| Veranstaltung: | 51. Bundesdelegiertenkonferenz Hannover |
|---|---|
| Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
| Antragsteller*in: | Leon Bossen (KV Flensburg) und 54 weitere Antragsteller*innen (Frauenanteil: 55%) |
| Status: | Eingereicht |
| Angelegt: | 15.10.2025, 21:55 |
V-40: Demokratie lebt von Vielfalt: Schutz und Förderung unserer nationalen Minderheiten und Volksgruppen
Antragstext
Unsere nationalen Minderheiten und Volksgruppen sind ein lebendiger Teil unserer
Geschichte und unserer Gegenwart. Sie verkörpern die Vielfalt, die unser Land
prägt: kulturell, sprachlich und gesellschaftlich. Dän*innen, Fries*innen,
Sorb*innen sowie die deutschen Sinti und Roma gehören selbstverständlich zu
Deutschland. Ihr Beitrag zu Kultur, Demokratie und gesellschaftlichem
Zusammenhalt ist unverzichtbar – ihre Rechte und ihr Schutz sind Verpflichtung
und Verantwortung des demokratischen Rechtsstaates.
Doch in Zeiten zunehmender Polarisierung, eines wachsenden Populismus und
aggressiven Nationalismus geraten Minderheitenrechte unter Druck. Der Umgang mit
Minderheiten ist ein Gradmesser für die Reife einer Demokratie. Für uns ist
klar: Minderheitenpolitik ist Friedenspolitik. Demokratie beweist sich daran,
wie sie mit ihren Minderheiten umgeht – nicht nur in Worten, sondern im Recht,
in Institutionen und im gesellschaftlichen Alltag.
Als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bekennen wir uns ausdrücklich zu den nationalen
Minderheiten und Volksgruppen in Deutschland. Wir unterstützen entschieden die
Initiative der Länder Schleswig-Holstein, Brandenburg und Sachsen, den Schutz
dieser Minderheiten explizit im Grundgesetz zu verankern. Der Bundesrat hat
diesem Vorschlag bereits zugestimmt – nun ist es an Bundestag und
Bundesregierung, diese notwendige Verfassungsänderung umzusetzen. Damit wird
unmissverständlich klar: Minderheitenrechte sind Grundrechte. Ihre Sicherung
darf nicht von Mehrheitsentscheidungen oder tagespolitischen Strömungen
abhängen. Als Bündnisgrüne unterstützen wir die Verankerung der nationalen
Minderheiten im Grundgesetz ausdrücklich.
Auch im einfachen Recht besteht Handlungsbedarf. § 184 des
Gerichtsverfassungsgesetzes legt fest, dass die Gerichtssprache deutsch ist –
eine Ausnahme gilt bisher nur für das Ober- und Niedersorbische in den
jeweiligen Siedlungsgebieten des sorbischen Volkes und in bestimmten Fällen auch
die englische Sprache. Wir fordern, dass künftig alle nach der Europäischen
Charta der Minderheiten- oder Regionalsprachen in Deutschlandanerkannten
Minderheitensprachen – also auch Dänisch, Friesisch und Romanes – als zulässige
Sprachen in Gerichtsverfahren anerkannt werden. Sprache ist Ausdruck von
Identität und Teilhabe. Wer seine Muttersprache spricht, darf dadurch keine
Nachteile im Rechtsstaat erfahren.
Auf europäischer Ebene unterstützen wir die Minority SafePack Initiative (MSPI)
nachdrücklich. Auch wenn die Europäische Kommission deren Umsetzung verweigert
hat und der Europäische Gerichtshof diese Entscheidung 2025 bestätigte, bleibt
ihr politischer Kern hochaktuell: Europa braucht verbindliche Regelungen, um
kulturelle und sprachliche Vielfalt sowie europaweit die Rechte von Angehörigen
nationaler Minderheiten zu sichern. Wir werden uns im Europäischen Parlament und
in der Bundesregierung weiter für die Umsetzung der SafePack-Forderungen
einsetzen – von der Förderung kleiner Sprachgemeinschaften über
Minderheitenmedien bis hin zu EU-Fonds für sprachliche Vielfalt.
Minderheitenschutz darf sich nicht auf Bekenntnisse beschränken. Er braucht
Strukturen, verlässliche Mittel und Bildung. Wir fordern ein langfristiges
Bundesförderprogramm für nationale Minderheiten, das Kultur, Sprache, Bildung
und Medien dauerhaft stärkt. Die bisherige Projektförderung ist wertvoll, reicht
aber nicht aus, um Schulen, Sprachinitiativen oder Medien dauerhaft zu sichern.
Schleswig-Holstein zeigt, wie es geht: planbare Förderlinien, institutionelle
Stabilität, Verankerung in der Landesverfassung. Dieses Modell muss bundesweit
Schule machen. Keine Zitterpartien mehr bei der nächsten Haushaltsverhandlung,
sondern konkrete und konsequente finanzielle Förderung.
Gleichzeitig braucht es eine konsequente Verankerung von Minderheitenthemen in
der Bildung. Wissen über Dän*innen, Friesen, Sorb*innen, Sinti und Roma gehört
in Lehrpläne und Schulbücher – ebenso in politische Bildung und
Lehrer*innenausbildung. Nur wer die Vielfalt kennt, kann sie schützen. Wir
setzen uns sowohl auf Bundes- als auch auf den Länderebenen für eine Umsetzung
der KMK-Empfehlung zur Wissensvermittlung über die nationalen Minderheiten aus
Dezember 2024 und die KMK-Empfehlung zum Umgang mit Antiziganismus aus 2025 ein.
Ein besonderes Augenmerk muss auf der Bekämpfung von Antiziganismus liegen.
Antiziganismus ist eine der ältesten und tiefsten Formen des Rassismus in
Europa. Noch immer sind viele Sinti und Roma Diskriminierung, Ausgrenzung und
struktureller Benachteiligung ausgesetzt. Die Bundesregierung hat mit dem
Nationalen Aktionsplan gegen Antiziganismus 2022–2030 wichtige Grundlagen
geschaffen – nun gilt es, diese konsequent umzusetzen: mit verlässlicher
Förderung der Selbstorganisationen, kommunalen Teilhabeprogrammen, Bildungs- und
Sensibilisierungsoffensiven, verbindlicher Antiziganismus-Fortbildung für
Behörden und wirksamer Strafverfolgung antiziganistischer Taten. Die Melde- und
Informationsstelle Antiziganismus MIA muss verlässlich weiter gefördert werden,
damit ein Monitoring antiziganistischer Vorfälle überhaupt geschieht.
Auch Sorbenfeindlichkeit ist aufgrund des immer stärker werdenden
Rechtsextremismus Realität: von Anfeindungen gegen sorbische Jugendliche und
Jugendclubs über das Unverständnis über zweisprachige Beschilderung bis zur
strukturellen Unsichtbarkeit sorbischer Sprache und Kultur. Der Schutz und die
Förderung der Sorben – besonders des gefährdeten Niedersorbischen – müssen in
Brandenburg und Sachsen gestärkt werden. Dazu gehören mehrsprachige
Verwaltungsangebote, die Fortführung gezielter Sprachförderprogramme, die
Ausbildung sorbischsprachiger Lehrkräfte und eine aktive Kulturpolitik, die
Sichtbarkeit schafft.
Deutschland ist durch das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten
und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen verpflichtet,
Minderheitenrechte zu wahren und zu fördern. Diese Verpflichtungen müssen auch
innenpolitisch mit Leben gefüllt werden: mit verbindlichen Zielen, klaren
Zuständigkeiten und regelmäßiger Berichterstattung. Minderheitenpolitik ist
Querschnittsaufgabe – sie betrifft Bildung, Kultur, Innenpolitik, Europa- und
Sozialpolitik gleichermaßen.
Auch innerhalb unserer Partei wollen wir Minderheitenpolitik strukturell
stärken. Wir fordern den Bundesvorstand auf, ein offenes Bundesgremium für
Minderheitenpolitik einzurichten – beispielsweise in Form einer
Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) oder einer entsprechenden Arbeitsstruktur –, in
der engagierte Basismitglieder, Abgeordnete sowie Vertreter*innen der
anerkannten Minderheitenorganisationen und Initiativen zusammenkommen können.
Dieses Gremium soll ein Ort des Austauschs, der Vernetzung und der gemeinsamen
politischen Positionsentwicklung sein. Es kann den Bundesvorstand, die
Fraktionen und Landesverbände fachlich beraten, programmatische Impulse geben
und dazu beitragen, dass bündnisgrüne Minderheitenpolitik auf allen Ebenen – von
der Kommune über die Länder bis zur Bundes- und Europapolitik – sichtbar,
verlässlich und wirksam verankert ist.
Unsere nationalen Minderheiten und Volksgruppen sind Brückenbauer*innen
undFriedensstifter*innen in einer vielfältigen Gesellschaft. Sie zeigen, dass
Zugehörigkeit kein Gegensatz zu Unterschiedlichkeit ist. Ihnen Respekt, Schutz
und gleiche Chancen zu geben, ist keine Frage der Großzügigkeit – es ist eine
Frage von Gerechtigkeit, Demokratie und europäischem Geist.
Begründung
Co-Autorin ist Carolin Renner (KV Görlitz).
