Veranstaltung: | 51. Bundesdelegiertenkonferenz Hannover |
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Tagesordnungspunkt: | V Verschiedenes |
Antragsteller*in: | KV Berlin Friedrichshain-Kreuzberg (dort beschlossen am: 30.08.2022) |
Status: | Eingereicht |
Angelegt: | 16.10.2025, 17:21 |
V-36: Wahlrecht reformieren, Demokratie stärken!
Antragstext
Begründung
In Deutschland leben derzeit etwa 10 Millionen Menschen (ca. 14% der Gesamtbevölkerung), die nicht wählen dürfen. Sie sind von Gesetzen und Regierungshandeln betroffen, dürfen aber über deren Zustandekommen und Zusammensetzung nicht mitentscheiden. Weder auf Bundes- noch auf Landes- oder kommunaler Ebene. Wir erachten dies als erhebliches Demokratiedefizit, das dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schadet und fordern daher ein Wahlrecht, das unabhängig von der Staatsbürgerschaft für Menschen gilt, die seit mindestens fünf Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
Das Wahlrecht ist in Art. 38 GG und Art. 20 GG geregelt. Art. 20 GG besagt, dass „das Volk“ die ihm zukommende Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Über Art. 28, Abs. 1 Satz 1 und 2 GG ist das Wahlrecht für Länder und Kommunen verankert. Auch hier ist es „das Volk“, das seine Staatsgewalt ausübt. “Das Volk“ ist laut Bundesverfassungsgericht, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Dies wurde zuletzt 1990 so entschieden, nachdem eine Gemeinde in Schleswig-Holstein das Wahlrecht auch für nicht-deutsche Bürger*innen ermöglichen wollte. (Vgl.: BVerfGE 83, 37 (51) https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv083037.html). Laut Bundesverfassungsgerichtsurteil von damals wäre eine Öffnung des Wahlrechts für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft selbst auf kommunaler Ebene nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Länderparlamente können demnach auch das Landes- und das Kommunalwahlrecht nicht abweichend regeln.
Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit wird ihre Zugehörigkeit zum Volk somit kategorisch abgesprochen und ihre Möglichkeit zur politischen Teilhabe und Mitsprache bei der (politischen) Gestaltung ihres Lebensraumes verwehrt.
Wir fordern eine Überarbeitung des Wahlrechts, damit es einer modernen, inklusiven und demokratischen Einwanderungsgesellschaft entspricht und nicht mehr an die Staatsbürgerschaft gekoppelt ist. Zur Orientierung dienen beispielsweise Länder wie Kolumbien und Chile, wo Einwohner*innen nach fünf Jahren wählen dürfen. In Neuseeland erhalten Menschen bereits nach 2 Jahren im Land das Wahlrecht. In 16 von 27 EU-Staaten ist das kommunale Wahlrecht für Menschen aus Drittstaaten, also Nicht-EU-Staaten, gängige Praxis, so z.B. in Dänemark, Finnland, Portugal, Spanien und Schweden. In Schottland und Wales dürfen alle legal dort lebenden Menschen an parlamentarischen Wahlen teilnehmen. In Deutschland dürfen bislang nur hier gemeldete EU-Bürger*innen bei Kommunalwahlen wählen.
Wir sind eine Partei, die für Inklusion, Antirassismus, Fortschritt und Demokratie steht. Der Ausschluss von 10 Millionen Menschen von Wahlen auf allen Ebenen und die daraus resultierende Erschwerung politischer Teilhabe und Mitsprache ist für uns inakzeptabel und widerspricht unseren Werten. Wer in Deutschland seinen Lebensmittelpunkt hat, von Gesetzen und Regierungshandeln betroffen ist, muss auch über deren Zustandekommen und Zusammensetzung gleichberechtigt mitentscheiden können – alles andere ist undemokratisch. Mit einem Wahlrecht für alle Menschen, die seit mindestens fünf Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, soll diesem viel zu lange bestehenden Demokratiedefizit ein Ende gesetzt werden.
Gleichzeitig sehen wir in der Anpassung des Wahlrechts eine große Chance dafür, dass unsere demokratische Gesellschaftsordnung die Vielfalt der Erfahrungen, Lebenswelten und Perspektiven ihrer Menschen künftig besser als heute abbildet und von diesen lernt.
Die Vereinfachungen der Ampelkoalition zur Erreichung der Staatsbürgerschaft begrüßen wir, dennoch muss das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft gelöst sein: Denn erstens gibt es legitime Gründe, die deutsche Staatsbürgerschaft nicht anzustreben und zweitens bestehen für viele Menschen rechtliche oder faktische Gründe, wonach ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft versagt wird, obwohl sie jahrzehntelang oder gar ihr Leben lang in Deutschland leben. Außerdem ist der Erhalt der Staatsbürgerschaft an eine „gelungene Integration“ gekoppelt. Den Gedanken, Menschen müssten sich ihr Wahlrecht “verdienen”, lehnen wir als mit dem Wesenskern der Demokratie unvereinbar ab. Wählen ist ein nicht verhandelbares Grundrecht.
Wir leben in einer modernen Einwanderungsgesellschaft und müssen unser Wahlrecht diesen Anforderungen anpassen.