheit und Würde seiner Bürger*innen achtet. Eine gelungene Resozialisierung von Tätern
ist der beste Schutz für potentielle Opfer. Das muss ein Leitbild für weitere Reformen des
Strafvollzugs sein. In ihrer heutigen Form verursachen Gefängnisstrafen oft mehr Probleme
als sie Vorteile haben. Insassen werden der Gesellschaft entfremdet und nicht selten tiefer
in die Kriminalität gedrängt. Daher sollen Vollzug und Sanktionensystem aufgrund
wissenschaftlicher Erkenntnisse weiterentwickelt werden. Nach dem Strafvollzug müssen Länder
und Kommunen die Entlassenen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft umfassend durch
Hilfe bei Wohnen, Arbeit und Gesundheit unterstützen.
(269) Eine wehrhafte Demokratie muss sich auch online schützen. Demokratische
Willensbildungsprozesse dürfen nicht durch intransparente Social-Media-Kampagnen, den
Einsatz von Troll-Armeen und automatisierte Computerprogramme (Bots) sowie weitreichende IT-
Angriffe von Regierungen, Geheimdiensten oder ihnen nahestehenden Gruppierungen manipuliert
werden. Hierfür braucht es Digitalkompetenz in den zuständigen Behörden, gesetzliche
Transparenzverpflichtungen, klare internationale Übereinkünfte und eine rechtsstaatliche
Verfolgung über Ländergrenzen hinweg.
(270) Hass im Netz trifft gerade Frauen und diskriminierte Gruppen besonders stark. Die
effektive und verhältnismäßige Rechtsdurchsetzung muss auch bei Straftaten, die mittels
digitaler Technologie verübt werden, gewährleistet sein, dazu braucht es allen voran mehr
Fachexpertise und -personal. Dies muss einhergehen mit Prävention, dem umfassenden Schutz
und der Beratung Betroffener.
(271) Jede dritte Frau wird einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexualisierter
Gewalt. Auch LSBTIQ* sind oft Hass und Gewalt ausgesetzt. Bildung, Aufklärung, ein
Rechtsanspruch auf Schutz und eine verlässliche Infrastruktur aus Beratungs- und
Schutzeinrichtungen können Gewalt gegen Frauen und Mädchen verhindern. Dazu gehört auch
Prävention und eine Täterarbeit, die überkomme Männlichkeitsbilder kritisch hinterfragt.
Männer, insbesondere Jungen, die von (sexualisierter) Gewalt betroffen sind, brauchen eigene
Hilfs-, Beratungs- und Schutzangebote.
(272) Der Rechtsstaat zeigt sich in einer bürgerorientierten, leistungsstarken und für alle
zugänglichen öffentlichen Verwaltung und der Möglichkeit zu einem effektiven Rechtsweg gegen
ihre Entscheidungen. Für verlässliche, transparente Behörden braucht es regelmäßige Fort-
und Weiterbildungen und eine angemessene finanzielle, personelle und strukturelle
Ausstattung. Ein notwendiger Baustein besteht darin, dass sich die Verwaltung umfassend
qualifiziert, digitalisiert und automatisiert und ressortübergreifend arbeitet. Öffentliche
Verwaltung muss auf Augenhöhe mit finanziell mächtigen Interessen in Konzernen und Banken
agieren.
(273) Staatliche Institutionen müssen für die Vielfalt der Gesellschaft stehen.
Institutionelle Diskriminierung, insbesondere Rassismus, ist trotz formaler rechtlicher
Gleichheit für viele Bürger*innen Realität. Es bleibt eine wichtige Aufgabe, durch Vielfalt
und Repräsentanz sowie mit Sensibilisierungsprogrammen und Monitoring dafür zu sorgen, dass
staatliche Strukturen alle Bürger*innen schützen und gleich behandeln. Dabei bedarf es der
Expertise von und der Unterstützung durch rassismuskritische und postmigrantische
Organisationen.
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