Das erklärte Ziel von S-01, also ein demokratischer Aushandlungsprozess und gut überlegte Abstimmungen durch mehr Übersicht und Transparenz beim Antragsverfahren ist völlig berechtigt und verdient jede Unterstützung. Sorgfältige Arbeit der Antragskommission, faire und konstruktive Verhandlungen und die Befähigung aller BDK-Delegierten, sich auf die Debatten gut vorzubereiten und gut informiert abzustimmen, sind der aussichtsreichste Weg zu den besten jeweils möglichen Beschlüssen. Wir begrüssen den guten Vorsatz des Bundesvorstandes, seine Verfahrensmacht und die der Antragskommission zu begrenzen. Auch wir wollen, dass die Antragskommission alle Anträge sorgfältig prüft und mit den Antragstellenden rechtzeitig ein konstruktives Gespräch sucht. An beidem hat es leider in den letzten Jahren gefehlt und es gab deswegen gravierende Fehlentscheidungen.
Aber das vom Bundesvorstand dazu vorgeschlagene Mittel ist leider völlig ungeeignet und nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich. Wir wollen statt dessen die Satzung durch eine gut geeignete Regelung ergänzen. Denn:
1. Die verlangte Quorums-Vervielfachung wäre völlig ungeeignet. Sie würde zwar die Zahl der Personenanträge wirklich auf einen kleinen Bruchteil reduzieren. Aber dies beträfe nur die eine Hälfte der Anträge und Änderungsanträge, nämlich diejenigen, die Mitglieder gemeinschaftlich einbringen. Die Gremienanträge, also bei Wahlprogramm-BDKen weit über 1000 und bei anderen BDKen oft über 500 würden mindestens ebenso zahlreich wie jetzt gestellt werden. Sie würden an Zahl sogar noch deutlich zunehmen, wenn Gremien-Aktive dann nämlich auf Ausweitung gremieninterner Zahlenbegrenzungen drängen (die zur Zeit besonders BAGen haben). Es bliebe also dabei: „Die Mehrheit der Delegierten ist nicht in der Lage, alle Änderungsanträge im Vorfeld der BDK zu lesen, sich dazu eine Meinung zu bilden...“ - „die schiere Fülle der Anträge“ würde das auch in Zukunft genauso unmöglich machen wie gegenwärtig. Nahezu alle BDK-Delegierten müssten sich genauso helfen wie jetzt, also erst einmal abwarten, welche Dutzende der vielen Hunderte bzw. Tausende Änderungsanträge tatsächlich zum BDK-Debattenthema werden, weil es zu ihnen keine Einigung im Vorfeld gibt. Sie müssten daher auch in Zukunft auf den Verfahrensvorschlag der Antragskommission warten und sobald sie ihn sehen schnell alle Änderungsanträge durchlesen, die dort mit „Abstimmung“ gekennzeichnet werden. Es bliebe dabei, dass den Delegierten für die lesende Vorbereitung der Pro-Contra-Debatten teilweise nur wenige Minuten zur Verfügung ständen. Die wohlinformierte Teilhabe zukünftiger Delegierter an den Entscheidungen wäre um nichts grösser, die Verfahrensmacht von Bundesvorstand und Antragskommission um nichts geringer. Die Quorums-Vervielfachung ist daher offensichtlich untauglich zur Erreichung des angestrebten Ziels.
2. Die verlangte Quorums-Vervielfachung würde ausserdem auch noch ganz erheblichen Schaden anrichten. Die Qualität unserer BDK-Beschlüsse und besonders der Programme würde erheblich sinken. Denn ein grosser Teil des Antragspotentials würde ausgesperrt und abgewürgt.
Die weitaus meisten Mitglieder wären nämlich gar nicht mehr imstande, genügend Unterstützungen für Personenanträge zusammenzubekommen. Die Annahme, mit den Mitgliederzahlen steige proportional auch die Zahl der Unterstützungsbereiten, ist – leider! - vollkommen realitätsfern. Das weiss jede*r, die/der sich schon mal selbst vor BDKen um die gegenwärtig vorgeschriebenen 19 Mit-Antragstellenden bemüht hat, aus eigener Erfahrung.
Allen übrigen sei es am Beispiel der BDK Bielefeld 2019 und von Ingrid Nestles Wasserstoffstrategie-Antrag V-09, erklärt: dessen hervorragende fachliche Qualität und besondere Dringlichkeit kann gar nicht bestritten werden, dieser Antrag wurde gegen grosse Konkurrenz erster beim Gesamtmitglieder-V-Ranking und die BDK Bielefeld hat ihn mit grossem Beifall angenommen. Dennoch und obwohl grüne Energiepolitiker*innen eigentlich in ständigem Austausch stehen, haben bundesweit grade mal 20 Mitglieder in 39 Stunden diesen Antrag unterstützt, siehe https://antraege.gruene.de/44bdk/motion/901- Ingrids zweiter, ebenfalls guter und wichtiger Antrag zur BDK Bielefeld, https://antraege.gruene.de/44bdk/Stromkunden_am_Markt_aktiv_beteiligen-2013 ist leider mit 17 statt der vorgeschriebenen 19 Unterstützenden an dieser Hürde hängengeblieben.
Gegenwärtig nehmen leider relativ wenige Mitglieder an der programmatischen Arbeit für die Bundes- und Europaebene so intensiv Anteil, dass sie auch Antragsvorschläge eines ihnen nicht persönlich bekannten Mitglieds ernsthaft in Erwägung ziehen, sie unvoreingenommen prüfen und bei Gefallen ihren Namen darunter setzen. Um deren Aufmerksamkeit und Zustimmung bewerben sich aber in der „heissen“ Sammelphase eine drei- bis vierstellige Zahl von Antragsvorschlägen aus allen Politikfeldern.
Der Mitgliederzuwachs der letzten Jahre hat diese Situation bis jetzt kaum gebessert. Die Zahl von 20 ist also eine realistische Obergrenze: wesentlich mehr ist für die allermeisten Mitglieder (in den meisten Situationen) nicht erreichbar.
Nun aber verlangt der Bundesvorstand „für eigenständige Anträge 0,1 Prozent der Mitglieder, für Änderungsanträge 0,05 Prozent der Mitglieder“. Das müssten wegen der Aufrundungs-Klausel („gerundet auf den nächsten Zehntausender“) bereits bei der nächsten BDK 130 bzw. 65 Mitglieder sein und würde bei weiterem Mitgliederzuwachs noch weiter nach oben klettern.
Käme diese Satzungsänderung durch, dann würde die gemeinschaftlich-persönliche Antragsstellung weitestgehend zum De-facto-Privileg von drei bis fünf Dutzend der prominentesten Grünen.
Ein Zwang, mindestens 130 bzw. 65 Unterstützende zusammenzusuchen, würde die übrigen Mitglieder durch mühsame und für die meisten vergebliche Anstrengungen davon abschrecken, selbst noch Anträge zu stellen.
Wir würden dann wirklich deutlich weniger Änderungsanträge bekommen, aber keine besseren. Denn Gremienanträge können erfahrungsgemäß – z.T. aus gruppendynamischen Gründen - auch ganz erhebliche Mängel haben, besonders die längeren. Bestes Beispiel sind die Programmentwürfe des Bundesvorstandes. Die Tausende an Änderungsanträgen auf Programmparteitagen werden ja nicht aus Langeweile und Übermut gestellt, sondern deswegen, weil der Bundesvorstand uns schon seit langem immer nur Halbfertigprodukte vorlegt, gewissermassen „Programmrohlinge“, deren sprachliche und gedankliche Defizite dringend nach Korrekturen und Ergänzungen schreien.
Dagegen überzeugen Anträge einzelner Mitglieder oft durch besondere Qualitäten. Dies haben die BDK-Delegierten auch gern anerkannt, den V-Anträgen einzelner Mitglieder dieselben Chancen gegeben wie den V-Anträgen grosser Gremien und sie oft in einen BDK-Beschluss verwandelt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dies in Zukunft verhindern zu wollen.
Das gilt ganz besonders für die gemeinsame Erarbeitung von Programmen. Da haben wir sehr viele Änderungsanträge, aber keineswegs zu viele.
Noch sind wir eine Programmpartei im vollen Sinne. Unsere fertigen Programme sind größtenteils gut durchdacht und meist auch hinreichend trennscharf formuliert. Mit ihnen in der Hand können wir z.B. bei Podiumsdiskussionen alle Konkurrierenden in die Ecke treiben und zwingen, Farbe zu bekennen. So wird unsere programmatische Kraft öffentlich erkennbar, wir werden für neue Mitglieder und neue Wähler*innen anziehend und bleiben es für die bereits vorhandenen. Wir sollen Programmpartei bleiben, denn darin liegt ein Hauptteil unserer Stärke. Es wäre ein ganz gravierender politischer Fehler, wollten wir diese Stärke leichtsinnig aufs Spiel setzen und die meisten Personenanträge an Quorums-Steilwänden zerschellen lassen.
Viel besser ist es, wenn auch in Zukunft alle Mitglieder ihr persönlich-gemeinschaftliches Antragsrecht wirklich wahrnehmen können. Aus dieser Quelle speist sich die Qualität unserer Beschlüsse. Dieses Antragsrecht ist auch ein grossartiges Zeichen dafür, dass wir eine Gemeinschaft mündiger Mitglieder sind. Jedem Mitglied wird damit gesagt: "Bei uns wirst Du wahrgenommen und ernst genommen. Wenn Du mit Namen und Gesicht für Deinen Vorschlag einstehst, dann schenkt die BDK Dir auch Gehör. Du bist Mitgestalter*in des gemeinsamen Willens".
3. An Stelle einer nutzlosen und schädlichen Quorums-Vervielfachung beantragen wir hier eine ebenso wirksame wie gut verträgliche Regelung: nämlich eine Kombination von rechtzeitiger Veröffentlichung tendenziell aller Verfahrensvorschläge einerseits und andererseits einer ausdrücklichen Aufforderung an alle Antragstellenden, ihre Anträge immer so gut zu begründen, dass Delegierte und andere Mitglieder sich im voraus ein genaues Bild vom politischen Gehalt dieser Anträge machen können.
Werden beide Forderungen in die Satzung aufgenommen, dann können sich die Delegierten vor der BDK auf diejenigen Anträge und Änderungsanträge konzentrieren, über die sie hinterher auch tatsächlich eine Entscheidung zu treffen haben. Sie können ihren ersten Eindruck mit ihren Basisgruppen und anderen Grünen diskutieren. In aller Ruhe, mit dem Austausch von Argumenten und Gegenargumenten und bei Bedarf mit kurzen Recherchen. Auch kurzfristige Stellungnahmen der Bundesarbeitsgemeinschaften zu den für sie wichtigen Kontroversen können für die Delegierten zur wertvollen Entscheidungshilfe werden.
Dafür reicht die Zeit von (mindestens) einer Woche zwischen der Veröffentlichung dieser Verfahrensvorschläge und dem Beginn der BDK aus. Die Delegierten sind daher viel besser vorbereitet auf alles, was dann auf der BDK selbst zugunsten der kontroversen Anträge und Änderungsanträge gesagt wird und auch auf mögliche Einwände. Sie können den Debatten viel leichter folgen und sich am Ende viel fundierter zu den Streitfragen entscheiden.
Sobald Delegierte bei kontroversen Entscheidungen ordentliche Antragsbegründungen angemessen honorieren, werden sich die meisten Antragstellenden um seriös argumentierende und Behauptungen belegende Antragsbegründungen bemühen. Bei ihrer Arbeit an den Antragsbegründungen werden Antragstellende auch ihre Antragstexte selbst überprüfen und ggf. verbessern.
Solche aussagekräftigen und mit schnell nachprüfbaren Belegen versehenen Begründungen werden dann auch die prüfende Arbeit der Antragskommission wesentlich erleichtern und ihr oft auch beim Formulieren von Antragsmodifizierungen helfen.
Wir haben inzwischen deutlich mehr Mandate besonders auf Europa- und Bundesebene hinzugewonnen. Das macht es uns möglich, die Antragskommission stärker zu besetzen (wie z.B. in S-09 angedacht), ihre Mitglieder vier bis sechs Wochen lang von anderen Arbeiten weitgehend zu entlasten und ihnen mehr Mitarbeitende zu geben. Gute Verhandlungen zu tendenziell allen eingebrachten Anträgen werden damit ohne weiteres möglich und fast alle Verhandlungsergebnisse können zwei Wochen, spätestens eine vor Beginn der Bundesversammlung vorliegen und online gestellt werden. - Sollte diese Frist sich aber wider Erwarten doch als zu knapp erweisen, so läge ein Gegenmittel bereit: wir könnten dann die Frist zur Antragsstellung entsprechend vorziehen, wie es 2020 im Antrag https://antraege.gruene.de/45bdk/Fristen-39129 angedacht wurde.
4. Daher fordern wir den Bundesvorstand auf, entweder diesen Änderungsantrag zu übernehmen oder seinen sonst nutzlosen und schädlichen Antrag zurückzuziehen.
Die Delegierten bitten wir, andere Änderungsanträge zu S-01 kritisch zu sichten und alles zurückzuweisen, was das Quorum wesentlich über 20 hinaus steigern würde. Denn das wäre sehr viel schlechter als der gegenwärtige Satzungsstand.
Kommentare
Axel Horn:
Delphine Scheel:
mir stößt das "Repräsentative" bei uns Grünen öfter unangenehm auf, weil es nicht unbedingt das Meinungsbild unserer Mitglieder*innen abbildet. Also gerade auch das "Kleine" im Großen führt zu Zirkeln von durchsetzungswilligen Personen, die ihr eigenes Süppchen kochen, anstatt sich dem Kollektiven wirklich meinungsmäßig verpflichtet zu fühlen bzw. in Kommunikation zu gehen. Kommunikation ist anstrengend u. zeitaufwendig.Leider ist das Parteidasein meistens stressig u. "unterbezahlt" für Idealisten im Sinne von Lob u. Respekt, für bezahlte u. unbezahlte Grün-Aktive oft eine vermeintliche Überforderung. Deshalb bin ich grundsätzlich für eine Weiter- bzw. Neukonzeptionierung des gerne benutzten Begriffes "Basis-Demokratie". Dafür haben wir die BAG Demokratie, in der es sich lohnt aktiv zu werden. Trotzdem habe ich diesen Antrag unterschrieben, weil es mit dem Adressen-Netzwerk von Grünen Amtsträger*innen wesentlich schneller möglich wäre, viele Stimmen für ihre Anträge einzuwerben. Das würde einen massiven Machtzuwachs für Grüne Apparatchiks ermöglichen. Das finde ich fragwürdig u. nicht basisdemokratisch orientiert. Pour le mieux...
Ulrike Siemens:
Jürgen Hess:
Aber das vom Bundesvorstand dazu vorgeschlagene Mittel ist leider völlig ungeeignet und nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich. Wir wollen statt dessen die Satzung durch eine gut geeignete Regelung ergänzen.
Dem stimme ich als Altgrüner ganz entschieden zu
Martina Lilla-Oblong: